Welches Geschlecht hat die Avantgarde?

Rezension von Gertrud Lehnert

Ralph J. Poole:

Performing Bodies.

Überschreitungen der Geschlechtergrenzen im Theater der Avantgarde.

Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 1996.

310 Seiten, ISBN 3–631–489064, DM 89,00

Abstract: Das Buch betrachtet das Theater der französischen und amerikanischen „Avantgarde“ der Moderne und Postmoderne unter dem Aspekt des Geschlechts: Welcher Verfahren bedient sich avantgardistische Kunst, ist avantgardistische Kunst in geschlechtlicher Hinsicht restriktiv, oder ermöglicht sie die subversive feministische oder auch lesbisch-schwule Ausformung spezifischer Formen?

Der Einstieg mit einer Analyse des performativen Textbegriffs von Kathy Acker setzt den Rahmen für eine Untersuchung des Theaters der Avantgarde – der historischen (französischen) Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts wie der postmodernen (amerikanischen) Avantgarde des späten 20. Jahrhunderts. Grundsätzliche Fragen des Verhältnisses der Avantgarde zur Sprache und zum Körper als Material der Kunst, nicht als Kommunikationsmedium, werden hier ebenso erörtert wie die Problematik von Repräsentation, Autorschaft, Geschlecht und Identität.

Die erarbeiteten Thesen und Ergebnisse erweisen sich, ohne daß ein Kausalzusammenhang bestünde, bei jeder Einzelanalyse in den späteren Kapiteln des Buches erneut als zutreffend: Sprache dient im Theater der Avantgarde nicht der Vermittlung von Inhalten, sondern sie wird autonom; avantgardistische Kunst zielt auf Schock und macht ihren eigenen Entstehungsprozeß transparent; sie ermöglicht tendenziell die Unterminierung der (väterlichen) Autorität (des Autors) und versucht, den Körper als Material stärker ins Spiel zu bringen. Die der Avantgarde immer drohende Gefahr der Institutionalisierung und damit Entschärfung des rebellischen Potentials wird kritisch diskutiert.

Die Behauptung, die Performance-Kunst – und damit die Avantgarde – könne als spezifisch weibliche konnotierte Ausdrucksform angesehen werden, leuchtet ein, wird aber im Verlauf des Buches nicht wirklich erhärtet, nicht zuletzt deshalb, da es in den einzelnen Kapiteln sehr viel mehr um Texte als um Performances geht.

Überhaupt passen Prolog und Epilog („Trans(Vested)-Avantgarde: Stöckel, Straps und Damenbart“) dieser sehr materialreichen und dichten Dissertation besser zusammen, als sie jeweils mit dem Mittelteil der Arbeit zusammenpassen. Dieser bietet vier große Kapitel: eine Diskussion der Begrifflichkeit und ihrer Problematik; eine Revision des surrealistischen und dadaistischen französischen Theaters (Jarry, Apollinaire, Breton, Tzara, Artaud), eine Analyse des Theater-Oeuvres von Gertrude Stein und eine Erörterung postmoderner amerikanischer Theater-Avantgarde (Richard Foreman, Robert Wilson).

Der allgemeine Teil kommt zu dem Ergebnis, daß Avantgarde als Parodie zu verstehen sei. So kann der Begriff Avantgarde nicht nur als zeitlich begrenztes Phänomen verstanden werden, sondern er bezieht sich dann auch auf Erscheinungen der sogenannten Postmoderne. Deutlich wird, daß die Avantgarde als Parodie der Moderne auf diese angewiesen bleibt und, indem sie eine neue Version des Vorgängigen liefert, bei aller Dekonstruktion immer auch rekonstruktiv ist.

Fragestellungen und Argumentationsstrukturen der Gender und Queer Studies der 90er Jahre, insbesondere in der Tradition Judith Butlers, sind hier wie im ganzen Buch unverkennbar fruchtbar gemacht, ohne daß die einzelnen Kapitel immer explizit die Frage nach dem Überschreiten der Geschlechtergrenzen fokussierten – aber die These von der Performativität und der Diskursivität von Geschlecht spielt, wenn auch manchmal untergründig, immer mit.

Das Kapitel über das französische avantgardistische Theater bestätigt die bekannte Tatsache, daß die Avantgarde grundsätzlich patriarchal ist und Frauen ausschließt bzw. nur als Objekte der Darstellung und der männlichen Selbsterfahrung thematisiert. Das ausführliche Kapitel über Gertrude Stein erweist die politischen und ästhetischen Implikationen avantgardistischen Schreibens, d. h. die Möglichkeit des Aufbrechens tradierter Autorpositionen (die implizite immer männliche sind) und der herkömmlichen Vorstellung von Textualität. Das folgende Kapitel ist, ohne den Textaspekt aus dem Auge zu verlieren, stärker auf tatsächliche Aufführungspraxen bei Foreman und Wilson konzentriert.

Der Epilog schließt eine kursorische Diskussion der zeitgenössischen Theoriebildung über Transvestismus und Maskerade und der transvestitischen Praxis in den 1990er Jahren an. Damit ergibt sich – angesichts der betonten Ahistorizität der Avantgardebewegungen fast paradoxerweise – aus verschiedenen Mosaiksteinen, disparaten Ansätzen und in Sprüngen, das Bild einer Geschichte der Avantgardebewegungen seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Überschreitung der Geschlechtergrenzen erscheint als ihnen inhärentes wesentliches Potential, auch wenn es nicht immer realisiert wird.

URN urn:nbn:de:0114-qn011121

PD Dr. Gertrud Lehnert

Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen, Freie Universität Berlin

E-Mail: glehnert@zedat.fu-berlin.de

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