Eine Archäologie spiritueller Gotteserfahrung im christlichen Mittelalter

Rezension von Wolfram Bergande

Stefanie Rinke:

Das „Genießen Gottes“.

Medialität und Geschlechtercodierungen bei Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen.

Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag 2006.

253 Seiten, ISBN 978–3–7930–9452–4, € 38,00

Abstract: Die Autorin vergleicht die christliche Praktik des so genannten „Genießens Gottes“ bei Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen mit dem Ziel einer Archäologie des Genießens in der Mystik des 12. bis 14. Jahrhunderts. Ihr lesenswerter Vergleich zwischen den beiden Klerikern ist kulturgeschichtlich fundiert, medienwissenschaftlich kenntnisreich und anschlussfähig für Philosophen, Historiker, Religionssoziologen und Theologen.

Der Begriff des Genießens ist in jüngeren kulturwissenschaftlichen Diskussionen vor allem durch Jacques Lacan prominent geworden, der unter frz. jouissance die sexuelle oder sublimiert-libidinöse Lust versteht, die sich laut Freud an die Körperorgane und ihre Funktionen anlehnt. Zur Veranschaulichung seiner These von einem genuin weiblichen Genießen, das seinen Ort jenseits des männlichen, sogenannten phallischen Genießens hat, hatte Lacan im Seminar XX Encore eine Skulptur des Barockkünstlers Gian Lorenzo Bernini aus der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom herangezogen, in der die christliche Heilige Teresa de Ávila in einem Moment mystischer Verzückung, einer Hingabe an den Gott, wie sie sie selbst schriftlich festgehalten hatte, gezeigt wird. In ihrer Untersuchung über die religiös-spirituelle Praktik des „Genießens Gottes“ stellt die Autorin Stefanie Rinke mit Bernhard von Clairvaux (1090–1153) und Hildegard von Bingen (1098–1179) zwei Protagonisten der Herausbildung der christlichen Mystik zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert in den Mittelpunkt, wählt aber keinen psychoanalytischen, sondern einen dezidiert kultur- bzw. medienwissenschaftlichen und gendertheoretischen Zugang zu diesem Thema. Unter der „Erotik“ des Genießens Gottes will sie entsprechend, im Anschluss an Caroline Bynum, „keine Sexualisierung“, sondern eine „allgemeine erotische Stimulation“ verstehen (S. 23). Sie verwirft an späteren Stellen sogar psychoanalytische Deutungen, die etwa im Falle Hildegards Hysterie diagnostizieren oder ihre musikalische Praxis als erotischen Selbstzweck entlarven wollen.

Den theoretischen Rahmen ihrer durchweg lesenswerten, kenntnisreichen und sehr schlüssig präsentierten Arbeit, die 2004 als Doktorarbeit im Fach Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin verteidigt wurde, steckt die Autorin durch mehrere Verweise ab: auf Christina von Braun, die die Arbeit maßgeblich betreute, auf Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme und auf Michel Foucaults Archäologie des Wissens. Ihr an Foucault orientiertes Unternehmen einer „Archäologie des Genießens in der mittelalterlichen Mystik“ (S. 11) geht dabei ausdrücklich von einem „starken“ (S. 15) Begriff von Medialität aus, wonach das Medium den Inhalt bestimmt oder wenigstens mitbestimmt, so dass die Frage nach der Bedeutung des Genießens Gottes nur mit Blick auf die medialen Formen dieses Genießens beantwortet werden kann.

Tatsächlich ist es ein Verdienst des Buches, dass es dem von der Autorin zitierten, im Übrigen aber unverständlichen Diktum Marshall McLuhans, das Medium selbst sei die Botschaft, einen stichhaltigen Sinn geben kann: In der mystischen Vereinigung mit der Gottheit hebt sich die Unterscheidung von Medium und Botschaft genauso auf wie die Trennung der Kommunizierenden. Es kommt zu einem „gegenseitigen Genießen“ (S. 225) von Gläubigem und Gott. Rinke: „Gott konnte nur dadurch genossen werden, indem sich die Gläubigen selbst wie die Engel auf die Zeichenebene seines Abbilds begaben, wenn sie zum Zeichen seines Wortes wurden. Und dies forderte Hildegard […], weil Gott erst durch die Vermittlung dieser Zeichenhaftigkeit selbst genießen konnte“ (S. 218). Die medial vermittelte Gotteserfahrung erübrigt, als absolute Kommunikation, einen besonderen Inhalt, denn die Kommunizierenden werden selbst zu den Zeichen ihrer eigenen – die Augen der Erkenntnis schließenden – Kommunikation.

Wenn die Autorin anhand der Quellentexte und der Sekundärliteratur zu Bernhard und Hildegard die historischen Diskurse und deren mediale Vermittlungsformen analysiert und davon auf die zeitgenössischen religiösen Anschauungen und Praktiken schließt, stellt sie sich konsequent in den Umkreis der Positionen der beiden, folgt allen Pfaden und Nebenpfaden der damaligen, vom Glauben bestimmten Welt, ihren zahlreichen Gleichnissen, Metaphern, Allegorien und ihrer vielgestaltigen, mythisierenden Symbolik; sie hält sich daran, deren Texte, bildliche Darstellungen (Miniaturen) und Kontexte hermeneutisch auszuleuchten und strikt aus sich selbst und ihrer Zeit heraus zu verstehen; theoriebedingte Vorgriffe oder spezielle Deutungsmuster kommen praktisch nicht und offenbar bewusst nicht zum Einsatz. Sie werden nur an manchen Stellen indirekt deutlich, etwa, wenn die jeweiligen geschlechtlichen Symbolisierungen des spirituellen Genießens im 13. Jahrhundert auch auf die unterschiedlichen sozialen Ausgangslagen von Männern und Frauen zurückbezogen werden (vgl. S. 236) oder wenn die Autorin die Umwertung aller Werte, die Nietzsche polemisch am Christentum kritisierte – weil sie das schwache, lebensfeindliche Ressentiment gegen das Starke und Lebensbejahende aufgerichtet habe –, durchaus affirmativ als „Herzstück […] christlicher Tradition“ (S. 147) verstehen will. Diese Umwertung habe es zum Beispiel Hildegard erlaubt, eine mythische Genealogie von Eva über Maria zur Ekklesia als weiblicher Allegorie der Kirchengemeinschaft zu konstruieren (vgl. S. 148), in der Körperlichkeit und Weiblichkeit um-, nämlich aufgewertet würden.

Wie in zahlreichen Texten Foucaults tritt so in Rinkes Buch die Ebene der theoriebasierten Interpretation zugunsten einer offenbar bloß beschreibenden, untersuchenden, paraphrasierenden und objektiv rekonstruierenden Herangehensweise zurück. Das ist an sich legitim und macht das Buch über seine eigenen Disziplinen hinaus zu einer lohnenden Lektüre für Historiker/-innen, Religionssoziolog/-innen und nicht zuletzt Theolog/-innen (und eventuell auch für am Mittelalter interessierte Altphilolog/-innen; anders als spätere Mystiker und Mystikerinnen schrieben Bernhard und Hildegard in Latein, die Originaltexte sind immer mit angegeben. Allerdings erschwert die stellenweise Übernahme der originalen Schreibweise, zum Beispiel „suauem“ anstatt „suavem“ [lat. süß], das Lesen). Der Nachteil ist, dass sich hier Kulturwissenschaft, anstatt hauptsächlich Kulturtheorie zu sein, so stark auf Kultur- und Religionsgeschichte einlässt, dass nicht in allen Punkten ganz klar ist, ob die Autorin die von ihr referierten Argumentationen und Positionen nicht auch einfach teilt. Daher entsteht bei einer agnostischen, (geistes-)wissenschaftlichen Lektüre schnell das Bedürfnis nach einer ausdrücklichen Bemerkung dazu, dass der Gott und das göttliche Pneuma, um die es geht, nirgendwo anders als im gemeinschaftlichen Bewusstsein der Gläubigen existiert haben.

Eine weibliche Spiritualität außerhalb der offiziellen kirchlichen Überlieferung

Warum Bernhard und Hildegard? Bernhard von Clairvaux, Gründer des Zisterzienser-Ordens, hat durch seine Liebesmystik, die sich auf seine Interpretationen des alttestamentarischen Hohelieds stützt, anerkannter Weise erheblichen Einfluss auf die Frauenmystik des Mittelalters und des Barock ausgeübt. Hildegard dagegen wird solch ein Einfluss in der Literatur abgesprochen, etwa in Kurt Ruhs Geschichte der abendländischen Mystik (4 Bde. München 1990–99), und zwar, weil sie nicht wirklich entrückt (lat. raptus) gewesen sei, sich selbst nicht in die Frauenmystik-Tradition eingeordnet habe und kein Traditionszusammenhang zwischen ihr und späteren Mystikerinnen feststellbar sei. Rinke widerspricht dieser Ausgliederung Hildegards aus der mystischen Tradition und wirft Ruh einen „sprach- und textorientiert[en]“ Ansatz vor, der übersehe, „dass Hildegard für eine weibliche Spiritualität eintrat, in der das aktive und kontemplative Leben miteinander vereint werden sollte“ (S. 32), ihre Wirkung also wie im Fall der frühen Beginenmystik, zum Beispiel bei Hadewijch, auf der Ebene lebensweltlicher Praktiken und tradierten Selbstverständnisses zu suchen sei.

Als Zeitgenossen, die miteinander korrespondierten und sich gegenseitig theologisch inspirierten und beeinflussten, waren Bernhard und Hildegard zudem aktiver Teil der Entwicklung zu einer starken Marienfrömmigkeit – laut Rinke ein wichtiger Punkt, der den Vergleich zwischen ihnen nahe legt. Maria nimmt danach als Vermittlerin zu Gottvater eine Rolle ein, die der von Jesus analog ist und aufgrund derer eine christliche Vorstellungswelt entsteht, in der sowohl Maria, durch die Gottes Wort Fleisch geworden ist, als auch Jesus, der Mensch gewordene logos selbst, unterschiedliche mediale und geschlechtlich konnotierte Identifizierungspositionen markieren, zwischen denen Ordensleute wie Laien „oszillieren“ (S. 230 ff.) können.

Die Frage, „ob sich Mönche und Nonnen auf gleiche Art und Weise mit Gott symbolisch vereinten, ob sie also gleiche Vermittlungspraktiken des Genießens Gottes nutzten, oder ob sich nicht vielmehr, was den spirituellen Weg des mystischen Zugangs und Prozesses anbelangt, Unterschiede zwischen den Geschlechtern finden lassen“ (S. 11), kann Rinke im Verlauf ihrer Darstellung anhand vieler einzelner Gemeinsamkeiten und Unterschiede überzeugend beantworten. Gendertheoretische Begriffe tragen dazu allerdings kaum mehr bei als die bloße Feststellung, dass eine bestimmte Konzeption von Geschlechtlichkeit zu einem bestimmten Moment so und nicht anders gefasst wurde. Warum zum Beispiel Hildegard ihre religiöse Praxis mit weiblichen Motiven alltagsweltlicher Schönheit verknüpft hat, lässt sich plausibel aus ihrer theologischen Theorie und Praxis und aus dem kulturhistorischen Kontext erklären – es erklärt sich nicht durch den (zu) einfachen Hinweis, dass hier eine Weiblichkeitskonstruktion vorliege, die Weiblichkeit und Schönheit eben miteinander verbinde und dadurch den Körper aufwerte (vgl. S. 218). Wahrscheinlich ist ein geringer Erklärungswert das Manko aller extremen Konstruktivismen und so auch derjenigen Gendertheorie, die schon durch ihre Terminologie „Code“ und „Codierung“ eine radikale Willkürlichkeit oder Unmotiviertheit (und dazu noch Starrheit!) geschlechtlicher Zuschreibungen behauptet; Zuschreibungen, die sie in ihren spezifischen historischen Ausprägungen dann nur schwer mit eigenen Mitteln erklären kann.

Der Körper als Zeichen(körper) göttlichen Sinns

Die medialen Formen der genießenden Gotteserfahrung untersucht die Autorin ausführlich und gründlich unter anderem am Verhältnis von Text und Bild in Hildegards Hauptwerk Scivias und an der Rolle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der religiösen Praxis der beiden Geistlichen: Bei Bernhard ist das laute Lesen in der lectio divina entscheidend, in der der spiritualisiert-sinnliche Klang des göttlichen Wortes den Buchstaben der Schrift überwinden und sein Geist einen imaginären Vorstellungsraum eröffnen soll (vgl. S. 107). Bei Hildegard, der der zweite große – und stärkste – Teil des Buches gewidmet ist, ist besonders interessant, wie sie geschickt ihre sozial untergeordnete Rolle als Frau und ihre schwache gesundheitliche Verfassung zusammen mit einer vermeintlichen Ungebildetheit in geistlichen und weltlichen Dingen dazu benutzt, sich als prophetisches Medium göttlicher Offenbarungen zu inszenieren. Ihr weiblicher Körper, vom Priesterstand ausgeschlossen, empfängt das göttliche Wort unmittelbar in Auditionen und Visionen, was ihr erlaubt, eine Theologie zu entwickeln, in der Maria und sie selbst Vorbildgestalten für eine „Aufwertung der leiblichen [insbesondere weiblichen] Spiritualität“ (S. 12) sind. Der jungfräuliche Körper der Nonnen (und Mönche), Hildegards eigener an erster Stelle, bekommt die „vermittelnde Funktion“ (S. 21), in geistlichen Übungen, das heißt, in der Erziehung zur christlichen Tugendhaftigkeit, in der tätigen Nächstenliebe, im Gottesdienst und in der geistlichen Musikpraxis, zum Zeichenkörper göttlichen Sinns zu werden. An dieser Stelle kann die Autorin auch plausibel die von Kittler aufgenommene These einlösen, dass historisch die „Beteiligung am Medium Schrift darüber entscheidet, welche Machtposition einer Gruppe oder Person“ (S. 18) zukommt. Denn im „Einswerden […] mit dem pneumatisch-göttlichen Beschriftungsakt“ wurden der damalige Status des weiblichen Körpers und die Position des weiblichen Subjekts dadurch, dass sie „Zeichen Gottes“ (S. 18) waren, sicherlich in dieser Hinsicht gestärkt.

Rinkes bemerkenswerter Befund über die Zeichenwerdung des weiblichen Körpers in der theologischen Praxis Hildegards von Bingen scheint einerseits die Ergebnisse zu unterstützen, die unabhängig voneinander Lacan am Beispiel der Katharer und Roland Barthes an den Ejercicios espirituales (Geistlichen Übungen) des Jesuitenorden-Gründers Ignacio de Loyola gewonnen haben; in beiden Fällen geht die religiöse oder mystische Praktik darauf aus, von Gott, dem verabsolutierten Anderen, ein Zeichen zu erhalten. Andererseits scheint Rinke die These des späten Lacans zu stützen – die dieser indessen selbst aus einer jüdisch-christlich-patriarchischen Tradition heraus entwickelt –, dass das genuin weibliche Genießen den Einsatz des ganzen Körper(ich)s verlangt, um sich als absolut genießendes Subjekt zurückzugewinnen.

URN urn:nbn:de:0114-qn091046

Dr. Wolfram Bergande

Universität der Künste Berlin, Fakultät Gestaltung, Homepage: http://www.design.udk-berlin.de/WolframBergande

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