Gegen das Vergessen arbeiten

Rezension von Sonja Hilzinger

Inge Hansen-Schaberg, Beate Schmeichel-Falkenberg (Hg.):

FRAUEN ERINNERN. Widerstand – Verfolgung – Exil 1933–1945.

Mit einem Vorwort von Christa Wolf.

Berlin: Weidler 2000.

250 Seiten, ISBN 3–89693–151–2, DM 49,00 / SFr 45,50 / ÖS 358,00

Abstract: Der Sammelband widmet sich aus der Perspektive der Geschlechterforschung der Beschäftigung mit der gesellschaftspolitischen und pädagogischen Aufgabe, wie die Erinnerung an den Holocaust, an die Verfolgten, Widerständigen und Exilierten im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft zu verankern ist.

Ein wichtiger Beitrag zur „Frauen im Exil“-Forschung

Mit dem Band „FRAUEN ERINNERN“ liegt die (um einige Beiträge erweiterte) Dokumentation der 9. Tagung „Frauen im Exil“ vor, die im Oktober 1999 an der Alice Salomon Fachhochschule in Berlin stattfand, gemeinsam konzeptioniert und organisiert von Wissenschaftlerinnen der AG „Frauen im Exil“ in der Gesellschaft für Exilforschung und Kolleginnen und Kollegen der Fachhochschule.

Mit „Sprache – Identität – Kultur“ (Band 17 / 1999 des Exiljahrbuchs), der Dokumentation der 7. Tagung an der Universität Mainz, dem noch in diesem Jahr in der Schriftenreihe der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand erscheinenden Band über das Exil in der Sowjetunion (8. Tagung), mit dem Beitrag von Hiltrud Häntzschel über „Geschlechtsspezifische Aspekte“ im 1998 publizierten „Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945“, den Aufsätzen von Sibylle Quack und Irmela von der Lühe über die Relevanz der Frauen- und Geschlechterperspektive für die Exilforschung in Band 14 (1996) des Jahrbuchs der Gesellschaft und schließlich dem ersten Jahrbuch, das der Thematik „Frauen und Exil“ (Band 11, 1993) gewidmet war, sieht es nun so aus, als sei die Perspektive der Geschlechterdifferenz zunehmend in die Exilforschung integriert. Wer sich vom analytischen Potential, der interdisziplinären Breite und der politischen Aktualität

dieses methodischen Zugriffs überzeugen möchte, sei hiermit auf diese gut zugänglichen Publikationen verwiesen.

Interdisziplinäre Zugänge

Der Titel dieser neuesten Publikation der AG „Frauen im Exil“ – „FRAUEN ERINNERN“ – zielt auf zwei Aspekte: „Das reflexive ‚sich erinnern an‘ ist ebenso wie das Anmahnen der ‚Erinnerung an‘, nämlich an Widerstand, an Verfolgung und Exil während der Zeit des Nationalsozialismus, Gegenstand dieses Bandes“, wie Inge Hansen-Schaberg in ihrem einführenden Beitrag „etwas erzählen – etwas hören – etwas vermitteln. Vom selektiven Umgang mit Erinnerungen“ erläutert. Christa Wolfs Reflexionen über das Funktionieren von Erinnerung und Gedächtnis und das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart, wie ihr Buch Kindheitsmuster (1976) entfaltet, haben wichtige Impulse zum Thema der Tagung gegeben, und Christa Wolfs Vorwort gibt denn auch – ausgehend vom Bild des javanischen Schattenspiels (vgl. den Beitrag von Hanna Papanek) – eine präzise und subtile, von Empathie und Sensibilität getragene Eröffnung des Bandes.

Als Mitverantwortliche für die Konzeption der Tagung und Mitglied der Arbeitsgruppe „Frauen im Exil“ stellt die Erziehungswissenschaftlerin Inge Hansen-Schaberg in ihrem Beitrag grundlegende Überlegungen zur Thematik der Tagung vor, die sie in den Kontext stellt der „Auseinandersetzungen über die Gedenkstätten und Mahnmalproblematik, über Ursachen und Erscheinungsformen des Antisemitismus, über die wirksamsten pädagogisch-politischen Maßnahmen, wie die NS-Zeit und ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit im individuellen Gedenken und im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft zu verankern sind und wie gegen rassistische und neonazistische Übergriffe auf Menschen anderer Ethnien oder politischer Einstellungen vorzugehen ist“.

Die einzelnen Beiträge fügen sich wie Mosaiksteinchen in den so umrissenen Rahmen. Die unterschiedlichen disziplinären Zugänge (Sozialwissenschaften, Geschichte, Literaturwissenschaft, Psychoanalyse, Pädagogik) verbinden sich dabei zu einem Netzwerk, das über die wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse hinaus dem Anspruch auf Einmischung und Engagement gerecht wird. Die Besonderheit der „Frauen im Exil“-Tagungen, nämlich der – nicht immer konfliktfreie – Dialog zwischen Zeitzeuginnen und Forscherinnen zieht sich dabei wie ein roter Faden durch den Band.

Auf die grundlegende Einführung von Inge Hansen-Schaberg folgt ein Beitrag der Germanistin und Publizistin Hiltrud Häntzschel („‚Ich war mehr für die Emotionen zuständig – und ich lieferte die Fragen‘. Fragen nach geschlechtsspezifischen Modi des Erinnerns und Gedenkens“), der den geschlechterdifferenten Ansatz der Tagung „Frauen erinnern“ profiliert und die Themen- und Problemfelder absteckt: „1. Wie erinnern sich Betroffene der Verfolgung und der Emigration im Nationalsozialismus? Gibt es Unterschiede dieses Erinnerns bei Männern und Frauen? 2. Wie gehen Frauen (Wissenschaftlerinnen, Interviewerinnen) mit dem Gedenken, mit den Erinnerungen, den Repräsentationen der Exil- und Lagererfahrungen um? Und wieder: Lassen sich möglicherweise Unterschiede dieses Umgangs bei Männern und Frauen ausmachen?“

Wie gehen wir mit den Überlieferungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen um?

Die drei Schwerpunkte des Bandes entfalten dann auf jeweils spezifische Weise Annäherungen an das Thema „FRAUEN ERINNERN“, wobei der geschlechterdifferenten Perspektive unterschiedliches Gewicht zukommt. Der erste Schwerpunkt, gewissermaßen das Herzstück – „Zur Aufarbeitung von traumatisierenden Erfahrungen und Erinnerungen“ – versammelt vier sehr heterogene Zeitzeuginnenberichte von Hanna Papanek („Spiegel und Schattenspiel: Vom Wiedererleben des Erlebten“), Bea Green („Mein Leben nach der Shoah“), Hanna Blitzer („Fragt uns aus, wir sind die Letzten“) und Susanne Berglind („Das Mädchen und der Holocaust. Ungarn – Auschwitz – Schweden“) – die Autorinnen leben heute in den USA, in Großbritannien, Israel und Schweden – sowie einen Beitrag der Exilforscherin Marianne Kröger („Dispositionen des Zuhörens – Reflexionen zum Umgang mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen“). Die Soziologin und Ethnologin Hanna Papanek, Frauen- und Exilforscherin, arbeitet seit einigen Jahren an der durch das Exil geprägten Geschichte ihrer Familie und hat dafür eine besondere Methode entwickelt, die wissenschaftliche Recherche, Analyse und Dokumentation mit subjektiven Formen persönlicher Erinnerung verbindet, und die sie „Participatory History“ nennt. Ihr Beitrag in diesem Band nun reflektiert die verschiedenen Aspekte des Wiedererlebens des Erlebten und wählt zur Veranschaulichung ihrer Arbeitsweise das Bild des javanischen Schattenspiels, das Christa Wolf in ihrem Vorwort wieder aufgreift: „Auf der einen Seite [der Leinwand] diejenigen, die in jener Vergangenheit Erlebende, Handelnde, Leidende waren und die, indem sie ihre Erinnerungen erzählen, jene Figuren auf die Leinwand werfen, vor der die anderen sitzen: Schattenbilder, auf die sie angewiesen sind. […] auf der anderen denken die Forscherinnen darüber nach, wie man denn mit diesen Zeugnissen umgehen, wie man sie sammeln, welche Methoden man bei Befragungen anwenden soll – das heißt, sie schützen sich vor dem Ansturm der Gefühle durch die ‚Leinwand‘, die Folie Wissenschaft, die sie zwischen ihren Forschungs‘gegenstand‘ und sich selber schieben, schieben müssen. Es ist kaum zu vermeiden, daß sie damit den Menschen, deren Vermächtnis sie gerade kennenlernen und bewahren wollen, neue Verletzungen zufügen.“

Exakt diese Problematik ist dann Thema des wichtigen Beitrags von Marianne Kröger, der die besondere kommunikative Situation des Gesprächs zwischen Zeitzeugin/ Zeitzeugen und Exilforscherin/Exilforscher kritisch beleuchtet, Fragen und Problemen nachgeht.

Eine gute Ergänzung bietet hierzu der Beitrag der Psychoanalytikerin Ute Benz, „Erinnern als Chance und Risiko. Zur Psychodynamik des Umgangs mit traumatisierenden Erfahrungen“, mit dem der nächste Schwerpunkt des Bandes – „Probleme des Erinnerns und Auswirkungen der Traumata“ – eröffnet wird. In ihrem Beitrag „Unausgetragene Konflikte und erwünschte Erinnerungen. Über Alice Salomon“ befragt die Politologin Adriane Feustel, Herausgeberin der Schriften Salomons, den Umgang mit der Erinnerung an Werk und Leben der 1948 im amerikanischen Exil gestorbenen Lehrerin und Wissenschaftlerin Alice Salomon.

Die Literaturwissenschaftlerinnen Silvia Schlenstedt („Suche nach der Sprache eines Überlebens. Das Beispiel der Gedichte von Ilse Blumenthal-Weiss“) und Ariane Huml („‚Von der Erinnerung geweckt‘: Zum Prozeß des Erinnerns bei Barbara Honigmann“) arbeiten jeweils exemplarisch anhand von Texten zweier in mehrfacher Hinsicht sehr unterschiedlicher Autorinnen den Umgang mit Traumatisierung und Erinnerung heraus.

Wir brauchen „unser Gedächtnis an das, was wir getan haben, an das, was uns zugestoßen ist“ (Christa Wolf)

Der dritte Schwerpunkt des Bandes, „NS-Geschichte im individuellen und kollektiven Gedächtnis“, bietet eine interessante, wiederum von verschiedenen Perspektiven ausgehende Zusammenstellung. Während Beate Schmeichel-Falkenberg einen Überblick über die Arbeit der Gruppe „Frauen im Exil“ und über den Stand der Frauenexilforschung gibt („Frauen im Exil – Frauen in der Exilforschung“), formuliert Wolfgang Benz mit einigen exemplarischen Schlaglichtern kritische Überlegungen „Zur Erinnerungskultur in Deutschland“. Christine Labonté-Roset, die Rektorin der Alice Salomon Hochschule, führt den „Beitrag der Alice Salomon Hochschule, Berlin, zur Aufarbeitung der NS-Geschichte“ eindrucksvoll aus. Während die Journalistin und Autorin Inge Deutschkron von „Erfahrungen in west- und ostdeutschen Schulen mit ihrem Theaterstück „Ab heute heißt du Sara“ berichtet, präsentiert die Sozialwissenschaftlerin Birgit Rommelspacher Ergebnisse einer Studie über den Umgang junger Frauen mit dem Thema Nationalsozialismus („Der Nationalsozialismus im Erleben der jungen Generation“). Gabriele Knapp, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück sowie des Hauses der Wannsee-Konferenz in Berlin, legt einen sehr differenzierten Beitrag vor zum Thema „Transgenerationelles Gedächtnis. Schweigen über den Nationalsozialismus in der BRD“, der sich hervorragend ergänzt mit der Überblicksdarstellung der Historikerin Juliane Wetzel „Zur Widerstandsrezeption in der BRD bis 1989“. Simone Barck, Literaturwissenschaftlerin und Historikerin, diskutiert anhand der Rezeptionsgeschichte von Ricarda Huchs und Günter Weisenborns Quellensammlung „Der lautlose Aufstand“ und Bodo Uhses Roman „Die Patrioten“ exemplarisch die „Grundfrage: Antifaschistischer Widerstand. Zur Widerstandsrezeption in der DDR bis 1970“.

Die Beiträge des Bandes „FRAUEN ERINNERN“ zeigen durch ihre netzwerkartige Verknüpfung untereinander, ihre Mischung von wissenschaftlicher Exaktheit und anschaulicher Darstellung und durch ihr unübersehbares Engagement für eine diskursive Erinnerungskultur etwas wesentliches auf, das auch die Arbeit der Exilforscherinnen innerhalb der Gesellschaft für Exilforschung charakterisiert. Das gemeinsame Ziel, „gegen das Vergessen“ (Christa Wolf) zu arbeiten, braucht ein solches Netzwerk verschiedenster Erfahrungen und Erinnerungen, Kenntnisse und Kompetenzen und vor allem den Dialog untereinander, der sich – und das macht diesen Band so notwendig und nützlich – möglichst vielen Interessierten, und hoffentlich vor allem jungen Menschen, öffnet und sie einbezieht.

URN urn:nbn:de:0114-qn021224

PD Dr. Sonja Hilzinger

Berlin

E-Mail: sonjahilzinger@sireconnect.de

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