Vormoderne Geschlechterkonzepte

Rezension von Karoline Noack

Judith Klinger, Susanne Thiemann (Hg.):

Geschlechtervariationen.

Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit.

Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2006.

324 Seiten, ISBN 978–3–937786–86–5, € 12,00

(auch als kostenfreier Download)

Abstract: Zum Selbstverständnis der Geschlechterforschung gehört es, ein differenzierteres Geschichtsbild zu konstruieren. Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband leistet dazu einen Beitrag. Es werden die vielfältigen Diskurse über Geschlecht in Europa in der Zeit des Übergangs zur Neuzeit diskutiert. Diese unterscheiden sich deutlich von dem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dominierenden Konzept des Geschlechterdualismus. Für den untersuchten Zeitraum ist ein Pluralismus von Geschlechter-Diskursen zu beobachten, die nebeneinander existieren, sich miteinander verbinden oder einander überschneiden können.

Im vorliegenden Tagungsband werden Geschlechter-Konzepte einer historischen Epoche thematisiert, von der behauptet wurde, dass ‚Geschlecht‘ nicht in der gleichen Weise eine universelle Strukturierungskraft gehabt habe wie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts (Heide Wunder: „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit. München: Beck 1992, S. 264). Die Übergangsepoche vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, die den zeitlichen Rahmen der Potsdamer Arbeitstagung bildete, wird zu Recht weit gefasst, indem ein Bogen bis zur Aufklärung gespannt wird. Für den danach folgenden Zeitraum, die Zeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, also nach der Zäsur zur Moderne, wird ein deutlicher Geschlechterdualismus mit universaler Gültigkeit festgestellt (vgl. S. 1).

Es ist sehr zu begrüßen, dass die Übergangsepoche erneut ins Blickfeld gerückt wurde, denn deren Erforschung war in der Vergangenheit oft mit konzeptuellen und methodischen Problemen konfrontiert. Das gilt besonders für geschlechtergeschichtliche Untersuchungen, denn ‚Geschlecht‘ als eine abstrakte soziale Strukturkategorie ist eine Erfindung der Moderne. Statt diese Entwicklung als lineare zu konstruieren und die früheren Sichtweisen als Vorgeschichte zu betrachten, wird im vorliegenden Band ‚Geschlecht‘ als eine „mehrfach relationale Kategorie“ (Andrea Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung. Wien: Löcker, 2005, S. 156) dargestellt, als ein Produkt vielfältiger Konstruktionen und Diskurse, die in „Geschlechtervariationen“ nebeneinander existieren oder sich bündeln können. In den einzelnen Beiträgen werden im Kontext „vor- und frühmoderner“ europäischer Literaturen und Bilder kulturwissenschaftliche, intermediale, diskursanalytische und systemtheoretische Zugänge mit den Perspektiven der neueren Geschlechterforschung verknüpft. Es dominieren literaturwissenschaftliche Themen aus der Romanistik, aber auch die Linguistik sowie die Geschichts- und Kulturwissenschaften sind vertreten. Teil des interdisziplinären Konzeptes ist es, die Beiträge weder chronologisch noch geographisch zu ordnen. Die so sichtbar werdenden Querverbindungen des „historisch Ungleichzeitigen“ (S. 3) sind z. B. die vielfältigen Geschlechtermodelle, die als Alternativen zum Eingeschlechtsmodell von Laqueur formuliert werden.

Weibliche Autorschaft

Tanja Schwan beschäftigt sich mit Subjektivierungsprozessen im Zusammenhang mit weiblicher Autorschaft. Ihre These lautet, dass die Repräsentation von Geschlecht im fiktionalen Text auch immer dessen (Neu-)Konstruktion bedingt (vgl. S. 5). Umschreibungen von Texten werden zu Orten der Neuverhandlungen von Geschlechternormen, ohne dass „weibliches Schreiben“ per se subversiv sei (vgl. S. 6). Claudia Gronemann geht weiblicher Autorschaft am Beispiel der spanischen Autorin María Rosa Gálvez de Cabrera im 18. Jahrhundert nach. Diese legitimiere ihre Tätigkeit, indem sie „mit Blick auf relevantes Geschlechterwissen“ tradierte literarische Codes aufgreife und re-kodifiziere (S. 254, S. 271). Judith Klinger analysiert die Subjektkonstituierung am Beispiel der Mystikerin Caterina von Siena jenseits einer Dichotomie von Leib und Seele (vgl. S. 85). Die zentralen Faktoren der mystischen Subjektkonstitution bewegten sich nur scheinbar in einem Rahmen von eindeutigen Kategorien. Die Subjektivität besetze einen Zwischenraum zwischen Leib und Seele. Weibliche und männliche Geschlechtsidentifikationen erscheinen in einer Reihe von Texten als uneindeutig oder auch als offen für neue „Besetzungen“ der „Zeichen des Geschlechts“ (S. 85-86, 125). Stephan Leopold betrachtet Geschlechtertypologie in der Liebeslyrik, „die von einem idealtypisch männlich gedachten Universalgeschlecht aus den Ort des Weiblichen bestimmt“. Er analysiert das von Autorinnen angewandte Konzept der performativen Taktik, mit dem diese auf die Performativität der Gender-Ordnung hinweisen wollten (vgl. S. 178). Anne Brüske fragt nach der Konstruktion von weiblicher Subjektivität, indem sie die Analysekategorien der Gender Studies durch die Systemtheorie Luhmanns ergänzt, mit deren Hilfe die sozialen Beziehungen in den außerehelichen Intimbeziehungen als Subsysteme innerhalb der höchsten Adelsschichten verstanden werden sollen (vgl. S. 276).

Geschlechter-Körper

Anhand von Geschlechterkonzeptionen im Spanien des 16. Jahrhunderts führt Susanne Thiemann die seit Judith Butler etwas aus dem Blick geratene Kategorie Sex als „das erzählte oder dargestellte physische Erscheinungsbild von Figuren“ (S. 53) erneut ein und grenzt sie von Gender, worunter sie „deren erzähltes oder dargestelltes Verhalten“ (ebd.) versteht, ab. Sie betont hier einen Aspekt der Definition von Gender, der bereits bei Joan W. Scott zu finden ist, deren „perceived differences“ [Hervorhebung K.N.] zwischen den „sexes“ allerdings häufig überlesen worden sind. Thiemann gelangt zu sehr prägnanten Schlussfolgerungen über das Verhältnis der Kategorien Sex und Gender. Die Merkmale, die wir heute als „sekundäre Geschlechtsmerkmale“ lesen, dienten als zentrale Indikatoren für die Bestimmung von Graden von Weiblichkeit und Männlichkeit auf einer Skala (vgl. S. 69). Die Bedeutungen körperlicher Unterschiede seien nicht ontologisch, sondern kulturell und historisch begründet (vgl. S. 77). Damit komme der Geschlechterrolle, Gender, wiederum eine besondere Bedeutung zu.

Robert Folger unternimmt den Versuch einer Historisierung von männlicher Subjektivität. In „Cárcel del amor“ von Diego de San Pedro (1492) zeichne sich eine (Ent-)Pluralisierung des Subjekts ab, die mit der Stabilisierung der Geschlechterordnung und von Genderrollen einhergeht (S. 152). Der Autor schlägt den Begriff „Geschlechterentwurf“ vor. Dieser beinhalte eine analytische Trennung von Geschlecht und Gender (vgl. S. 132). Der Vorschlag verwirrt jedoch m. E. nach die Debatte, anstatt sie zu erhellen. Bezeichnet doch „Geschlecht“ das, „was der englische Begriff ‚sex‘ zum Ausdruck bringt“ (ebenda). Zu den Merkmalen, die Körper geschlechtlich konstituieren, fügt der Autor noch ein weiteres hinzu, nämlich die „vitale Wärme“ (S. 147 f.).

Susanne Gramatzki analysiert italienische Bildungskonzepte des 15. und 16. Jahrhunderts und anthropologische Diskurse, die Geschlecht debattieren. Sie macht auf die Verflechtung von Körperkonzepten und diskursiven Praxen aufmerksam. Ihre Schlussfolgerung, dass der sich permanent reproduzierende Diskurs von „teilweise jahrtausendealten Theoremen über das männliche und das weibliche Geschlecht geprägt war“ (S. 41), steht allerdings in einem Widerspruch zu der Vielfalt der Geschlechter-Diskursein diesem Band. In ihrer Aussage, dass die Autorinnen der Frühen Neuzeit Strategien einsetzten, „die generell für Sub- und Minoritätenkulturen kennzeichnend sind“ (ebenda), scheint die Vorstellung einer essentiellen Subversivität sowie eine überwunden geglaubte Gleichsetzung von Frauen und Minderheiten"kulturen“ hervor.

Geschlechterkodierungen

Siobhán Catherine Groitl nimmt die sich wandelnden Geschlechterbeziehungen im Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft (vgl. S. 157) in den Blick. Diese lassen sich am „Diskurs über die richtige Ehe“ in einer Vielzahl von Textgattungen vor allem seit dem 13. Jahrhundert ablesen (vgl. S. 158). Die Ehe als ein offenes Konfliktfeld biete den Fokus, in dem sich Geschlechter-Diskurse bündeln. Nur implizit wird die Verschränkung von Geschlechterordnung und sozialen Differenzdiskursen deutlich, wenn vom Bauern als „sexuellem Körper“ die Rede ist (S. 171), die Diskurse sich jedoch vor allem an den Adel und das Bürgertum zu wenden scheinen (vgl. S. 158).

Wandlungsprozesse der Geschlechterordnung sind auch Gegenstand von Kristina Heße. Sie analysiert für den Zeitraum der spanischen Aufklärung den Prozess der Konstruktion von Männlichkeit als universaler Kategorie des Menschen, die zum weiblichen Geschlecht in einem Kontrast steht. Stephanie Bung setzt sich mit den Anfängen des französischen Salons im 16. Jahrhundert als Beginn eines langlebigen soziokulturellen Phänomens auseinander (S. 215-218). Salons stellten einen privilegierten Ort für Verhandlungen auch von Geschlechterwissen dar (vgl. S. 218). Die Autorin beobachtet eine zunehmende Präsenz der Frauen im Salon des 16. Jahrhunderts. Im Kontext von ‚Geschlecht‘ und ‚Klasse‘ als Differenzkriterien formuliert Bung Fragen an eine zukünftige Salonforschung (vgl. S. 230).

Konstruktionen von Männlichkeit

Silke Winst analysiert Männlichkeitskonzeptionen am Beispiel des Romans Ritter Galmy von Jörg Wickram. Die zu Beginn des Romans dargestellte vermeintlich zwischengeschlechtliche Liebesgeschichte stellt sich im weiteren Verlauf als homosoziales Begehren nach Bindungen wie Freundschaft, Herrschaft und Verwandtschaft dar, die gegenüber den (Liebes-)Beziehungen zwischen den Geschlechtern als tragfähigere Basis von Identität und gesellschaftlicher Ordnung verstanden wird (vgl. S. 208 ff.). Auch der Beitrag von Diz Vidal ist den Konfigurationen von Männlichkeit am Beispiel mittelalterlicher romanischer Liebesdichtung gewidmet. Diese Textform sei durch plurale Repräsentationen von Männlichkeit und Weiblichkeit charakterisiert und stelle ein literarisches sowie gesellschaftliches Gegenkonzept zum klerikalen Diskurs und dessen sozialen Ordnungsgefüge dar (vgl. S. 248).

Fazit

Die Beiträge ließen sich auch nach anderen Kriterien ordnen. Mehrfach relationale Bedeutungen von Geschlecht implizieren jedoch unterschiedliche Lesarten. Auch das macht dieses Buch so lesenswert. Der Sammelband bietet interessante Untersuchungen zu Gender-Konzepten im Übergang zur Neuzeit, die in die aktuellen Debatten der Gender-Theorien eingreifen und gleichzeitig zu einem differenzierten Geschichtsbild der Frühen Neuzeit beitragen. Nicht zuletzt bietet der Band vielfältige Anregungen für die Forschung auch in den Nachbardisziplinen.

URN urn:nbn:de:0114-qn082224

Dr. Karoline Noack

Freie Universität Berlin/Lateinamerika-Institut

E-Mail: karolai@zedat.fu-berlin.de

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