„Ein Buch von so fürchterlicher, aufrüttelnder Wahrheit“. Gabriele Reuters Aus guter Familie (1896) in einer Neuedition

Rezension von Nikola Roßbach

Gabriele Reuter:

Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens.

Studienausgabe mit Dokumenten. Band I: Text.

Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft.de 2006.

302 Seiten, ISBN 978–3–936134–19–3, € 14,90

Gabriele Reuter:

Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens.

Studienausgabe mit Dokumenten. Band II: Dokumente.

Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft.de 2006.

644 Seiten, ISBN 978–3–936134–20–9, € 19,90

Abstract: Frauenroman, Tendenzroman, Künstlerroman, naturalistischer oder realistischer Roman: Gabriele Reuters Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens (1896) wurde seinerzeit breit rezipiert und kontrovers diskutiert. Nun ist der Erstdruck in einer Studienausgabe, angereichert mit zahlreichen Informationen und Dokumenten, wieder zugänglich: eine solide Basis für weitere Forschung zu einer großen Unbekannten.

Katja Mellmann hat einen nahezu vergessenen Roman herausgegeben: Gabriele Reuters Aus guter Familie (1896) war Samuel Fischers erster großer Publikumserfolg vor den Buddenbrooks und machte die Autorin schlagartig berühmt.

Bürgerliche Antiheldin

Das Buch war damals eine deutschlandweite Sensation – und fasziniert noch heute. Reuter erzählt vom gescheiterten Leben der Bürgerstocher Agathe, die an der aufgezwungenen gesellschaftlichen Rolle zerbricht. Die differenzierte Ausarbeitung des Charakters der (Anti )Heldin, changierend zwischen Liebessehnsucht und sexuellen Wünschen einerseits, Handlungsunfähigkeit und Feigheit andererseits, beeindruckt ebenso wie ein souveräner, dynamischer Schreibgestus von realistischer Drastik. Immer wieder finden sich treffende Passagen wie das folgende Stimmungsbild, in dem eine untergründige, ätzende Ironie die Heiterkeit des angepassten jungen Mädchens bereits brüchig erscheinen lässt:

„Sie fühlte sich oft namenlos glücklich, auch ohne eine besondere Ursache. Beim Abstäuben der Möbel konnte ihr heller Sopran sich plötzlich zu lautem Jubel aufschwingen. Unzähliges wurde zu gleicher Zeit begonnen: Kunstgeschichte, Schneiderei, Musik und Besuche bei Freundinnen und bei armen Leuten, denen die Ersparnisse ihres Kleidergeldes zuflossen. Ach ja – so recht praktisch, liebvoll, aufopferungsfreudig und dabei gescheut und von gediegener Bildung! Um das alles zu erreichen, musste man sich schon tummeln! Alles, alles für ihn – den geliebten, herrlichen, zukünftigen Unbekannten! – Für sich allein, nur aus Freude an den Dingen – nein, das wäre doch Selbstsucht gewesen! Und es war ja auch so schön, so süß, für andere zu leben.“ (I, S. 54f.)

Nun soll es in meinem Kommentar weniger um den Roman als um seine Edition gehen. Deshalb sei lediglich eine letzte, abseits wissenschaftlicher Kategorien angesiedelte Bemerkung zu Reuters Werk erlaubt: Wer die Buddenbrooks schätzt, wen Schnitzlers Weg ins Freie und vor allem seine Therese faszinieren, der wird Reuters Roman verschlingen – kaum zufällig achteten Thomas Mann und Schnitzler ihre ‚Vorgängerin‘ hoch (vgl. Bd. II, S. 466 ff., 573). Sigmund Freud, der Schnitzler als dichtenden Doppelgänger empfand, findet bei Gabriele Reuter literarisch entworfen, was er in psychoanalytischer Arbeit erforscht: die Entwicklung von Neurosen (vgl. Bd. II, S. 540).

Muss man die kennen?

Während ihrer Arbeit sah sich die Herausgeberin immer wieder mit der Frage „Wer war Gabriele Reuter? (Muss man die kennen?)“ (Bd. I, S. 286) konfrontiert. Warum Agathe Heidling dennoch nicht so bekannt geworden ist wie Thomas Buddenbrook oder Therese Fabiani, warum man die Antagonisten Tonio Kröger/Hans Hansen kennt und nicht Agathe Heidling/Eugenie Wütrow, bleibt eine offene Frage; Mellmann diskutiert Gründe für die zeitgenössische Reuter-Faszination und ihr späteres Vergessenwerden nicht, verweist aber auf entsprechende Forschungsansätze, vor allem auf Desiderate und mögliche neue Perspektiven der Forschung: „So wäre z. B. nach der Rolle des Populärdarwinismus und des bildungsbürgerlichen Konzepts von ‚Persönlichkeit‘ zu fragen, nach der spezifischen Filterung allgemeinen Bildungsgutes in einem tendenziell bildungsfernen, dominant religiös bestimmten Milieu und nach den Auswirkungen einer frauentypischen literarischen Sozialisation im 19. Jahrhundert.“ (Bd. I, S. 289)

Zum Textabdruck

Die vorliegende Edition legt die Basis für eine solche weitere Beschäftigung. Es handelt sich um eine Studienausgabe, die eine leicht bearbeitete Fassung des Erstdrucks von 1895 (vordatiert auf 1896) bietet. Wortlaut, Orthographie und Zeichensetzung folgen generell dieser Erstausgabe, jedoch wurden Druckfehler stillschweigend verbessert, einige Korrekturen und Angleichungen vorgenommen (vgl. Bd. I, S. 290) – was einer Studienausgabe durchaus gemäß ist und dennoch editionsphilologische Bedenken (die nicht nur die vorliegende Studienausgabe betreffen) provoziert: Beim wissenschaftlichen Studium eines älteren Textes in neuer Ausgabe irritiert es mich weit mehr, nicht genau zu wissen, wo Apostrophs ergänzt oder Tippfehler stillschweigend korrigiert wurden, als den womöglich orthographisch fehlerhaften Originaltext zu lesen.

Mellmanns Studienausgabe ist dennoch für die wissenschaftliche Arbeit uneingeschränkt zu empfehlen. Ausdrückliches Zielpublikum sind Studierende (vgl. I, S. 289), doch ist die Edition auch für Wissenschaftler/-innen und interessierte Laien zweckdienlich.

Zum Kommentar- und Dokumentationsteil

Dem Textabdruck folgt im ersten Band ein Anhang. Er enthält (1) Anmerkungen (d. h. Wort- und Sacherläuterungen, die teilweise zu ausführlich geraten: Muss man ‚Bürgerschülerin‘ und ‚Chloroform‘ wirklich erklären?), (2) ein knappes Nachwort, das über Publikations- und Wirkungsgeschichte informiert, (3) eine biobibliographische Zeittafel zu Gabriele Reuter und 4. eine Bibliographie zur entsprechenden Forschung.

Der zweite Band ‚Dokumente‘ beginnt mit einer informativen Einleitung. Es leuchtet nicht ganz ein, warum die dort präsentierten Informationen zur Entstehungsgeschichte, zu autobiographischen Bezügen, zur Rezeption und zur vorliegenden Ausgabe nicht, symmetrisch zum ersten Band, im Anhang am Schluss auftauchen, der dann auch nicht nur einen Unterpunkt (‚Kommentar‘) gehabt hätte.

Multiple Lesarten

Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie besitzt nicht nur eine jahrzehntelange Publikationsgeschichte (28 Auflagen bis 1931), sondern auch eine komplexe Rezeptionsgeschichte. Der Großteil der hierzu präsentierten Dokumente sind Rezensionen. Es handelt sich nicht um neue Funde aus systematischer Recherche, sondern um „den der Forschung im Augenblick bekannten Stand“ (Bd. II, S. 322), vornehmlich um nachgelassene Zeitungsausschnitte, die hier ausführlich und übersichtlich dokumentiert werden. Nicht nur die zahlreichen Rezensionen aus dem Jahr 1896 zeigen die Spannbreite der Lesarten - Aus guter Familie wurde als Frauen-, Tendenz-, Künstler-, naturalistischer oder realistischer Roman gelesen –, sondern auch die späteren Rezeptionszeugnisse, von Mellmann als „Anschlusskommunikationen“ bezeichnet. Gemeint sind ausgewählte kultur- und literaturkritische Essays, literaturgeschichtliche und diskursexterne Bezugnahmen auf Reuters Roman. Es folgen „Private Rezeptionszeugnisse“; eine „Handvoll Zufallsfunde aus eigener Recherche“ werden präsentiert, die für Erweiterungen offen bleiben. Generell verweist die Herausgeberin souverän auf noch nicht geschlossene Lücken, die ihre eigene Leistung nicht schmälern.

Ja

Man muss Gabriele Reuter kennen. Die vorliegende, übrigens preiswerte Neuausgabe ermöglicht einen Anfang. Es bleibt zu hoffen, dass sie im thematisch heterogenen Verlagsprogramm von LiteraturWissenschaft.de sichtbar genug platziert ist.

URN urn:nbn:de:0114-qn082243

PD Dr. Nikola Roßbach

Technische Universität Darmstadt, Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft

E-Mail: mail@nikola-rossbach.de

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