Erziehungstheorie, Literatur und Geschlecht

Rezension von Barbara Gribnitz

Anja May:

Wilhelm Meisters Schwestern.

Bildungsromane von Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Königstein: Ulrike Helmer 2006.

214 Seiten, ISBN 978–3–89741–203–3, € 22,00

Abstract: Die Verfasserin stellt sich die Aufgabe, das „erkenntnistheoretische Potential des literarischen Textes als Quelle historisch-pädagogischer Forschung“ (S. 12) am Beispiel des Genre Bildungsroman herauszuarbeiten. Anhand zweier Romane, die weibliche Lebensläufe beschreiben (Sophie von La Roche: Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim; Friederike Helene Unger: Julchen Grünthal), erweitert sie die Bildungsromandebatte in der Erziehungs- und Literaturwissenschaft um die Kategorie Geschlecht und bestimmt „den literarischen Text als privilegierten Ort dieser Auseinandersetzung“ (S. 40). Die Studie leidet unter Redundanz und oberflächlicher Lektüre der Texte.

Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts werden Romane, die Bildungsgeschichten weiblicher Helden erzählen, erneut (nach der zeitgenössischen Rezeption) in die literaturwissenschaftliche Diskussion um den Bildungsroman einbezogen. Die Verfasserin rückt in ihrer Untersuchung jedoch die erziehungswissenschaftliche Perspektive in den Vordergrund.

In einem einleitenden Kapitel referiert sie zunächst einige Positionen der pädagogischen Forschung „im Spannungsfeld von Hermeneutik und Dekonstruktion“ (S. 13), betont die Wirkungsmächtigkeit des Diltheyischen Paradigmas und stellt dann neuere Ansätze einer „dekonstruktiv orientierten Kritik eines hermeneutischen Textmodells“ (S. 28) vor, die sie als „methodisches Fundament“ ihrer Arbeit bezeichnet (vgl. S. 32). Dabei definiert sie Dekonstruktion als „Auseinandersetzung mit Brüchen, Widersprüchen und widerstreitenden Bedeutungsebenen“, die „zentrale Prämissen pädagogischen Denkens“ – Einheit des Subjekts, Bildung und Erziehung als linearer und planbarer Prozess – ins „Zentrum des Interesses“ rückt, statt sie stillschweigend weiter zu tradieren (vgl. S. 32 f.). Diese neueren erziehungswissenschaftlichen Ansätze möchte die Verfasserin nun um die Kategorie Geschlecht ergänzen, um so die vorgestellten Analysen, die „die Vita des männlichen Bildungshelden und die hier verhandelten Probleme wie selbstverständlich zum Platzhalter des Allgemeinen“ erheben, erweitern und ausdifferenzieren zu können (vgl. S. 41), und zwar am Beispiel zweier Romane, die sich durchaus kritisch mit bildungstheoretischen Fragen des ausgehenden 18. Jahrhunderts beschäftigen: Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) von Sophie von La Roche und Julchen Grünthal (1784/1798) von Friederike Helene Unger. Eine Textanalyse werde „eine Vielzahl von Brüchen und Widersprüchen“ sichtbar machen, die „mit den eindeutigen ‚pädagogischen Botschaften‘, die beide Texte auf den ersten Blick transportieren, nicht in Einklang zu bringen sind“ (S. 45).

Das Resultat ihrer Untersuchungen vorwegnehmend, bezeichnet die Verfasserin diesen Widerspruch als „doppeltes Sprechen über Erziehung und Bildung“, das eindrücklich die Notwendigkeit einer Erweiterung der Debatte um Bildungsromane von Frauen beweise (vgl. S. 46). Obwohl die Bildungsgänge weiblicher Helden ganz auf die Eingrenzung der den männlichen Bildungshelden zur Verfügung stehenden Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten (gelehrtes Wissen, Reisen, sexuelle Erfahrungen) zugeschnitten seien, schrieben sich diese doch auf subtile Weise in die Geschichten weiblicher Helden ein und erzeugten so eine Spannung zu den Geboten der Häuslichkeit und Tugend. Dieser Vergleich der Bildungsgänge weiblicher und männlicher Helden reproduziert die hierarchisch festgeschriebene Geschlechterdifferenz insofern, als die Verfasserin die Brüche in den weiblichen Geschichten als Überschreitungen der Geschlechtergrenze bzw. als Vereinnahmung männlich konnotierter Bereiche, die Brüche in den männlichen Geschichten jedoch als moderne Uneinheitlichkeit des Subjekts und der Erkenntnis interpretiert. Innerhalb der sich um 1800 konsolidierenden Geschlechterordnung zielte Frauenbildung auf die Festschreibung als Gattungswesen, Männerbildung auf die Entwicklung eines Individuums. Diese und weitere Ergebnisse der gender-orientierten Literaturwissenschaft reflektiert die Verfasserin leider nicht tiefgreifend genug, um ihrer Untersuchung eine solide methodische Basis zu schaffen.

Sophie von Sternheim

Im Mittelpunkt der folgenden Analyse des Romans Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim stehen die Motivkomplexe Tugend, Reisen, England. Sophie ist das Produkt ihrer Erziehung, deren Credo die praktische Ausübung der Tugenden als Grund der Glückseligkeit bestimmt. Während die adlige, englische Mutter sie alle „Frauenzimmerarbeiten“ lehrt, unterweist sie der bürgerliche, deutsche Vater im Gebrauch gelehrten Wissens und in der Benutzung des Geistes. Diese den Geschlechtern zugeordneten und ebenso getrennt vermittelten Erziehungsinhalte vereinigen sich also in Sophie (vgl. S. 89). Es scheint nur folgerichtig, in der Konfrontation Sophies mit Lord Seymour „ein regelrechtes Spiel mit einer tradierten Geschlechterordnung“ zu sehen und Seymour die weiblich konnotierten Charakteristika Gefühl, Passivität und Häuslichkeit zuzuweisen (S. 93), indessen Sophie mit intellektueller Überlegenheit und männlichem Mut den Anfechtungen am Hof widersteht (vgl. S. 96, 99). Dies sind interessante interpretatorische Überlegungen, aber keine expliziten Textaussagen. Die Verfasserin bezieht die Beschreibung Sophies als „wunderliches Gemische“ oder „glückliche Mischung“ jedoch ausschließlich und ausdrücklich auf die von ihr herausgearbeitete Vereinigung männlicher und weiblicher Geschlechtseigenschaften (vgl. S. 95, 101, 104), obgleich die verwendeten Zitate Sophies soziale und nationale Herkunft ansprechen („wunderliches Gemische von bürgerlichem und adelichem Wesen“, S. 123; „schöne und glückliche Mischung der beiden Nationalcharaktere“, S. 91). Die Verfasserin baut nicht nur ihre These vom „Schwellenwesen“ Sophie auf diesen verkürzten und verstellenden Zitaten auf (S. 103 f.), sondern bedient sich ihrer auch, um die daraus abgeleitete Interpretation der Figur Sophie als Geschlechtermischung dann sogar als Textbeleg für eine weitere Argumentation heranzuziehen: Sie entdeckt nämlich einen Widerspruch darin, „daß die, deren Vorbildlichkeit darin besteht, ein ‚wunderliches Gemische‘ (ebd. S. 123) traditionell männlich und weiblich konnotierter Eigenschaften und Tugenden und des ‚englischen und deutschen Nationalcharakters‘ (ebd. S. 91; inkorrektes Zitat s. o.) zu sein, hier mit Emphase binarisierende und hierarchisierende Ausführungen zur Verschiedenheit der Geschlechts- und Nationalcharaktere vorträgt“ (S. 116).

Das erwähnte Schwellen- oder liminale Konzept komme, wörtlich genommen, auch im Motiv des Reisens zum Ausdruck, und obwohl der Vergleich mit dem grand tour der männlichen Bildungserzählung ein wenig hinkt – ist doch Sophies Mobilität auf Besuchsreisen, Flucht und Entführung ohne Bildungsauftrag beschränkt –, eröffnet er einen instruktiven und zu vertiefenden Blick auf den geschlechtsspezifischen Umgang mit den jeweiligen Reiseerfahrungen. Der Endpunkt des zur Irrfahrt gewordenen grand tour der Sophie von Sternheim ist England. England aber sei eine „‚geschlechterverkehrte Welt‘“ (S. 122). Diese Zuschreibung übernimmt die Verfasserin aus der Elizabethanischen Epoche, um Sophie und Seymour, auf den sie pflanzenmetaphorische und damit weiblich konnotierte Beschreibungen Richs überträgt, als man-woman und womanish-man Shakespeares zu kennzeichnen (S. 130).

Julchen Grünthal

Die erste einbändige Fassung des Romans endet mit der Flucht Julchens mit einem russischen Adligen, die dritte Fassung wird durch starke Rousseaubezüge und vor allem durch einen zweiten Teil ergänzt, in dem Julchen bereuend zu ihrem Vater zurückkehrt und als Leiterin einer Mädchenschule ihren Platz in der Gesellschaft findet. Die Verfasserin lässt den zweiten Teil allerdings unberücksichtigt, „da dieser Text sowohl sprachlich als auch inhaltlich deutlich gegen den ersten Band abfällt und hier zugleich die Dichte und Vielschichtigkeit verlorengehen, die die bildungstheoretische Bedeutung des Werkes verbürgen“ (S. 134, Fn 5). Abgesehen von dem hinterfragbaren Wertungskriterium trivial/nichttrivial und der Frage, warum nur vielschichtige Werke bildungstheoretische Bedeutung haben, widerspricht diese Beschränkung auf den ersten Teil der Autorin- und Werkintention und führt überdies zu Inkonsequenzen der Argumentation, wenn die Verfasserin beispielsweise gegen Aussagen der Forschungsliteratur, die sich nachweislich auf das Werkganze bzw. explizit auf den zweiten Teil beziehen, polemisiert (vgl. S. 152, Fn 56).

Die Lektüre dieses Romans ziele gleichfalls auf die Aufdeckung der Struktur des „doppelten Sprechens“, die die Rahmenhandlung des Romans konturiere, indem den sich aus pädagogischen Schriften speisenden Reden des Vaters die gelangweilten Reaktionen seiner nicht überzeugten Zuhörer gegenüber gestellt werde: Die pädagogische Allmachtsphantasie träfe auf die reale Ohnmacht des Erziehers (vgl. S. 157, 167). Im Unterschied zum Roman La Roches, der ein versöhnliches Bild der (geschlechter-)polarisierenden Konzeption im Zeichen der Tugend entwerfe, würden im Roman Ungers die polarisierenden Momente in einem Gestus der Dekonstruktion satirisch überzeichnet und (in der Flucht Julchens) inszeniert, die Unmöglichkeit moralischer Erziehung betonend (vgl. S. 165). Dieses eine, rein inhaltliche Motiv der Flucht und dessen Stilisierung als „Sieg der Macht der Leidenschaften“ (S. 171) ist der Drehpunkt der gesamten Romaninterpretation und auch das Kriterium, mit Hilfe dessen die Verfasserin Julchen von Rousseaus Frauenfiguren Sophie und Julie abgrenzt: Julchen kennzeichne weder die Tugend der Unschuld Sophies noch die wissende Tugend Julies, die das Laster kenne und gerade deshalb überwinde, sondern entwerfe ein Selbst auf dem Fundament der Leidenschaften, die jegliche Erziehung vereitelten (vgl. S. 175 ff.). Es sei erlaubt, daran zu erinnern, dass die Einbeziehung des zweiten Teils ein erheblich abweichendes Bild der Rousseaubezüge ergäbe.

Schluss

In der Schlussbetrachtung, die im Wesentlichen eine Wiederholung der in der Einleitung als Vorwegnahmen und im Interpretationsteil als Ergebnisse formulierten Aussagen darstellt, deutet die Verfasserin die beiden Texte als Bildungsromane „im Sinne von Texten, die eine komplexe und vielschichtige Auseinandersetzung mit bildungstheoretischen Fragen transportieren“ (S. 191); diese Definition aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive instrumentalisiert Literatur und weist ihr sogar Abbildcharakter zu: Denn die „erkenntnistheoretischen Potentiale“ der Romane lägen darin, „daß im Spiegel der komplexen und vielschichtigen Anlage der literarischen Quelle die bildungstheoretische Debatte selbst in ihrer zum je spezifischen historischen Zeitpunkt differierenden Vielschichtigkeit analysierbar wird“ (S. 191).

Es ist zu bedauern, dass die Verfasserin auf eine abschließende Einordnung der beiden untersuchten weiblichen Bildungsgeschichten in die immer noch von männlichen Bildungsgeschichten geprägte Bildungsromandebatte verzichtet, sind doch Sophie und Julchen tatsächlich Wilhelm Meisters Schwestern.

URN urn:nbn:de:0114-qn082154

Dr. Barbara Gribnitz

Kleist-Museum, Frankfurt (Oder)

E-Mail: gribnitz@kleist-museum.de

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