Vom Umgang mit Borderline-Müttern. Orientierungsmöglichkeiten für Kinder betroffener Mütter

Rezension von Manuele Rösel

Christine Ann Lawson:

Borderline Mütter und ihre Kinder.

Wege zur Bewältigung einer schwierigen Beziehung.

Gießen: Psychosozial-Verlag 2006.

270 Seiten, ISBN 978–3–89806–256–5, € 24,90

Abstract: Die klinische Sozialarbeiterin Christine Ann Lawson setzt sich mit der besonderen Beziehung zwischen Kindern und ihren von der Persönlichkeitsstörung Borderline betroffenen Müttern auseinander. Dabei differenziert sie eindrucksvoll die verschiedenen, ineinander übergreifenden Symptome und Verhaltensweisen, die für diese impulsive Erkrankung typisch sind und die daraus resultierenden, zerstörerischen Konsequenzen für das von der Mutter abhängige Kind. Dieses findet sich, auch als erwachsene Persönlichkeit, immer erneut in zerstörerischen Interaktionen mit seiner Mutter wieder, in denen es mit unverarbeiteten Traumata und Ängsten konfrontiert wird. Borderline Mütter und ihre Kinder zeigt diesen Kindern Wege auf, sich selbst und der Erkrankung mit Verständnis zu begegnen und zerstörerische Konfrontationen mit ihren noch immer Angst, Scham und Wut auslösenden Müttern zu vermeiden oder abzuschwächen.

Strukturen

Das Buch zeichnet sich durch eine klare Strukturierung aus, die es den Leser/-innen ermöglicht, Fakten und Zusammenhänge nachzuvollziehen, ohne dabei die Thematik aus dem Auge zu verlieren. Neben einer übersichtlichen Darstellung der einzelnen Charaktere, die sich aus einer spezifischen Konstellation von Verhaltensweisen der Borderline-Störung ergeben, geht die Autorin in einem sich wiederholendem Muster auf typische Gefühlszustände und Merkmale ein. Immer wieder zeigt sie gut nachvollziehbar die Konsequenzen für das Erleben der Kinder auf, die den Übertragungen von Angst, Hilflosigkeit und Wut schutzlos ausgeliefert sind. Christine Ann Lawson beschreibt das typische Anpassungsverhalten der betroffenen Kinder, die versuchen, so wie ihre Mütter auch, durch eine als ob-Haltung ihre Kindheit zu überleben. Lawson klassifiziert die daraus resultierenden Charaktere der Kinder, die sich aufgrund der Projektionen der Mütter als nur gute und nur böse Kinder wahrnehmen, was dem typischen Schwarz-Weiß-Denken der Betroffenen entspricht. Die Kinder, die keinem dieser beiden Extreme zugeordnet werden, definiert die Autorin als ‚verloren‘. Das Kapitel „Das verlorene Kind“ schließt entsprechend die Klassifizierung ab. Auch in diesem Abschnitt werden Merkmale und typische Botschaften an das Kind aufgezeigt, die mit erschreckender Destruktivität deren Leben einengen, behindern und zerstören. Lawson beschreibt auch die Verhaltensweisen der Väter, die diesen Kindern Halt geben und die Auswirkungen der Zerstörung mindern könnten. Mit erschreckender Klarheit zeigt sie, dass die Väter aufgrund eigener Persönlichkeitsdefizite oft nicht in der Lage sind, an der Seite ihrer Partnerin zu bestehen und schon gar nicht, ihren Kindern hilfreich beizustehen. Spätestens hier wird für die Leser/-innen das ganze erschreckende Ausmaß an Hilflosigkeit und Einsamkeit der Kinder nachvollziehbar.

Nachdem sie die familiäre Struktur und die typischen Merkmale von Müttern, Kindern und Vätern dargestellt hat, entwickelt Lawson, unter Berücksichtigung der einzelnen Borderline-Charaktere, Muster für konkrete Verhaltensweisen, die den Besonderheiten der Mütter und Kinder Rechnung tragen. In diesem Abschnitt werden typische Botschaften der Mutter an das Kind analysiert und hinterfragt, wobei das Kind empathisch bestärkt wird, sich und seine Bedürfnisse vorrangig wahrzunehmen und ihnen durch Abgrenzung zu entsprechen. Christine Ann Lawsongeht dabei auf Themen wie Suizidalität, Manipulation und Übergriffigkeit ein und bietet ganz konkrete Möglichkeiten, diesen Bedrohungen zu entgegnen. Hilfreiche verbale Ermutigungen und die empathische, immer wiederkehrende Botschaft der Autorin an das Kind, du hast ein Recht zu sein und zu leben, wirken unterstützend und stabilisierend. Das, was den Kindern in ihrem Leidensweg nicht gewährt wurde, nämlich die unterstützende Begleitung in ein positiv angenommenes Selbst, gewährt Christine Ann Lawson geradezu stellvertretend mütterlich und heilend. Im Abschluss daran ermöglicht sie noch einen Einblick in die Notwendigkeit des Verstehens. Rückwärts leben zeigt, dass das Selbstverständnis der Kinder und das Neuerschaffen ihres Selbst voraussetzen, dass sie sich mit dem Erleben ihrer wichtigsten Bezugsperson auseinandersetzen. Nur so können sie Zugang zu dem erhalten, was sie ausmachte und auf sie übertragen wurde.

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung

Die charakteristischen Symptome und Verhaltensweisen der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind, in all ihren zerstörerischen Facetten, in jedem Abschnitt des Buches präsent. Neben einer kurzen Einführung in den Begriff „Borderline“, geht die Autorin besonders emotional und somit auch eindringlich auf typische kognitive Muster von Kindern ein, die in ihrer Entwicklung von einer Borderline Persönlichkeit geprägt wurden. Die Auswirkung typischer Wesensmerkmale der betroffenen Mutter, wie impulsive Verhaltensweisen, Unberechenbarkeit, das Forcieren intensiver Nähe und das ebenso abrupte Distanzieren von nahestehenden Personen, zwingt deren Kinder in einen alltäglichen Überlebenskampf. Trotz ihrer eindrucksvollen Schilderung der erschreckenden Auswirkungen dieser Persönlichkeitsstörung auf das Leben der Kinder anhand authentischer Aussagen und Falldokumentationen bewahrt sich Christine Ann Lawson eine nicht-wertende Haltung und ermöglicht immer wieder Einblicke in das emotionale Als-ob-Leben der betroffenen Mütter. Kinder dieser Mütter erfahren beim Lesen dieses Buches zum einen eine empathische Reflektion und Anerkennung eigener spezifischer Wesensmerkmale, die aus dem Überlebenskampf an der Seite ihrer Mutter resultieren. Auf der anderen Seite erhalten sie aber auch Einblicke in das Erleben ihrer erkrankten Mütter, so dass sie dabei unterstützt werden, sich differenziert wahrzunehmen. Die daraus resultierende Erkenntnis, nicht verantwortlich zu sein, ermöglicht ihnen, sich im Hier und Jetzt von Projektionen, Schuld- und Verantwortungszuweisungen abzugrenzen und gleichzeitig auch bereits erlebte Übergriffe zurückzuweisen und zu verarbeiten.

Märchenhaftes

Durch das gesamte Buch und seine nur allzu realistischen Themen zieht sich ein Begleittext in Form von bekannten Zitaten aus der Welt der Märchen. Die Charaktere der betroffenen Borderline-Mütter werden in ihren Wesenszügen denen von Märchenfiguren gleichgesetzt. Auf diese Weise soll die vielschichtige und schwer zu diagnostizierende Borderline-Störung verständlicher gemacht werden. Die Borderline-Erkrankung ist eine Persönlichkeitsstörung, die Symptome anderer Störungsbilder in sich einschließt, so dass Borderline-Charaktere auch durch deren Merkmale geprägt sind. Um dies zu veranschaulichen, bezeichnet Christine Ann Lawsondie Mutter, die an der narzisstisch geprägten Borderline-Störung leidet, als Königin, die tendenziell dissoziale Borderline-Persönlichkeit wird von ihr als Hexe charakterisiert.Das verwahrloste Kindneigt zu histrionischen Zügen, und dieEinsiedlerinzeigt schizoide Merkmale. Die märchenhafte Begleitung dieses ernsten Themas lässt wirkungsvoll das kindliche Gemüt der Leser/-innen aufleben und ermöglicht so auch einen emotionalen Zugang zu den extremen Lebensbedingungen der betroffenen Kinder. Mit der passgenauen Verwendung märchenhafter Zitate, wird das überzeitliche Erscheinungsbild von Borderline-Erkrankungen veranschaulicht. Die angestrebte Auseinandersetzung mit typischen, märchenhaften Grundaussagen, wie „es war einmal…“ und „alles wird gut…“, fördert das Nachdenken über eigene Reaktionen, die zwischen Zynismus und Hoffnung, je nach dem Erleben und der Konfrontationsfähigkeit der Leserin bzw. des Lesers, wechseln. Geradezu erschreckend passend fügt die Autorin die märchenhaften Zitate so ein, dass auch die Borderline-Erkrankung eine gewisse Zeitlosigkeit aufweist.

Trotz der treffsicheren Zuordnung und der so ermöglichten vielfältigen, auch kindlichen Assoziation hätte ich mir auch eine unterstützende Zuordnung zu den Klassifikationssystemen der Klinischen Psychologie, wie das ICD-10 und das DSM-IV, gewünscht. So wäre auch eine weiterführende Informationsmöglichkeit für Kinder von Betroffenen möglich. Da ich dieses Buch in seinem Informationsreichtum als sehr empfehlenswert für öffentliche Einrichtungen wie Jugendämter, Familiengerichte, Beratungsstellen und Kinderärzte betrachte, wäre eine derartige Klassifizierung sogar dringend nötig, um eine hilfreiche rechtlich-medizinische Unterstützung zu gewährleisten.

Fazit

Ein sehr empfehlenswertes Buch, nicht nur für betroffene Kinder, sondern auch und gerade für jene, die diese begleiten, ob im Rahmen einer Partnerschaft oder einer Therapie. Die außergewöhnlich intensive und differenzierte Auseinandersetzung mit Ursachen und Konsequenzen der Borderline-Erkrankung ermöglicht einen ebenso intensiven wie differenzierten Zugang zur Thematik. Mich selbst hat das Buch durch seine klare und doch informative und emotionale Struktur in meiner Arbeit als Beraterin für Partner/-innen von Borderline-Persönlichkeiten sehr unterstützt. Die leider nur allzu präsente Misshandlung von Kindern braucht mehr als mediales Interesse. Nur durch konkretes Hinterfragen, das Differenzieren und Benennen der Probleme, können Lösungen im Sinn all jener Kinder gefunden werden, die abhängig sind von äußerer Hilfe, wenn deren Mütter und Väter nicht in der Lage sind, ihren Kindern ein geschütztes Werden und Sein zu ermöglichen. Dieses Buch bietet mehr als nur Möglichkeiten zur Bewältigung einer schwierigen Beziehung. Es sollte überall präsent sein, wo Kindern beigestanden oder geholfen werden soll.

URN urn:nbn:de:0114-qn082232

Manuela Rösel

Psychologische Beraterin, Berlin, Homepage: http://www.mr-coaching.de

E-Mail: info@mr-coaching.de

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