Erinnerung und Geschichte – Ein früher Bericht aus dem Frauen-KZ Moringen 1936/37

Rezension von Christa Schikorra

Gabriele Herz:

The Women’s Camp in Moringen.

A Memoir of Imprisonment in Germany 1936–1937.

New York, Oxford: Berghahn Books 2006.

200 Seiten, ISBN 978–1–84545–077–9, $ 45.00.

Abstract: Der Erinnerungsbericht von Gabriele Herz ist einerseits bedeutsam wegen der Beschreibung individuelle Erfahrungen und der Einnahme einer persönlichen Perspektive. Andererseits stellt er ein bedeutendes Dokument für die Geschichtsschreibung zu frühen Konzentrationslagern dar, und hier insbesondere zu den Verfolgungserfahrungen jüdischer Frauen im Deutschland der 30er Jahre. In der äußerst aufschlussreichen Einleitung der Historikerin Jane Caplan, die den Anstoß für die Herausgabe dieses einzigartigen Dokuments gab, wird die Komplexität des Erinnerungszeugnisses von Gabriele Herz aufgezeigt und gewürdigt.

Die Memoiren von Gabriele Herz umfassen einen kurzen Zeitraum und eine spezifische Erfahrung ihres Lebens. Sie befand sich als Gefangene in dem ersten nationalsozialistischen Konzentrationslager für Frauen im Werkhaus Moringen. Der Bericht schildert die Zeit ihrer Inhaftierung von September 1936 bis März 1937. Danach verlässt sie zusammen mit ihrer Familie Deutschland und findet über Umwege Zuflucht in den Vereinigten Staaten. Herz beginnt mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen unmittelbar nach ihrer Flucht aus Deutschland.

Vorwurf: Remigrantin

Gabriele Herz war zu einer Zeit in Moringen inhaftiert, als die nationalsozialistische Politik Jüdinnen und Juden in Deutschland aus dem Leben drängte. In der sich stetig verschärfenden Situation der Diskriminierung und Ausgrenzung der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts verließ schätzungsweise mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Deutschland. Gabriele Herz erkundete 1935/36 gemeinsam mit ihrem Mann Lebensmöglichkeiten für die Familie im Ausland. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus Italien und Palästina wurde Gabriele Herz verhaftet. Sie galt als Remigrantin, als unerwünschte Rückkehrerin. Remigranten wurden in eine so genannte Schulungshaft von bis zu sechs Monaten genommen; das bedeutete Einlieferung in ein Konzentrationslager. In der Zeit vor dem Novemberpogrom 1938 war für Jüdinnen und Juden in Deutschland die Einweisung in ein Konzentrationslager die Ausnahme. Gabriele Herz kam im Oktober 1936 in das Frauen-KZ Moringen, das sie nur verlassen konnte, wenn ihre Familie die entsprechenden Ausreisepapiere vorlegte.

Herz stammte aus einer bürgerlichen Wiener Familie, war verheiratet mit einem leitenden Redakteur des Ullstein Verlags in Berlin, Emil Herz. Zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung war sie 49 Jahre alt und Mutter von vier Kindern. In ihren Aufzeichnungen beschreibt Herz detailliert die Haft- und Lebensbedingungen in diesem frühen KZ. Im Mittelpunkt stehen Porträts von Mitgefangenen sowie die Beschreibungen der Situation im so genannten Judensaal. Von anfangs fünf jüdischen Gefangenen stieg ihre Anzahl auf 16 Frauen; die neu dazu Gekommenen waren ebenfalls als Remigrantinnen inhaftiert worden.

KZ Moringen

Die Situation in Moringen unterschied sich deutlich von den Zuständen in den Konzentrationslagern für Männer zu dieser Zeit wie auch von denen in den späteren Frauen-Konzentrationslagern Lichtenburg und Ravensbrück. Als ehemaliges Arbeitshaus des 19. Jahrhunderts stand Moringen auch weiter unter der Verwaltung des Arbeitshausdirektors. Damit steht dieses frühe KZ für einen Übergang in der Entwicklung totaler Institutionen. Während 1933 knapp hundert Frauen dort inhaftiert waren, war das Lager Anfang 1937 mit über 400 Gefangenen weit über seine Kapazität belegt. Es herrschte drangvolle Enge. „The mood in our Jews’ Hall is not just gloomy, it’s utterly desperate. No prospects for a better future. No path to freedom. The situation is made more difficult by the unbearable overcrowding. When I came here nearly four months ago, the space was barely sufficient for the five of us. Now there are sixteen women packed in here like sardines.“ (S. 140)

Ihre Haftzeit verbrachte Gabriele Herz zusammen mit Zeuginnen Jehovas, Kommunistinnen, Prostituierten und anderen Häftlingen. Doch sie nutzte die Gelegenheit dieser ungewohnten Umgebung und der außergewöhnlichen Begegnungen dort und studierte diese sehr genau.

Die Frauen trugen nicht die uniformierte Kleidung der KZ-Häftlinge. Es gibt keine Berichte über körperliche Gewalt und Misshandlungen, bedrohliche Strafen oder zermürbende Zwangsarbeit. Doch das karge Essen, die nur mäßig zu heizenden Räume und die extreme Monotonie machten den Gefangenen zu schaffen. Viele waren in Sorge um ihre Angehörigen, die oft ebenfalls in Lagern oder Gefängnissen inhaftiert waren. Durch die Isolation und Unsicherheit drohten viele Frauen den Mut zu verlieren. „With not the faintest ray of hope, with no motivation from within, with no faith in a brighter future, you trudge along, exhausted and resigned. Everything makes you sick […] We don’t want to think the same thoughts any longer, they keep slamming, dazed and confused, onto the same brick walls. The whole pointlessness and meaninglessness of the camp is disgusting. When will this misery finally end? Will we be buried alive here forever?“ (S. 151)

Interessant ist der Bericht von Gabriele Herz, weil er eine Innensicht auf die Häftlingsgesellschaft in Moringen in den Jahren 1936/37 bietet. Herz schildert nicht nur ihre eigenen Erfahrungen, sondern auch ihre Sicht auf die anderen inhaftierten Frauen. Auffällig ist, dass die anderen Gefangenen als Einzelpersonen beschrieben und charakterisiert werden und weniger als Gruppe erscheinen. Die Mehrheit der inhaftierten Frauen in Moringen waren Zeuginnen Jehovas und Kommunistinnen, außerdem in wesentlich kleinerer Anzahl Frauen, die wegen Verstößen gegen die Nürnberger Gesetze inhaftiert worden waren oder wegen „Heimtücke“; ebenso auch Prostituierte und als „Gewohnheitsverbrecherinnen“ bezeichnete Frauen, also Frauen, die normalerweise nicht ihrem bürgerlichen Milieu entsprachen.

Gerade die soziale Heterogenität der Gefangenen scheint Gabriele Herz angespornt zu haben, von einzelnen Personen, Debatten untereinander und Ereignissen zu berichten. Für die Kommunistinnen waren der Spanische Bürgerkrieg wie auch die beginnenden Schauprozesse in Moskau Gegenstand intensiver Diskussionen. „As a member of the ‚bourgeoisie‘, I do not seek out these discussions, nor am I called upon to participate in them. My relationships to my Communist companions are purely personal, not political in nature. I admire their decency, their courage, their steadfastness, and their intelligence, at least as far as this last attribute applies to purely human matters […]“ (S. 129 f.) Die Zeuginnen Jehovas werden in ihrem Glaubenseifer und in ihren Widerstandshandlungen dargestellt, als sie sich zum Beispiel weigerten, Kleidersammlungen des Winterhilfswerks zu sortieren. (Vgl. S. 110 f.)

Herz war dabei nicht nur eine unparteiische Beobachterin, mit Neugierde und Anteilnahme begegnete sie den Frauen, die ihr vielfach ihre Lebensgeschichte, ihre Sorgen und Nöte erzählten. So auch Anni, die wegen „Rassenschande“ in Moringen inhaftiert wurde. Sie war Jüdin, ihr Verlobter nicht. Unter dem Druck der gemeinsamen Verhaftung trennte sich ihr Verlobter von ihr, wurde entlassen und strengte dann einen Prozess wegen Meineids gegen Anni an. Gabriele Herz schildert Annis Sorge in wörtlicher Rede und kommentiert: „I tried to comfort the little one, but I could offer her little solace. I was outraged at this transformation of love into hatred, of loyalty into malevolence. How is it possible that a respectable German man can suddenly turn into a cad and a betrayer? Just because Hitler had commanded him […]“. (S. 89)

Die Memoiren zeigen ebenfalls, wie aktiv Gabriele Herz als gebildete Frau des deutsch-jüdischen Bürgertums auch bestimmte Tätigkeiten innerhalb des Moringer Lageralltags übernahm. So unterrichtete sie Mitgefangene in der englischen Sprache und gestaltete im Judensaal ein Fest zu Chanukka im Winter 1936. „Profoundly moved, feeling no longer like an individual but like the representative and spokeswoman for an entire community, I recited the ancient blessings an lit the first candle […] I was asked to tell the women about previous Hanukkah celebrations that we had observed at home in company of our children and our friends.“ (S. 116)

Erinnerung als historische Quelle

Die britische Historikerin Jane Caplan bietet den Leser/-innen in einem bemerkenswerten einleitenden Essay sowohl eine historische Analyse als auch eine umfassende Einordnung der Memoiren von Gabriele Herz. (Vgl. S. 1–45) Insbesondere durch ihre Bemühungen um Kontextualisierung der persönlichen Erinnerungen von Gabriele Herz kann Caplan auch das Interesse einer Leserschaft wecken, die nicht zur geschichtswissenschaftlichen Fachöffentlichkeit gehört. Caplan bewertet die Bedeutung des frühen Frauen-KZ Moringen im Zusammenhang mit dem sich entwickelnden System der Konzentrationslager. „[…] instead of the political detention camps being closed down as most of these original prisoners were released, Himmler’s take-over and his reorientation of priorities from political control to social and racial engineering ensured that the camps would continue to be filled with an ever-expanding circle of inmates. The older paths of nineteenth-century authoritarian social discipline and Nazi political detention now merged into immense new projects of coercive bio-politics and intensive labor exploitation.“ (S. 44)

Von herausragender Bedeutung sind diese Memoiren von Gabriele Herz als Bericht einer jüdischen Frau, die ihre Erfahrungen, aber insbesondere auch ihre Sicht auf ihre nichtjüdischen Mitgefangenen in den frühen Jahren der nationalsozialistischen Internierungslager schildert. In dieser Hinsicht handelt es sich um ein seltenes Dokument der Erinnerungsliteratur. Dass die niedergeschriebenen Memoiren nicht zu Lebzeiten von Gabriele Herz, sondern erst Jahrzehnte später (wieder-)entdeckt und veröffentlicht wurden, ist geleitet von dem Interesse der nachgeborenen Generation der Familie, die das Erlebte nicht dem Vergessen überlassen will. Herz selber hat ihre Erfahrung in Moringen nach dem Krieg als gering bewertet im Vergleich mit der Monstrosität der Verbrechen und Schicksale, für die „Auschwitz“ als Synonym steht.

Hoffentlich findet sich ein deutscher Verlag für die Übersetzung und Veröffentlichung dieses bemerkenswerten Buches.

URN urn:nbn:de:0114-qn081120

Dr. Christa Schikorra

Berlin

E-Mail: christa.schikorra@alumni.tu-berlin.de

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