Das Leben von Prostituierten

Rezension von Britta Voß

Margrit Brückner, Christa Oppenheimer:

Lebenssituation Prostitution.

Sicherheit, Gesundheit und soziale Hilfen.

Königstein: Helmer 2006.

360 Seiten, ISBN 978–3–89741–205–7, € 29,90.

Abstract: Gewalt und Prostitution – das gehört irgendwie zusammen. Margrit Brückner und Christa Oppenheimer erklären, wie. In einer empirischen Erhebung haben sie Prostituierte, Bordellbesitzer und Kontaktpersonen aus dem sozialen, rechtlichen und gesundheitspolitischen Bereich befragt. Anliegen der Studie war es, Zusammenhänge von Gewalt, finanzieller Abhängigkeit, Migration, Drogenkonsum und Prostitution sichtbar zu machen. Dabei gingen die Autorinnen äußerst offen an die Fragestellung heran, d. h. die Möglichkeit, selbstbestimmt als Prostituierte zu arbeiten, wurde durchaus mit einbezogen. Die Studie basiert zum einen auf quantitativen Interviews, in denen die Betroffen selbst ihren Lebensweg in, während und z. T. auch aus der Prostitution heraus beschreiben. Zum anderen werden die via Fragebögen eingeholten Daten zu Gewalterfahrung in der Kindheit und während der Arbeit, zum Sicherheitsempfinden etc. ausgewertet. Eine solide (methodische) Einführung in das Problemfeld aus neuer gesetzlicher Situation und fortschreitender Ausdifferenzierung des Sexmarktes machen das Buch zu einem guten Gradmesser der Veränderung in der sozialen Realität von Prostituierten.

Mit Einführung des Prostitutionsgesetzes 2002 gewann in Deutschland erstmals eine Auffassung offiziell überhand, in der die Prostitution als soziale Realität anerkannt, bevor sie sie als moralischer Schandfleck ausgemessen wird. Damit trug die Regierung den Forderungen diverser Selbsthilfe- oder Unterstützergruppen Rechnung, die Arbeitsbedingungen der gut 400 000 Prostituierten zu verbessern statt sie zu ignorieren. Das Verständnis der Prostitution als „bewusste Lebensstrategie“ (S. 17), wie Margrit Brückner und Christa Oppenheimer es formulieren, hat sich hingegen kaum durchgesetzt. Zu sehr ist die titelgebende „Lebenssituation Prostitution“ verbunden mit der Problematik Menschenhandel. Zu sehr gemahnt die Etymologie der Prostitution an Gewalt, Unterdrückung, Zwang. Der Anspruch der beiden Autorinnen liegt nun darin, die bisherige Deutungshoheit der Außenstehenden zu brechen und vielmehr das (Gewalt-)Selbstverständnis der Frauen selbst zu erfragen. Dafür haben Brückner und Oppenheimer sowohl quantitative als auch qualitative Befragungen unter Prostituierten durchgeführt. Ergänzt werden die Selbstaussagen durch Milieueindrücke, „Feldnotizen“, die die Autorinnen beim Revierrundgang mit Polizisten sammelten. Dazu sprachen sie auch mit zwei Bordellbetreibern, einem Zuhälter, lassen mehrere Beschäftigte aus dem Sozial-, Gesundheits- und Rechtsbereich zu Wort kommen.

Daten aus der gesellschaftlichen Grauzone

In einem ersten Teil klären die Autorinnen die soziale Einbettung der Prostitution, deren Erscheinungsformen und Ausmaß. So muss eine zunehmende Unübersichtlichkeit des sexuellen Marktes konstatiert werden bei gleichzeitiger Polarisierung: Während auf der einen Seite das Angebot der Privatclub- und Wohnungsprostitution wächst und prostitutionsverwandte Gebiete wie Telefonsex etc. immer weiter um sich greifen, verschärft sich auf der anderen Seite die Kluft zwischen Edel- und Billigprostitution, die mit „geringen Profiten, hohen Freierzahlen, starker Konkurrenz und zunehmendem Druck zu immer extremeren Praktiken“ (S. 14) arbeitet (vornehmlich Migrantinnen). Für ihre Studie unterscheiden die Autorinnen grundsätzlich zwischen professioneller deutscher Prostitution, Migrationsprostitution und Beschaffungsprostitution (hier arbeiten größtenteils Drogenabhängige). Bei den Befragungen, so räumen die Autorinnen ein, war nicht immer eine Repräsentativität für die „Grundgesamtheit aller Prostituierten“ (S. 24) zu erreichen. Viele Kontakte zu den Frauen wurden über Hilfeeinrichtungen geknüpft, d. h. „problemfreie“ Prostituierte wurden weniger erreicht. Auch zeigten sich anscheinend eher Frauen bereit, die schon länger als Prostituierte gearbeitet hatten oder bereits ausgestiegen waren (was wiederum eine eher negative Perspektive erklärt). Sprachliche Barrieren oder auch die Zugehörigkeit zur Edelprostitution verhinderten einen weiteren Gesprächskreis. Obwohl die Untersuchung mit insgesamt rund 80 befragten Prostituierten als nicht repräsentativ gewertet werden muss, sind die individuellen Aussagen in ihrer teilweise stereotypen Übereinstimmung aufschlussreich. Die Autorinnen selbst weisen auf die spärliche Datenlage zur Lebenssituation der Prostituierten hin, ein Umstand, bei dem nur selten durch (parteiliche) Studien diverser Selbsthilfegruppen, seltener durch wissenschaftliche Arbeiten Abhilfe geschaffen wird.

Der Weg in die Prostitution

Der zweite Teil der Arbeit besteht zum einen aus Milieueindrücken, zum anderen aus den sieben qualitativen Interviews mit den Prostituierten. Die Darstellung der Gespräche ist aufgeteilt in einführende Feldnotizen, das jeweilige Portrait und die Analyse. Zunächst erfährt man die Umstände des Treffens und wie die Autorin ihre Gesprächspartnerin wahrnimmt. So erfährt man von Frau Gera, dass sie „gepflegt, geschmackvoll und eher dezent“ gekleidet sei, niemand mithin annehmen würde, „dass sie als Prostituierte gearbeitet hat“ (S. 74). Mitunter entfahren den Autorinnen Beschreibungen, die die Beklemmung – etwa die „unwirkliche Atmosphäre“ eines Domina-Studios, in der sich „Wirklichkeiten [verschieben]“ (S.111) – verkitschen, statt der selbstredenden Sprache der Interviews zu vertrauen. „Zuwendung war bei uns Gewalt“ (S. 111), heißt es da etwa über die Kindheit von Frau Jung, Domina. „Nur noch von zu Hause weg“ (S.112) habe sie gewollt. Der Weg in die Prostitution sei „einfach so schleichend“ (S. 113) passiert. Dieses passive Hineinschlittern findet sich bei den meisten der portraitierten Frauen wieder. Zu den familiären „Ausnahme"situationen kommt meist der gute Freund, der schnell zum ersten Zuhälter wird. Einige der Frauen schaffen erst nach Jahren den Absprung in die seit 2002 gesetzlich begünstigte Prostituierten Ich-AG ohne Zuhälter.

Erstaunlicherweise bewerten genau diese Befragten das neue Gesetz als „nutzlos“ (S. 83), als eine Regelung, durch die sich entweder nichts verändert (mangelnde Information unter Prostituierten) oder aber einiges verschlechtert habe (Abschaffung der Gesundheitskontrollen). Der qualitativen Befragung der betroffenen Frauen stellen die Autorinnen die Auswertungen ihrer Fragebögen zur Seite. Dadurch werden die singulären Lebensberichte statistisch aufgefangen wie etwa durch den Nachweis der Langzeitwirkung von kindlicher Gewalterfahrung. Die Autorinnen verweisen zu Recht auf die Unhaltbarkeit der Vorstellung von einfachen Kausalbeziehungen zwischen einer gewaltvollen Jugend und Prostitution. Fazit aber auch dieser Erhebung ist, dass „Prostituierte im Vergleich zur Normalbevölkerung in ihrer Kindheit einem erhöhten Gewalterleben ausgesetzt waren“ (S. 215). 74% der hier Befragten hatten bis zu ihrem 16. Lebensjahr Gewalt erlebt, sei es als selbst erlittener Übergriff oder zwischen den erwachsenen Bezugspersonen. Ähnlich drastisch fallen die Zahlen zu sexuellen Gewalterlebnissen aus: 53% gaben an, in ihrer Kindheit mindesten zu sexuellen (Selbst-)Berührungen gezwungen worden zu sein. 83% aller Frauen verstehen sich selbst als traumatisiert. Während ihrer Arbeit haben 61% der Befragten Vergewaltigungen erlitten, 70% wurden körperlich angegriffen (vgl. S. 187). Brückner und Oppenheimer ergänzen diese zwar nicht neuen, doch schockierenden Ergebnisse mit Verweisen auf frühere Arbeiten, etwa den Aufsatz der Amerikaner Melissa Farley und Howard Barkin über „Prostitution, Violence and Posttraumatic Stress Disorder“ von 1998.

Prostitution im Wandel – ein Ausblick

Abschließend werden in einem dritten Teil Mitarbeiter/-innen aus dem Sozialbereich, der öffentlichen Ordnung oder dem Rechtswesen zitiert. Besonders hier zeigt sich die ideologische Aufladung des Themas, der „Interpretationsdruck“ (S. 318): Während manche Experten/-innen die Erklärung von Prostitution aus (kindlicher) Gewalterfahrung zurückweisen und die Selbstbestimmtheit der Frauen betonen, beharren andere auf dem durchgängig, wenn auch graduell abgestuften Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich die Frauen befänden. Das Fazit zur Lebenssituation der Prostituierten fällt heterogen aus: Zu verzeichnen sind tendenziell extremer werdende Prostitutionsformen (z. B. keine Verhütung), neue Formen der Vermarktung (Freierforen im Internet, legale Anzeigenwerbung), Dumpingpreise durch Beschaffungsprostitution, aber auch Prostitution von Migrantinnen bei gleichzeitig stagnierendem Markt. Im Hinblick auf die gesundheitliche Versorgung sowie die Gewalterfahrung konstatieren die Autorinnen einen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überproportional schlechten Stand bei den Prostituierten. Allerdings: „Schwer erklärliche und ängstigende Formen zwischenmenschlicher Verstrickung“ (S. 319), die in die Prostitution leiten, können auch in dieser Arbeit nicht vollends entschlüsselt werden. Das Verdienst des Buches aber ist es, die verwobenen Strukturen der Prostitution zum einen in Selbstzeugnissen, zum anderen durch wissenschaftliche Analyse zugänglich gemacht zu haben. Auch ist den Autorinnen anzurechnen, dass sie die dargestellte Parallelität von erzwungener, gewaltvoller, aber auch freiwilliger Prostitution nicht dem Zwang zur Vereindeutigung des wissenschaftlichen Ergebnisses opfern.

URN urn:nbn:de:0114-qn081196

Britta Voß

Ludwig-Maximilians-Universität München

E-Mail: voss.britta@gmx.net

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