Literaturgeschichte anders gelesen. Ina Schaberts Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts als Kosmos männlicher und weiblicher Stimmen

Rezension von Ingrid Hotz-Davies

Ina Schabert:

Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung.

Stuttgart: Kröner 2006.

497 Seiten, ISBN 978–3–520–39701–0, € 25,00.

Abstract: Ina Schaberts Abhandlung zur Britischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ist eine Literaturgeschichte der etwas anderen Art: die Literatur wird gesehen als ein Kosmos, der von männlichen und weiblichen Autoren bevölkert ist, die sich in einer ständigen Unterhaltung miteinander befinden, die mal freundlich, mal feindselig ausfallen mag, die aber als Unterhaltung die Literatur einer Epoche bestimmt. Schabert zeichnet eine detaillierte und faszinierende Abfolge dieser Interaktionen, die vom klassischen Modernismus über verschiedene politische ‚Realismen‘ zur postmodernen Welt der Diversifizierung der Ethnien und Geschlechteroptionen führt.

Mit ihrer Englischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts legt Ina Schabert die Fortsetzung ihres Buchs von 1997 vor, das sich der Zeit von 1550 bis 1900 widmete. Die innovative Leistung liegt bei beiden Werken in der Fragestellung, die es erlaubt, alte Bekannte und häufig Vernachlässigte in neue Zusammenhänge einzubetten als ‚Spieler‘ in einer Literaturgeschichte „aus der Sicht der Geschlechterforschung“.

Schabert begreift die Literaturgeschichte als Vielstimmigkeit von Texten weiblicher und männlicher Autoren, also weder als die leider immer noch beliebte Abfolge von Männern, die scheinbar immer nur untereinander verkehren, noch als Frauentradition, die monologisch nur durch ihre Mütter inspiriert ist. Vielmehr sieht Schabert „die Gesamtheit der Literatur als das literarische Schaffen von Männern und Frauen, die in einem Dialogverhältnis zueinander stehen, sei es in einem sich gegenseitig ergänzenden Gespräch, in einer streitbaren Auseinandersetzung oder auch (relativ häufig) in der Sonderform des ‚monologischen Dialogs‘, der das jeweils andere Geschlecht nur als Wunsch- oder Angstbild zur Sprache kommen lässt“ (S. 5).

Dass dieser Band für eine Darstellung von 100 Jahren so viel Platz braucht wie der erste für 350 Jahre, zeigt die schwierige Beschaffenheit des Terrains, denn im langen historischen Rückblick erscheint die Fülle des Materials stark ‚flurbereinigt‘, während man sich im 20. Jahrhundert im noch nicht verfestigten, promisken Nebeneinander und Übereinander der Beiträge befindet. Um hier einen Referenzrahmen zu schaffen, hält sich Schabert zunächst an eine etablierte Periodisierung, die das 20./21. Jahrhundert unterteilt in die Phasen der klassischen Moderne (1900–1930), die Zeit der engagierten Literatur sozialistischer, konservativer, oder feministischer Provenienz (1930–1970) und der Postmoderne mit ihren ethnischen Vervielfältigungen des Schreibens. Diese Großkategorien werden dann mit den jeweils vorhandenen Kulturen des zwischengeschlechtlichen literarischen Gesprächs (oder dessen Verweigerung) gefüllt. Aufs Ganze gesehen ergibt sich so eine grobe Linie, die sich von einer gewissen Experimentierfreudigkeit des Geschlechterdiskurses in der klassischen Moderne zu dessen zwischenzeitlichem Verschwinden in der sozial engagierten Literatur nach 1930 und von dort über die feministisch und geschlechterantagonistisch geprägten 1970er Jahre zu den geschlechtsdekonstruierenden Modellen der Postmoderne durchzieht.

Alte Bekannte, Neu Hinzugekommene und die Versuchung zum Viellesen

Joyce, so Schabert, habe zur Schilderung eines einzigen Tages einen dicken Roman gebraucht. Wie soll da ein Jahrhundert auf knapp 500 Seiten Platz haben? Und wie diese 500 Seiten hier? Mit Schaberts Literaturgeschichte ist es, als genieße man eine extrem konzentrierte Substanz, einen Text, der seine Ideen und Einsichten derartig verdichtet hat, dass kein Gramm Überschüssiges daran ist. Es wäre vermessen, diese hochprozentige und berauschende Mixtur noch weiter herunterdestillieren zu wollen. Aber am Beispiel der Moderne lassen sich die Detailstrukturen gut zeigen. Die klassische Moderne bietet einen ausgezeichneten Nährboden für neue Allianzen zwischen Männern und Frauen und zwischen Menschen diesseits und jenseits der heterosexuellen ‚Norm‘ in den Subkulturen des Bloomsburykreises und der anglo-amerikanischen Pariser Exilkultur der Rive Gauche. Hier finden sich neue Einbindungen von Frauen und Männern im Literaturprozess von den Anfängen der universitären Ausbildung (erstmalig auch für Frauen) bis zur gemeinsamen Arbeit in (und an) Verlagen, Publikationskonzepten, Literaturzeitschriften und spezialisierten Buchhandlungen. Um diese kulturellen Pole herum, die sich auf das Wagnis einer Vervielfältigung der Differenzen einlassen, werden nun die diversen modernistischen Bemühungen um die Ausweitung bzw. Zementierung von Geschlechterdifferenzen ausgebreitet, die von den ‚alternativen Weiblichkeiten‘ von Dorothy Richardson und Virginia Woolf oder den ironischen Interventionen von Dichterinnen wie Mina Loy und Edith Sitwell über die Diskussion um das ‚dritte Geschlecht‘ zu den aggressiven Abschottungen gegen das ‚Weibliche‘ etwa bei Wyndham Lewis, T. S. Eliot oder Ezra Pound reichen. Als besonders dialogfreundlich erweisen sich die Texte, die der Entwicklung komplexer Bewusstseinsinhalte und -vorgänge männlicher, weiblicher oder geschlechtsdiffuser ‚Innenwelten‘, gewidmet sind: Henry James, Dorothy Richardson, James Joyce, Virginia Woolf. Sehr dankbar kann man sein, dass Schabert unter dem Begriff der „foot-off-the-ground novel“ einen Ort gefunden hat, an dem ansonsten schwer zuzuordnende und daher in herkömmlichen Literaturgeschichten gerne übersehene, aber in der Kohärenz der Anliegen und Verfahren doch zusammengehörige Texte untergebracht werden können. Es sind dies Romane z. B. von Elisabeth von Arnim, Stevie Smith oder Sylvia Townsend Warner, die eine systematische Verweigerung der symbolischen und sozialen Ordnung betreiben, indem sie versuchen, mit spielerischen Mitteln des In-der-Schwebe-Bleibens, des strategischen Nicht-Wissens, Nicht-Bemerkens, des Denkens „by the left hand“ die Berührung mit dieser Ordnung zu minimieren, Texte, deren Heldinnen und manchmal auch Helden „nicht so recht begriffen haben, was Frausein [bzw. Mannsein] in der Gesellschaft bedeutet“ (S. 154) und die sich deshalb mit einem lässigen Schulterzucken daran machen, mit der ‚Norm‘, ja: dem Heiligsten Scherz zu treiben.

Literaturgeschichte als interaktives Leseerlebnis

Es gibt gelegentlich auch Leerstellen, die sich aus der gewählten Vorannahme des Dialogs zwischen den Geschlechtern ergeben mögen, denn diese legt in gewisser Weise fest, dass dort, wo kein Dialog stattfindet, wo also eine Seite an der anderen kein Interesse zu zeigen scheint, ‚nichts‘ stattfindet. Während daher immer wieder der Versuch gemacht wird, nicht-heterosexuelle Modelle mit einzubeziehen, so sind diese doch vergleichsweise randständig und eher bruchstückhaft ausgefüllt. Woolfs Orlando als einzige Alternative zu Halls Well of Loneliness und zu den Aporien des ‚dritten Geschlechts‘ aufzuführen, verkürzt zumindest die Perspektive und lässt Beiträge wie etwa Warners Summer Will Show (1936) und Mr Fortune’s Maggot (1927) oder Mary Renaults Œuvre, besonders The Friendly Young Ladies (1944) oder The Charioteer (1955),nicht zu Wort kommen. Männliche „foot-off-the-grounders“ scheint es nicht zu geben, obwohl sich hier die großen camp-Künstler wie Ronald Firbank, Max Beerbohm oder E. F. Benson hätten zuordnen lassen. Es ist anzunehmen, dass verschiedene Leser und Leserinnen verschiedene Lieblinge vermissen werden, versucht sein werden, enttäuscht auszurufen: die hätte aber drin sein sollen! bei dem ist alles ganz anders! Doch es ist gerade das Verdienst dieser Literaturgeschichte, dass sie ein ausgeklügeltes Raster zu Verfügung stellt, in dem man auch diejenigen verorten kann, die der Komplexitätsreduktion zum Opfer gefallen sein mögen.

Als Leseerlebnis ist diese Literaturgeschichte mehr als ein Vergnügen für Eingeweihte. Es ist ein Buch, das interessierte Menschen ansprechen möchte, jene Kreaturen also, die in angelsächsischen Ländern als common readers einen gewissen Respekt genießen. Das Buch versteht sich daher als „Reiseführer“ (S. XI), als Wegweiser und Appetitmacher in einer vor Sehenswürdigkeiten strotzenden literarischen Landschaft, aber auch als Einladung zum Verweilen, zum Vorbeifahren, zur Sonderexpedition. Roland Barthes spricht – und er hätte dabei wohl nie an Literaturgeschichten gedacht! – von Texten, die ‚leserlich‘/‚lesbar‘ (lisible) oder ‚schreiberlich‘/‚schreibbar‘ (scriptible) seien. Bei ersteren kann der Lesende sich vergleichsweise passiv darauf verlassen, dass alles wie erwartet ‚an seinem Ort‘ sein wird. Bei letzteren sind die Leser/-innen aufgefordert, selbst an einem prinzipiell offenen Text ‚mitzuschreiben‘, sich daran zu freuen, wenn die Dinge nicht ‚an ihrem Ort‘ sind. Entgegen der gängigen Praxis literaturwissenschaftlicher Arbeiten, die versuchen, möglichst wenig Raum für die Unwägbarkeiten des Lesens zu lassen, ist Schaberts Literaturgeschichte ein in hohem Maße ‚skriptibler‘ Text, der einerseits immer wieder dazu auffordert, das hochprozentige Kondensat durch Verlangsamung wieder zu ‚verdünnen‘, und der uns andererseits Raum lässt zum Weiterdenken, Andersdenken. Der größte Spaß beim Lesen sind die überraschenden Querverbindungen: Was, z. B., hat die „foot-off-the-ground novel“ mit den gender-bending-Performanzen einer Brigid Brophy gemein? Wäre Sylvia Plath als Dichterin in einem hier männlich gesehenen poetischen Programm der virilen Energetik zu denken? Als ‚skriptibler‘ Text lädt dieses Buch zum interaktiven Lesen ein: man will mitreden, sicher manchmal auch widersprechen; das Lesen gestaltet sich mal als halluzinatorische Reise durch ein Spiegelkabinett, mal als elektrisierende Entladung interaktiver Reibung, mal als Arbeit an einem Puzzle, das man vielleicht versucht hat, anders zusammenzustecken, um dann reumütig wieder zu der Gestalt zurückzukommen, die Schabert angelegt hat. Es müsste also möglich sein, dieses Buch immer wieder und immer wieder anders zu lesen. Sollte man mich das nächste Mal fragen, was ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, wäre die Antwort schnell gegeben: Schabert, Band I und II – und alles, was sie gelesen hat. Es müsste also eine größere Insel sein.

URN urn:nbn:de:0114-qn081063

Prof. Dr. Ingrid Hotz-Davies

Universität Tübingen

E-Mail: ingrid.hotz-davies@uni-tuebingen.de

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