Tanz der Diskurse

Rezension von Dagmar Heimbach

Julia Bertschik, Christa Agnes Tuczay (Hg.):

Poetische Wiedergänger.

Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart.

Tübingen: Francke Verlag 2005.

343 Seiten, ISBN 3–7720–8080–4, € 58,00

Abstract: Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart enthält insgesamt dreizehn Beiträge. Diese nähern sich dem Phänomen des Vampirismus, wie es sich auf der Basis „historischer, ethnologischer, medizinischer, kriminologischer, populärer oder literarischer Quellen“ in Texten und Medien niedergeschlagen hat, mit dem Ziel, „interdisziplinär, quellen- und genderorientiert“ (S.7) neue Perspektiven zu eröffnen.

Entwicklungsphasen des Vampirismus: Historisches

Clemens Ruthner überblickt im ersten Beitrag die „Literatur und Geschichte des Vampirismus, Ursprünge im deutschen Raum“. Die Entwicklungsstufen, die das Phänomen des Vampirismus seit seiner Entstehung durchlaufen hat bzw. in denen es kulturell adaptiert wurde, unterteilt er in eine mythisch-folklorische, eine wissenschaftlich-publizistische, eine literarische bzw. filmische, schließlich eine populärkulturelle Phase.

Wenngleich es „blutsaugende dämonische Wesen“ in Mythologie und Folklore (S. 17) schon seit der Antike gegeben hat, nimmt die Gestalt des „Vampirs“ erst Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisbar Präsenz an, und zwar auf dem Balkan, wo sie als Erklärung für zahlreiche, unerklärliche Todesfälle dient. Wie es dazu kommen konnte, wird in „Historische Hintergründe: Der Aufstieg der Vampire im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts“ von Gábor Klaniczay untersucht. Die aufkommenden Vampirskandale lenkten die Aufmerksamkeit im Habsburgerreich von den ohnehin bereits angezweifelten Fällen von Hexenverfolgung ab. Die „volkstümliche Vorstellungswelt der Magie“ (S. 108) kanalisierte sich nun im Glauben an den Vampir, der, so Klaniczay, insofern „mehr Raum für viel spektakulärere Phantasien als die herkömmlichen Hexenbeschuldigungen“ (S.109) ließ, als Beweise in Form von lebendig wirkenden Leichen herangezogen werden konnten.

En Detail entschlüsselt der Beitrag Peter Mario Kreuters diese mysteriösen Todesfälle bzw. deren unterschiedliche Dokumentation: Was 1725 als Kurzrapport begann, wurde 1756 zur umfassenden Studie. In den dazwischen liegenden Jahren entbrannte eine lebhafte wissenschaftliche Debatte bezüglich des Vampirismus, in die zudem die zeitgenössischen Diskussionen über das „Wesen des biologischen Todes“ (S. 21) mit einflossen. In der „wissenschaftlich-publizistischen Phase“ steht weniger die Demontage des „Vampirs“ im Vordergrund; vielmehr wurde in Zeiten der Aufklärung noch einmal versucht, „die Naturwissenschaften in ein rest-transzendentes Weltbild zu integrieren“ (S. 22).

Literarisches

Um 1800 betrat die Gestalt des Vampirs die Bühne des Literarischen. England und Deutschland beeinflussten sich gegenseitig: Bürgers Ballade „Lenore“ wurde von Scott ins Englische übersetzt, Coleridge schrieb „Christabel“, Goethe die „Braut von Korinth“. Schließlich kam es zu jenem berühmten Treffen in der Villa Lord Byrons am Genfer See, das Mary Shelleys Frankenstein und die erste bekannt gewordene Vampirerzählung („The Vampire“ von William Polidori) zur Folge hatte.

Zwar stellt Ruthner einleitend fest, dass der Vampir in der englischen, französischen oder russischen Literatur weitaus heimischer als in der deutschen geworden sei. Nichtsdestoweniger sei er auch im deutschen Motivrepertoire verwurzelt. Dies wird auch aus dem Aufsatz von Christa A. Tuczay (S. 61–82) nachvollziehbar, der Wiedergängern, Blutsaugern und Dracula in den Texten des Mittelalters gewidmet ist. Zudem entstammt „Mein liebes Mägdchen glaubet“ von 1748, das „erste bekannt gewordene Vampirgedicht der Literaturgeschichte“ (S. 22) der Feder des deutschen Schriftstellers Heinrich August Ossenfelder.

Marco Freschkowski gibt zu bedenken, dass die „interkulturelle Vergleichbarkeit von Motiven“ angesichts der motivgeschichtlichen Streubreite problematisch sei, und verweist dabei auch auf das antike und das chinesische Vampirmotiv. Er betont, dass der Vampir kein „Menschheitsglaube“ sei, sondern ein Stück „slavischer […] Folklore, das sozusagen ‚Karriere‘ gemacht hat“ (S. 59) und das es von kulturgeschichtlicher Warte aus dort zu untersuchen gilt, wo es eben entstanden ist. Kann der vorliegende Band die „variablen Bausteine des Motivfeldes Vampirismus“ herausarbeiten?

Blutleere Objekte in Reproduktion

Mit der intertextuellen Vernetzung des Vampirmotivs in E.T.A. Hoffmanns „Vampirismus“-Geschichte beschäftigt sich Silke Arnold-de Simine. Sie nimmt nicht nur Bezug auf Schubert, Tieck, Kleist und Polidori, sondern auch auf den wissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts, der „die weibliche Reproduktion als zutiefst ambivalent und vom Tode gezeichnet porträtiert“ (S. 145): Diese ist an die Existenz als lebender Leichnam und die sexuelle Initiation gebunden. Dabei tritt das physiologische Moment, wie Arnold-de Simine hervorhebt, vor das psychische als das eigentlich menschliche. Mechanische körperliche Abläufe werden dominant, wenn Puppen und Automaten oder Vampire als unheimliche Sympathisanten menschlicher Spiegelbilder durch die Texte wandeln. Aber auch der Schriftsteller trägt vampirische Züge, er „erscheint als Vampir, der sich seine Unsterblichkeit auf Kosten anderer […] verschafft, die er im Zuge dieses Projektes verschlingt […], um sie seinem Kunstobjekt zuzuführen“ (S.140). Er ähnelt damit jener Gestalt des Vampirs, die sich im 19. Jahrhundert zum Spender ewigen Lebens wandelt, indem sie ihre Opfer ebenfalls zu Vampiren macht.

Böse auf der Bühne

Karin Lichtblau betrachtet die Figur des Vampirs auf der deutschen Bühne. Sie bringt die 1828 uraufgeführte Oper Heinrich Marschners Der Vampyr in Erinnerung und stellt sie als motivverwandt mit dem Fliegenden Holländer dar. Marschners Vampyr „markiert den Übergang vom Radikal-Bösen zur leidend-erlösungsbedürftigen und ambivalenten Gestalt“ (S. 161).

Wenn Vampire weiblich werden

Auf der Schwelle zur Moderne tauchte in der Literatur der Frauentyp der Femme fatale auf. Diese verhängnisvolle dämonisch-erotische Projektionsfläche männlicher Sehnsüchte erhält gerade im Bannkreis des Vampirischen besondere Bedeutung. Hans Richard Brittnacher erklärt den Rollentausch zwischen männlichem Vampir und weiblichem Opfer mit dem Verlust männlichen Selbstbewusstseins im Fin de siècle. Weibliche Vampire in der Literatur wandeln sich nun in Metaphern bedrohter männlicher Potenz. Diese basieren auf einer Angst vor der unersättlichen Frau, die man(n) nicht befriedigen kann, sowie dem Geschlechterkampf und einem „Wechsel des erotischen Trägerkonzepts“ (S. 168).

Auch Ingrid Cella betrachtet die Femme fatale anhand ausgewählter Textbeispiele von 1900 bis 1980. Sie geht der Frage nach, ob die (vampirische) Femme fatale einen archetypischen, universalen Charakter habe, der womöglich von einer prinzipiellen Angst der Männer in allen patriarchalen Systemen zeugt (S. 190). Allerdings kommt sie später zu dem Schluss, dass die Schriftsteller um 1900 die Femme fatale „höchst bewusst“ (S. 194) konstruierten und spielerisch inszenierten.

Auch Autorinnen greifen auf die vampirische Femme fatale zurück, jedoch nur in der Unterhaltungsliteratur. Über die Gründe dieser „Übernahme“ darf man spekulieren. Cella meint, dass man „bei Frauen wohl keine entsprechenden Sexualwünsche oder -ängste im Zusammenhang mit der Femme fatale voraussetzen kann, viel eher würden sich solche Sehnsuchtsängste in Variationen der Don Juan-Gestalt oder des männlichen Vampirs manifestieren“ (S. 193). Nun, wir wissen es nicht.

Entartungsdiskurse und Stokers Roman

Welchen Stellenwert Dracula (erstmals 1897 erschienen) im Kontext moderner Entartungskurse einnimmt, untersucht Michaela Wünsch. Sie stellt unter anderem Parallelen „zwischen zeitgenössischen Auffassungen von einer allgemeinen Degeneration der Bevölkerung“ und den Figuren in Dracula her, die von „körperlichem oder geistigem Verfall bedroht sind“. Insbesondere zieht sie dabei Max Nordaus Schrift Entartung hinzu, die zwei Jahre vor Dracula in englischer Übersetzung erschien. Dabei zeigt sie (mögliche) Spuren von Diskursen auf, die „einem zeitgenössischen Antisemitismus zugeordnet werden können“ (S. 226), beispielsweise „die Angst der Vermischung von eigenem und fremdem Blut“ bzw. „Blutschande“, die sich in der Szene widerspiegelt, als Dracula „nicht nur Minas Blut trinkt, sondern sie zwingt, auch sein eigenes zu sich zu nehmen“ (S. 229).

Zwischenkriegszeit: Kollektivsymbol Vampir

Julia Bertschik schreibt im Folgenden über „Diskursformen vampirischer Ökonomie in der Zwischenkriegszeit“. Sie wendet sich der verstärkt auftretenden, phantastischen bzw. vampirthematischen Literatur nach dem Ersten Weltkrieg zu. Im Hinblick auf Hans Henny Jahnns Niederschrift des Gustav Anias Horn geht sie der Frage nach, inwiefern dessen vampireskes Motivtableau Anteil an der Vernetzung zeitgeschichtlicher wie literarischer Diskurse hat (vgl. S. 233). Gibt es das interdiskursive „Kollektivsymbol ‚Vampir‘“ (S. 234)? Für ihre Untersuchung bezieht sich Bertschik ebenfalls auf den von Zeitgenossen persiflierten literarischen Bestseller Vampir von Hanns Heinz Ewers. Auch die in Journalismus oder Kriminalistik verwendete Vampirmetaphorik lässt sie dabei nicht außer Acht, die etwa den Massenmörder Peter Kürten als „modernen Vampir’“ (S. 241) unsterblich gemacht hat. Sie stellt fest, dass das Vampirsymbol zu einer „Freisetzung archaischer Kraft in einer als krisenhaft und instabil erfahrenen (Nachkriegs-)Moderne“ (S. 256) tendiert. Schließlich finde es sich in den visuellen Medien wieder – im Kino.

Transsylvanisch-trivial

Einen Blick auf den „filmischen Stil Dracula“ (S. 247) – etwa bei Roman Polanski – wirft Michael Schmidt in seiner Betrachtung über die vampirische Postmoderne. Er kennzeichnet diesen als „Überzeichnung“ bzw. „Persiflage“ dessen, was ursprünglich den Charakter der Romanvorlage oder auch Murnaus Film bedingte. In bei H.C. Artmanns „DRAKULA DRAKULA“ sieht er einen Beleg für die Verwurzelung des Vampirs in der Postmoderne, die mit einer Faszination an der Trivialmythologie einhergeht.

Im folgenden Beitrag wird die Vampirfigur des Computerspiels „Legacy of Cain“ betrachtet. Damit gehen Stefan Pattis und Rainer Sigl über den eigentlichen Gegenstandsbereich des Buches, das deutschsprachige Diskursphänomen des Vampirismus, hinaus. Angesichts der ungebrochenen Popularität des Vampirmotivs und der Beliebtheit des Computerspiels, das als komplexer, erzählender Text Teil der Popkultur ist, birge die spielerische Interaktion mit dem Vampir eine andersartige Identifikation in sich. Die Faszination des Computerspiels liege unter anderem in der Fortführung des „titanenhaften“ Vampirtypus der Romantik. „Die Figur des Vampirs dient […] der modellhaften Schilderung des allgemein Menschlichen […]“ (S. 282).

Vampir? Ein Bisschen –

Der abschließende Beitrag des Kriminalbiologen Mark Benecke bringt eine unerwartete Wende: Denn „Vampire gibt es“ (S. 285) in den jugendlichen Subkulturen. Während sie sich in Metropolen wie New York in Covens, Clubs und Clans organisieren, sind sie hierzulande im Gothic Bereich unterwegs. Nicht allein um den roten Lebenssaft dreht es sich bei ihnen. Zu den Vampiren zählt auch, wer anderen Energie absaugt – nach Art des Vampirs. Was einen solchen „schwarzen“ Vampir unter anderem auszeichnet, ist eine „Selbsterkenntnis, die viele andere Menschen nicht erreichen“, meint Bennecke (S. 288). „Diejenigen Vampire, die zur Gothic-Community zählen, denken also oft allein, dafür aber viel und vernünftig über sich nach. Poesie und Weltschmerz dürfen bei ihren Betrachtungen natürlich nicht fehlen. Doch das macht die Sache nicht weniger wahr“ (S. 289). Ein ‚Interview‘ mit einem weiblichen Vampir „unter den Schwarzen“, einer Person aus der „Gruppe am Rand des Randes“ (S. 291), komplettiert Beneckes Ausführungen.

Man darf auf weitere Wiedergänger wohl gespannt sein. Viele Facetten des Vampirismus begegnen uns in vorliegendem Sammelband, dem ein weiterer Beitrag zur Vampirfigur im Film keineswegs geschadet hätte. Die Zusammenstellung der Aufsätze berücksichtigt Intertextualität auf den unterschiedlichen Diskursebenen. Und ist dabei fast wiedergängerisch, denn irgendwie wundert man sich doch über das sich metonymisch einschleichende Gefühl des Unheimlich-Romantischen, wenn es heißt, „Vampire gibt es“.

URN urn:nbn:de:0114-qn073146

Dagmar Heimbach

Nürnberg

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