Anfangen, sich die Welt anders vorzustellen

Rezension von Sabine Fuchs

Margaret Sönser Breen, Warren J. Blumenfeld (Hg.):

Butler Matters.

Judith Butler’s Impact on Feminist and Queer Studies.

Aldershot: Ashgate 2005.

222 Seiten, ISBN 0754638855, $ 89,95

Abstract: Der Sammelband Butler Matters bezeugt Judith Butlers außerordentliche Bedeutung für feministische und queere Studien und Forschung. In elf Beiträgen wird Butlers (frühes) Werk von Gender Trouble und Bodies That Matter über Excitable Speech bis zu The Psychic Life of Power betrachtet und sein weit reichender Einfluss quer durch die wissenschaftlichen Disziplinen nachgewiesen. Dargestellt werden auch die kontroverse Rezeption von Butlers Werk sowie die politischen Wirkungen von Butlers Denken. Besonders anregend ist ein zweiteiliges Interview mit Judith Butler, in dem sie auf ein breites Spektrum von Fragen eingeht, die auch wichtige Themen ihrer aktuelleren Werke betreffen.

Butlers Bedeutung

„Butler Matters"! Diese Botschaft – hier in einem Wortspiel verpackt – dürfte mittlerweile angekommen sein. Judith Butlers weit reichender Einfluss insbesondere auf feministische und queere Studien, auf den der Untertitel des Sammelbandes verweist, dürfte unbestritten sein, ihn zum zentralen Thema einer Anthologie zu machen ist das Verdienst der Herausgeberin und des Herausgebers von Butler Matters, der Literaturwissenschaftlerin Margaret Sönser Breen und dem Erziehungswissenschaftler Warren J. Blumenfeld.

Die Beiträge zu ihrer Aufsatzsammlung umfassen ein beeindruckend weites interdisziplinäres Feld, das Anthropologie, Archäologie, Chicana Studies, Cultural Studies, Erziehungswissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie einschließt. Zu bedauern ist, dass Beiträge aus Natur- und Technikwissenschaften in Butler Matters nicht vertreten sind.

Butler Matters ist 2005 mit einiger zeitlicher Verzögerung erschienen. Ein Großteil der Beiträge wurde bereits 2001 in einer Sonderausgabe von The International Journal of Sexuality and Gender Studies (vol. 6, nos. 1–2, April 2001) veröffentlicht. Dementsprechend behandeln die Beiträge ausschließlich die frühen Hauptwerke Butlers von Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (1990, 1999), Bodies That Matter: On the Discursive Limits of ‚Sex‘ (1993), Excitable Speech: A Politics of the Performative (1997a) bis The Psychic Life of Power: Theories in Subjection (1997b).

Noch nicht in die Aufsätze einbezogen sind Antigone’s Claim (2000), Precarious Life (2004) und Undoing Gender (2004).

Verkörperte Theorie

Themen jener neueren Werke von Butler werden jedoch in einem den elf Aufsätzen des Sammelbandes vorangestellten, äußerst lesenswerten Interview aufgegriffen. An diesem 2000 begonnenen und 2003 fortgesetzten Interview mit Judith Butler waren neben den Herausgeber/-innen auch Susanne Baer, Robert Alan Brookey, Lynda Hall, Vicki Kirby, Robert Shail und Natalie Wilson als Interviewer/-innen beteiligt.

In ihren ausführlichen Antworten positioniert sich Butler zu „neo“-essentialistischen und (auto-) biografischen Ansätzen in feministischer Forschung und lesbisch/schwulem/transgender-Aktivismus. In einer längeren Auseinandersetzung mit Vicki Kirby beschäftigt sie sich mit der Frage, ob es möglich ist, „Natur“ jenseits von „Naturalisierung“ zu denken. Zum Thema Transsexualität gibt Butler eine äußerst differenzierte und verständige Einschätzung der damit verbundenen Problematiken.

Unter dem Stichwort „Politisierung von Abjektion“ thematisiert sie die höchst problematische Normalisierung von Körpern und dem, was als „menschlich“ zählt. In diesem Zusammenhang spricht Butler auch die Gewalt an, die intersexuellen Menschen in von Gender-Normen und –Idealen bestimmten westlichen Systemen angetan wird. Außerdem verweist sie auf die Bedeutung von künstlerischem Widerstand gegen normalisierende Tendenzen, die sich beispielsweise im Human Genome Project finden lassen.

Weitere Themen des Interviews sind das politische Klima in den USA nach dem 11. September 2001; Butch-Identitäten und „Klasse“; körperliche Behinderungen; Anti-Diskriminierungsgesetze, gleichgeschlechtliche Ehe und deren Unterstützung von Langzeit-monogamen Lebensweisen auf Kosten von Mehrfachbeziehungen und anderen nicht-traditionellen Lebensweisen; die Notwendigkeit kritischer Heterosexualitätsforschung und die didaktische Vermittlung „schwieriger“ Theorien.

Dieses Interview macht Lust auf mehr und weckt Erwartungen, die das Gros der nachfolgenden Aufsätze jedoch leider nicht erfüllen kann, beziehen sich die Aufsätze doch, wie bereits erwähnt, lediglich auf die frühen Hauptwerke Butlers.

Verteidigungen

Mehrere Beiträge in Butler Matters widmen sich der Verteidigung von Butlers Ansatz gegen die 1999 veröffentlichte unverständige Polemik Martha Nussbaums, betitelt „The Professor of Parody“, die hier als Paradebeispiel für jene erhitzte Kritik an Butler genommen wird, die ihr Werk als unpolitisch und antifeministisch auslegt. Für die deutschsprachige Rezeption wären sicher andere Namen als der Nussbaums zu nennen, die Missverständnisse in den Debatten ähneln einander jedoch, wie z. B. die Unterstellung einer Entpolitisierung des Feminismus durch Entzug der autonomen Handlungsfähigkeit des Subjekts, die Kritik am missverstandenen Konzept der Performativität als angeblich freiem Spiel des Voluntarismus und die Ausblendung oder Unterbewertung der zentralen Bedeutsamkeit queerer Thematiken in Butlers Theorie.

Dagegen schreibt z. B. Frederick S. Roden in „Becoming Butlerian“ an: „The community implications of her theory are real“ (S. 34). Es gibt einen Konsens der ansonsten durchaus kontroversen Beiträge, für die Verteidigung des politischen Charakters von Butlers Werk einzutreten und sowohl den Einfluss von Butlers Theorien auf zeitgenössische Gender-, Sexualitäts- und Körper-Politiken als auch umgekehrt Butlers Beeinflussung durch aktuelle historische Ereignisse und relevante soziale Bewegungen hervorzuheben, die diese Politiken in ihrem Sinne umzugestalten trachten.

Edwina Barvosa-Carter spricht im Hinblick auf die extremen Reaktionen auf Butlers Arbeit gar von einer ‚Reaktion des Abscheus‘ einerseits und dem freudig abgenommenem Versprechen einer radikalen feministischen Praxis andererseits. Ihr gelingt sowohl eine Analyse der Abwehr gegen Butlers Konzepte als auch deren positiver Potentiale sowie ein Ausblick auf zukünftige feministische Handlungsmöglichkeiten im Rückgriff auf Butlers Theorie. Auch in dem Beitrag von Robert Alan Brookey und Diane Helene Miller wird Nussbaums Angriff als kurzsichtig und kontraproduktiv zurückgewiesen, um sich für die politische Nützlichkeit poststrukturalistischer Ansätze beim Kampf für die Rechte sexuell minorisierter Gruppen auszusprechen.

Kritik an Butlers Theorie wird aber auch in einem Teil der hier vertretenen Beiträge vorgenommen. So beschäftigen sich Vicki Kirby und Kirsten Campbell mit angeblichen Ausschlüssen in Butlers Denken. Bei Kirby wäre dies Materie oder Natur als das ‚Außen‘ der Sprache in Bodies That Matter und bei Campbell, in einer psychoanalytischen Lektüre von The Psychic Life of Power, das Unbewusste. Auch wenn man sich diesen Kritiken nicht anschließen möchte, sind sie doch argumentativ interessant bzw. liefern brauchbare Zusammenfassungen von Teilen von Butlers Werk.

Butler als theoretische Linse

Angela Failler führt auf der Grundlage von Butlers Konzept der Resignifikation eine amüsant zu lesende queere Relektüre und mögliche Umschrift von Sprüchen der Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Mae West vor, die für ihre sexuell zweideutigen Wortspielereien und die Inszenierung einer offensiv selbstbewussten Femininität bekannt ist.

Margaret Sönser Breen bringt in ihrem eigenen Beitrag Kafkas Die Verwandlung und Radclyffe Halls The Well of Loneliness und Bram Stokers The Man in Verbindung mit Sacher-Masochs Venus im Pelz und Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis. Butlers Gender Trouble bildet den Hintergrund für ihre spannende Lektüre dieser Texte, die ihren Kreuzungspunkt in der Verhandlung von sexuellen und Gender-Transgressionen um 1900 findet.

Eine weitere überzeugende Butler-Anwendung liefert Belinda Johnston, die zwei Formen der Gender-Konstruktion im England der Renaissance analysiert: zum einen das performative Modell von Geschlecht, wie es im Theater der Renaissance vorherrschte, und zum anderen das naturalisierende Modell von Geschlecht, das durch die Hexenverfolgungen forciert wurde. Im Rückgriff auf Butlers theoretische Ansätze hinterfragt Johnston Laqueurs Ein-Geschlecht-Modell.

Mena Mitrano stellt originelle Überlegungen zu Butlers philosophischen Wurzeln im Denkraum des „alten Europas“ an: Sie kontrastiert moderne Modelle der Subjektkonstitution in europäischen Denktraditionen (Kafka, Freud, Foucault, Kristeva) mit solchen Subjektentwürfen in der Malerei (Mirò, de Kooning) und Bildern in der Literatur des 20. Jahrhunderts, die den Atlantik überquerten und in denen die „europäischen Fesseln der Angst, Unterwerfung und Immobilität“ in der „neuen Welt“ zugunsten einer neu gewonnenen Beweglichkeit der Ideen abgestreift werden konnten. Mitrano versteht Butlers Denken als eben diesem Weg folgend, was sie anhand von Butlers Melancholie-Konzept nachzuweisen sucht.

Leidenschaft fürs Denken

Die große Bedeutsamkeit und Nützlichkeit von Butlers Werk wird zwar durchgehend von den Beiträger/-innen des Bandes konstatiert, doch gelingt es dem Sammelband nicht wirklich, jene Leidenschaft fürs Denken und jenes Engagement für zahlreiche politische Belange der Gegenwart zu vermitteln, die sich in Butlers Werk selbst immer wieder auf eine Weise zeigen, die eine Großzahl ihrer Leserinnen und Leser zu begeistern und zu ermutigen vermag.

Im Interview angesprochen auf ihren theoretisch und sprachlich schwierigen Schreibstil und das Problem der Vermittlung von kritischen Theorien in der Lehre oder an eine nicht-akademische Leser/-innenschaft antwortet Butler: „I think it is important that critical teaching and critical writing not only seek to be communicable, and reach people where they live, but also pose a challenge, and offer a chance for readers to become something different from what they already are. […] In fact, I think intellectuals are under a double obligation to both speak to people where they live, in the language in which understanding is possible, but also to give them the critical point of departure by which they might risk a certain destabilization of that familiar language, become exposed to the new, and begin to imagine the world otherwise.“ (S. 24 f.)

Dieser Schlusssatz des Interviews enthält einen Leitsatz für Butlers Bemühungen, radikale Perspektiven einzunehmen, aus denen heraus die Welt auch anders vorstellbar wird. Dieser richtungsweisenden Bedeutung von Butlers Theorien für Konstitution und Re-Strukturierung von feministischen und queeren Studien werden die einzelnen Beiträge des Bandes aufgrund ihres meist eher exemplarischen Charakters nicht immer gerecht. Als ausgesprochen vielstimmige Ergänzung zu den mittlerweile sowohl im englischen als auch im deutschen Sprachraum erschienenen Einführungen in Butlers Werk von einzelnen Autorinnen hat Butler Matters jedoch durchaus seinen Platz.

URN urn:nbn:de:0114-qn073070

Sabine Fuchs

Hamburg

E-Mail: sabine-fuchs@gmx.net

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