Annemarie Schwarzenbach neu gelesen

Rezension von Nina Gülcher

Walter Fähnders, Sabine Rohlf (Hg.):

Annemarie Schwarzenbach.

Analysen und Erstdrucke. Mit einer Schwarzenbach-Bibliographie.

Bielefeld: Aisthesis 2005.

349 Seiten, ISBN 3–89528–452–1, € 24,80

Abstract: Der von Walter Fähnders und Sabine Rohlf herausgegebene Band ist ein anregender und für die zukünftige Forschung richtungsweisender Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk Annemarie Schwarzenbachs. Die einzelnen Beiträge eröffnen Perspektiven aus literaturgeschichtlicher, kulturwissenschaftlicher und gendertheoretischer Sicht, die weit über die bisher dominante biographische Lesart der Texte Schwarzenbachs hinausgehen. Der Band umfasst darüber hinaus die erstmalige Edition einer Reihe von Erzählungen, Briefen und Fotografien sowie eine umfangreiche Bibliographie des Werks und der Forschung zu Annemarie Schwarzenbach.

Neue Perspektiven auf eine wiederentdeckte Autorin

Das Werk der Schweizer Schriftstellerin, Reisereporterin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) ist seit Ende der 1980er Jahren zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden, ihre literarischen Texte wurden neu aufgelegt bzw. erstmals publiziert und ihr Nachlass teilweise ediert. Mit dem von ihnen herausgegebenen Band haben sich Walter Fähnders und Sabine Rohlf zum Ziel gesetzt, diesen Prozess der Wiederentdeckung der zur „Ikone unangepasster Weiblichkeit“ (S. 13) gewordenen Autorin weiter voranzutreiben, ihm aber gleichzeitig eine neue Richtung zu geben: War die Forschung zu Annemarie Schwarzenbach bisher v. a. biographisch orientiert, sei es nun an der Zeit, ihr Werk in literaturhistorische, kulturwissenschaftliche und gendertheoretische Zusammenhänge einzuordnen.

Diesem Anliegen wird in den zehn Einzelbeiträgen des Bandes in unterschiedlicher Weise Rechnung getragen. Dabei greifen die jeweiligen Autorinnen und Autoren auf eine große Bandbreite von Material zurück: Nicht nur die Romane und Erzählungen Schwarzenbachs, auch ihre Reiseberichte, feuilletonistischen und literaturwissenschaftlichen Texte, ihre (z. T. noch unveröffentlichten) Briefe und Fotografien werden zum Gegenstand der Analysen.

Der Band ist sich gleichzeitig als Beitrag zur Verbesserung der noch immer mangelhaften editorischen Aufarbeitung des Werks von Schwarzenbach konzipiert. Im Anhang werden erstmalig die drei Texte „Paris III“, „Yelinda“ und „Das Namenlose“ abgedruckt, außerdem finden sich hier die erste Publikation der Briefe Schwarzenbachs an ihren akademischen Lehrer Carl Jacob Burckhardt und ihre Korrespondenz mit der Journalistin Margret Boveri (beide editiert, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Andreas Tobler). Darüber hinaus wurden eine Reihe von bisher z. T. unveröffentlichten Abbildungen und Fotografien aufgenommen. Einen wichtigen Fortschritt in der Beschäftigung mit dem Werk Schwarzenbachs markieren zudem die über 400 Einträge umfassende Bibliographie der Schriften Annemarie Schwarzenbachs sowie die Bibliographie der bisherigen Forschung am Ende des Bandes.

Kulturhistorisch orientierte Erklärungsansätze für den Mutter-Tochter-Konflikt

Alexis Schwarzenbach nimmt in seinem Aufsatz das vieldiskutierte Verhältnis zwischen Annemarie Schwarzenbach und ihrer Mutter Renée Schwarzenbach-Wille in den Blick. Im Rückgriff auf neues Quellenmaterial kritisiert er u. a. sowohl die in der Forschung dominanten „politisch-klassenspezifischen Erklärungsversuche[]“ (S. 37) für den Mutter-Tochter-Konflikt als auch solche Erklärungsmuster, die die Gründe für die Auseinandersetzungen in der Ablehnung von Annemaries Homosexualität durch ihre Familie sehen. Vielmehr spielten die „unterschiedlichen Selbsteinschätzungen in Sachen Homosexualität“ (S. 42) von Mutter und Tochter – geprägt durch die in ihrer Jugend jeweils spezifischen Konzepte von Homosexualität – eine entscheidende Rolle. Der Autor nimmt Bezug auf die sich wandelnden gesellschaftlichen Wahrnehmungen weiblicher Sexualität, verweist aber letztlich auf ein psychologisches Erklärungsmuster, wenn er „den unvollendet gebliebene[n] Abnabelungsprozess“ (S. 43) für die Konflikte zwischen Mutter und Tochter verantwortlich macht.

Queere Lektüren und literarhistorische Einbettung

Innovative Perspektiven auf die literarischen Texte eröffnet Gesa Mayers Interpretation von Schwarzenbachs erstem Roman Freunde um Bernhard (1931). In Rekurs auf Judith Butler arbeitet sie Motive des Textes heraus, die auf zentrale Aspekte der heutigen Queer Theory verweisen: Nicht nur seien im Roman deutliche Zweifel am Konzept eines autonomen und kohärenten Subjekts auszumachen, vielmehr lasse sich der Text auch als Kritik an der binären (heterosexuellen) Geschlechterordnung lesen – so z. B. in der Darstellung lesbischen Begehrens und in der Figurengestaltung des Romans, in der häufig nicht nur eine eindeutige Zuweisung des Geschlechts ausbleibe, sondern auch die Kohärenz von Sex und Gender wiederholt in Frage gestellt werde. Sie unterzieht den Roman einer überzeugenden „queeren“ Lektüre, ohne Annemarie Schwarzenbach damit als „queere Autorin“ (S. 77) vereinnahmen zu wollen.

Auch Sabine Rohlf verweist auf die Besonderheiten der dargestellten nicht-heterosexuellen Begehrensmuster in Schwarzenbachs Texten. Konfrontiert mit einem Homosexualitätskonzept, in dem weibliche wie männliche Homosexualität als „Identitätskategorie“ entworfen und „je nach Standpunkt als naturgegeben oder krankhaft essentialisiert“ (S. 96) wurde, ließen sich die Figuren in Schwarzenbachs literarischen Texten gerade nicht auf eine „lesbische Identität“ festschreiben. In der Darstellung von Homosexualität greife der Roman Flucht nach oben (1999 ersch.) darüber hinaus auf die Strategie der Codierung zurück. In ihrer Analyse verschiebt Rohlf den Roman überzeugend „von einem biographischen in einen literaturhistorischen Lektürehorizont“ (S. 80). Den besonderen Status von Flucht nach oben führt sie auf die Heterogenität der intertextuellen Bezüge zurück, bei denen u. a. Motive aus dem Genre des Heimat- und Hotelromans auf „Bildwelten neusachlicher Modernität“ (S. 84) träfen.

An einer literaturgeschichtlichen Einbettung der Dichterauffassung Schwarzenbachs ist es Walter Fähnders gelegen. Er untersucht verschiedene Texte im Hinblick auf ihre Positionierung innerhalb heterogener Diskurse über Sprachkrise und Sprachkritik der Jahrhundertwende. Schwarzenbach verschreibe sich weder dem zeitgenössischen Sachlichkeits-Diskurs noch der „Seherpose“ (S. 50) ihres Vorbilds Stefan George, sondern folge einem bis zu ihren ersten Schreibversuchen zurück verfolgbaren Schreibverständnis, in dem das Unbewusste und Intuitive einen zentralen Stellenwert habe, das aber keineswegs in „antimodernen Irrationalismus“ (S. 52) münde.

Fremdheitserfahrung als Selbstreflexion in den Reiseberichten Schwarzenbachs

Auch Silvia Henkes Beitrag ist ein Versuch, das Werk Schwarzenbachs aus „der biographischen Klammer“ (S. 19) zu lösen – sie nimmt stattdessen eine auf ästhetische Aspekte konzentrierte Perspektive ein. Die Instabilität des insbesondere in den Reiseberichten Schwarzenbachs entworfenen Erzählsubjekts will Henke nicht auf die psychische Verfassung der Autorin zurückgeführt wissen, sondern schlägt vor, Schwarzenbachs Schreibweise als spezifische Form im Umgang mit Fremdheitserfahrung zu verstehen. In Henkes Deutung verweigern sich die Reisetexte der Tradition der europäischen Reiseliteratur, indem sie die Fremde gerade nicht mit Sinn aufladen – und das Erzählsubjekt in einen Zustand der Entfremdung gerät, der als Alteritätserfahrung gedeutet werden könne.

Die Reiseberichte stehen auch in den Beiträgen von Tina D’Agostini und Kerstin Schlieker im Vordergrund. D’Agostini analysiert das Schattenmotiv in Schwarzenbachs Texten als Metapher für eine Erkenntniskrise bzw. einen Utopieverlust und arbeitet aufschlussreiche intertextuelle Bezüge zu Adelbert von Chamissos Peter Schlehmils wundersame Geschichte (1913) heraus. Vor dem Hintergrund der anthropologischen Frauenreiseforschung argumentiert Schlieker, dass die ersten Asienreisen Schwarzenbachs weniger als durch ein ethnographisches Interesse motivierte Konfrontationen mit dem Fremden zu verstehen seien, sondern dass „das Reisen und Schreiben“ für Schwarzenbach vielmehr als „existenzielle Kategorie der Selbsterfahrung“ (S. 183) fungiere. Insbesondere ihre spezifische Erzählhaltung, ihr Schreibstil und die Art der Realitätserfassung zeigten „einen über die damalige Zeit hinausweisenden Umgang mit kultureller Fremdheit“ (S. 185). In diese Richtung argumentiert auch Gonçalo Vilas-Boas in seiner Untersuchung der Reisefeuilletons, die in den Jahren 1941–42 entstanden sind.

Den für die Reiseberichte Schwarzenbachs charakteristischen Schreibstil der „unmittelbare[n] Anschauung“ (S. 109) macht Helga Karrenbock auch in der Textsammlung Falkenkäfig aus, die sie als poetologische Selbstreflexion Annemarie Schwarzenbachs liest. Die Frage, warum Falkenkäfig zu Lebzeiten Schwarzenbachs keinen Verlag finden konnte, beantwortet Karrenbock mit einem Verweis auf die neuere Exilforschung: Zwar bedienten sich die Texte keiner „manifesten linken antifaschistischen Rhetorik“ (S. 111), doch liege ihre implizite politische Dimension in der „nomadischen“ (S. 112) Position der Erzählerin, die als Beispiel für „narrative Inszenierungen von Heimatlosigkeit und Exil“ gewertet werden könnte. (S. 111, Helga Karrenbrock zitiert hier nach Sabine Rohlf: Exil als Praxis – Heimatlosigkeit als Perspektive? Lektüre ausgewählter Exilromane von Frauen. München: text + kritik, 2002, S. 13)

Das Schlusslicht der Beiträge bildet Fosco Dubinis Reflexion der Transformation Schwarzenbachs von einer Ikone hin zu einer Kunstfigur anhand seines Berichtes über die Entstehung des von ihm produzierten Films über Annemarie Schwarzenbachs Reise nach Afghanistan im Jahre 1938/39, die sie zusammen mit Ella Maillart unternommen hat.

Fazit

Der vorliegende Band bereichert die Schwarzenbach-Forschung nicht nur durch eine Fülle von bisher unveröffentlichtem Material, sondern wirft auch ein neues Licht auf zentrale Motive wie das der Homosexualität und der Heimatlosigkeit. Bleibt zu wünschen, dass die innovativen Impulse der dokumentierten Beiträge in der zukünftigen literaturwissenschaftlichen und editorischen Erschließung des Werks von Annemarie Schwarzenbach noch weiter ausgebaut werden.

URN urn:nbn:de:0114-qn073103

Nina Gülcher

Freie Universität Berlin, Seminar für Deutsche und Niederländische Philologie

E-Mail: guelcher@zedat.fu-berlin.de

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