Die Soldatenmütter Sankt Petersburg

Rezension von Frauke Wetzel

Eva Maria Hinterhuber:

Die Soldatenmütter Sankt Petersburg.

Zwischen Neotraditionalismus und neuer Widerständigkeit.

Hamburg: LIT 1999.

160 Seiten, ISBN 3–8258–3932–X, DM 39,80

Abstract: Eine wachsende Zahl von Frauen in Rußland schafft es, gegen die tragende Rolle des Militärs zu rebellieren. Sie leisten Widerstand gegen die undemokratischen Streitkräfte, in denen Wehrdienstleistende mißhandelt und gefoltert werden. Eva Maria Hinterhuber, selbst für einige Zeit Mitarbeiterin der Soldatenmütter Sankt Petersburg, schreibt in ihrer nun veröffentlichten Diplomarbeit über eine Gruppe von Widerständigen, ihre Rolle im Transformationsprozeß und ihre Bedeutung für das Entstehen einer Zivilgesellschaft in Rußland.

Die Intention des Buches ist eine Darstellung der Arbeitsweise von Rußlands Soldatenmütterbewegung am Beispiel Sankt Petersburg im Kontext der russischen Gesellschaft. Die ‚widerständigen‘ Soldatenmütter Rußlands erhielten in der Vergangenheit zahlreiche internationale Anerkennungen und vermehrtes Interesse von Seiten westlicher Hilfsorganisationen (u. a. erhielt das ‚Moskauer Soldatenmütterkomitee‘, stellvertretend für alle anderen Organisationen, den alternativen Nobelpreis und den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung). Die Soldatenmütter werden dabei meist als einheitliche Bewegung wahrgenommen, obwohl sie sich gerade in bezug auf ihre Haltung gegenüber dem gesellschaftlich stark verankerten Militarismus voneinander unterscheiden. Gegen diesen wenden sich die Soldatenmütter Sankt Petersburg mit einem religiös begründeten Pazifismus und Antimilitarismus. Diese Einstellungen unterscheiden sie von einer Reihe von Soldatenmütterorganisationen in Rußland, was Eva Maria Hinterhuber zum Anlaß nahm, sich speziell mit ihnen zu beschäftigen.

Methodik und Aufbau der Arbeit

Eva Maria Hinterhuber greift vielfach auf ihre eigenen Beobachtungen während ihrer Tätigkeit als Praktikantin bei der Gruppe der Sankt Petersburger Soldatenmütter zurück. Sie verwendet Interviews mit Vertreterinnen der Soldatenmütter sowie Publikationen von und über die Gruppe, um deren Arbeit darzustellen und zu analysieren. Den Russischkenntnissen Eva Maria Hinterhubers verdankt es der Leser, daß auch die Betrachtung der Soldatenmütter in den russischen Medien einbezogen werden bzw. immer wieder Bezüge zur derzeitigen gesellschaftlichen Lage in Rußland hergestellt werden können. Zu der verwendeten Literatur gehören auch Artikel, die aus Angst vor Repressionen nicht veröffentlicht wurden. Eva Maria Hinterhuber greift darüber hinaus auf Veröffentlichungen von amnesty international und Berichte internationaler Organisationen wie z. B. der Europäischen Union zurück. Die Darstellung des eigentlichen Auslösers des Engagements der Soldatenmütter – die Lage in den russischen Streitkräften – nimmt einen großen Teil der Arbeit ein.

Der Begriff ‚Zivilgesellschaft‘ wird im hinteren Drittel des Buches dargestellt. Die Autorin stellt Bezüge zur Gesellschaft in Osteuropa und zum Aufbau von zivilgesellschaftlichen Gruppen in einer Transformationsgesellschaft her, die sich die Frage nach den Konzepten ganz neu stellen muß.

Die russische Armee – ein Staat im Staate

Die Soldatenmütter kämpfen nicht nur gegen die schwer zugänglichen Informationen über die Armee − selbst dem russischen Verteidigungsministerium werden Informationen über Menschenrechtsverletzungen vorenthalten −, sondern sie kämpfen auch gegen eine Gesellschaft, die überwiegend im Wehrdienst eine Form der männlichen Sozialisation sieht.

Die Menschenrechtsverletzungen in der russischen Armee reichen von Fußtritten bis hin zu Todesfällen. Viele junge Männer nehmen sich aufgrund der massiven physischen und psychischen Gewalt in der Armee das Leben. Zu den Formen von sogenannten Erziehungsmaßnahmen der jungen Wehrpflichtigen gehört die ‚Herrschaft der Großväter‘, die innermilitärische Hierarchien nach Dienstende aufbaut. Die Menschenrechtsverletzungen beginnen bereits bei der Rekrutierung, bei der nur offiziell das Recht auf Verweigerung besteht. Bisher kam es trotz verschiedener Anläufe auf Grund einer ablehnenden Mehrheit in der Staatsduma nicht zur Verabschiedung eines für die Umsetzung der jetzigen Bestimmungen notwendigen Gesetzes. Junge Männer gehen außerdem das Risiko einer Verhaftung ein, wenn sie aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigern. Um einen ungefähren Eindruck der menschenverachtenden Zustände in der russischen Armee zu bekommen, bedarf es lediglich der Lektüre des einprägsamen Briefes einer Mutter, der dem Buch vorangestellt ist. Er ist ein Beispiel dafür, wie die Soldatenmütter angesprochen werden und mit welcher Arbeit sie sich auseinandersetzen müssen.

Vorgehen der Soldatenmütter

Die Soldatenmütter wollen Hilfe zur Selbsthilfe geben. Der Schlüssel dazu liegt in den Familien, die über ihre Rechte aufgeklärt werden müssen. In der sogenannten ‚Schule der Menschenrechte‘ werden wöchentlich Leitsätze vermittelt wie z. B. „Vor dem Gesetz sind wir alle gleich“ oder „Wer seine Rechte kennt, ist stark“. Schließlich werden auch praktische Handlungsanweisungen für verzweifelte Angehörige gegeben.

Seit Beginn der beiden Kriege in Tschetschenien protestiert die Bürgerrechtsorganisation gegen die kämpferische Lösung dieses Konfliktes, und seit Januar 2000 ruft sie wöchentlich zum Demonstrieren auf den Straßen Sankt Petersburgs auf. Unter anderem richtet sich ihr Protest gegen die Praxis, auch Wehrdienstleistende innerhalb ihrer ersten sechs Monate im Krisengebiet einzusetzen.

Weltbild der russischen Gesellschaft und der Soldatenmütter

Um die Arbeitsweise der Soldatenmütter Sankt Petersburg zu verstehen, stellt die Autorin deren Weltbild dar, aus dem sich ihr Vorgehen begründet. Des weiteren wird das Weltbild der Soldatenmütter zu den Einstellungen der russischen Gesellschaft in Beziehung gesetzt. Hierbei ist das Geschlechterverhältnis bzw. die Stellung der Frau in der russischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Arbeitsweise der Soldatenmütter.

Mit einem Blick auf die Geschichte wird deutlich, inwiefern sich das Frauenbild im Wandel von der Sowjetunion zur Russischen Föderation verändert hat. Eva Maria Hinterhuber charakterisiert die Entwicklung des aktuellen Frauenbildes im postsozialistischen Rußland als neotraditionalistisch. Das in der sowjetischen Gesellschaft verbreitete Bild der Frau als Erwerbstätige und Mutter wurde im postsowjetischen Rußland durch das Bild der Hausfrau und Mutter abgelöst. Die Medien spielen bei dessen Verbreitung eine tragende Rolle. Frauen sind es auch, die im Rußland der 90er Jahre stärker von Arbeitslosigkeit bis hin zu Gewalttaten betroffen sind. Man kann sagen, daß ihre Stellung tatsächlich schlechter geworden ist. Eva Maria Hinterhuber sieht im neotraditionalistischem Weltbild der letzten Jahre eine Rückkehr zu traditionellen Sichtweisen.

Hinterhuber räumt dennoch mit dem Vorurteil auf, daß die Frauen in sozialistischen Systemen gleichberechtigt waren. Dieser Eindruck entsteht leicht, da Frauen als Verlierer der Transformation gelten (z .B. in bezug auf Arbeitslosigkeit). Vielmehr war es Männern und Frauen nur eingeschränkt möglich, an der Macht zu partizipieren. Sie wurden sozusagen gleichberechtigt ungerecht behandelt.

Durch die vergleichende Darstellung des russischen Weltbildes und das der Soldatenmütter Sankt Petersburg wird die Strategie der Organisation verdeutlicht. Die Soldatenmütter können das neotraditionalistische Weltbild nutzen, um ihre Ziele zu verwirklichen. Sie erreichen damit Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Die Soldatenmütter könnten sich ihrer systemkonformen Rolle der Heldenmutter des Soldatensohnes hingeben, aber sie leisten zivilen Ungehorsam, indem sie den ihnen zugewiesenen privaten Raum verlassen und massiv in der Öffentlichkeit für Pazifismus und Antimilitarismus eintreten.

Soldatenmütter als zivilgesellschaftliche Gruppe im Transformationsprozeß

Die Soldatenmütter Sankt Petersburg teilen die Abkehr von Gewalt und die Forderung nach Garantie der Menschenrechte mit anderen Gruppen. Durch diese Einstellung gehören sie zu denjenigen, die sich mit ihren Überzeugungen für öffentliche Bedürfnisse einsetzen, und können daher als zivilgesellschaftliche Gruppe betrachtet werden.

Die Soldatenmütter Sankt Petersburg haben durch ihre Aktivitäten die Entwicklung des Systemwechsels mit in Gang gebracht. Eva Maria Hinterhuber stellt die Wechselwirkung zwischen Transformationsprozessen und der Arbeit der Soldatenmütterorganisation dar. Die Organisation spielt auch heute noch eine wichtige Rolle im Demokratisierungsprozeß Rußlands und dadurch gleichzeitig auch für die Stabilisierung einer Zivilgesellschaft im Laufe des Transformationsprozesses in Rußland.

Abschließende Betrachtung

Eva Maria Hinterhuber bietet mit ihrer Veröffentlichung eine umfangreiche Darstellung der Bürgerrechtsbewegung der Soldatenmütter in ihrer Entstehung, Struktur und eine Beschreibung ihrer direkten Arbeit mit hilfesuchenden Angehörigen oder Wehrdienstleistenden selbst. Dabei versucht sie, die rechtliche Basis der Anstrengungen der Soldatenmütter aufzuzeigen. Rund ein Viertel der 160 Seiten umfassenden Arbeit befaßt sich direkt mit der Organisation. Im übrigen Teil stellt Eva Maria Hinterhuber den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und den Aktivitäten der Soldatenmütter dar.

Meiner Ansicht nach schafft es Eva Maria Hinterhuber, sich frei zu machen von der emotionalen Anziehungskraft der Soldatenmütter – trotz persönlicher Beziehungen zu ihnen. Sie liefert die erste deutschsprachige wissenschaftliche Arbeit über die Soldatenmütter Sankt Petersburg vor dem Hintergrund von Transformation, Aufbau einer Zivilgesellschaft und Geschlechterverhältnissen. Die Arbeit stellt in ihrer Begrifflichkeit einen hohen Anspruch. Doch jeder verwendete Begriff wird in seiner in der Arbeit verwendeten Form erläutert und bietet Stoff für eigenständige Arbeit im Hinblick auf die Soldatenmütterorganisation. Dahinter stehende Theorieansätze können freilich auf den 160 Seiten der Arbeit nicht in aller Ausführlichkeit besprochen werden . Die Fußnoten enthalten zahlreiche Verweise auf weiterführende Literatur, Organisationen, die sich mit Menschenrechten in Rußland beschäftigen, und auch ausführlichere geschichtliche Hinweise. Meiner Meinung nach bietet die Arbeit Eva Maria Hinterhubers eine Hilfe für das Verständnis der russischen Gesellschaft mit dem besonderen Augenmerk auf die Stellung der Frau.

URN urn:nbn:de:0114-qn021110

Frauke Wetzel

Frankfurt/Oder

E-Mail: FrauFrauke@yahoo.de

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