Stabilität und Frieden? Ehebeziehungen im Transformationsprozeß

Rezension von Martina Ritter

Dana Vannoy, Natalia Rimashevskaya, Lisa Cubbins, Marina Malysheva, Elena Meshterkina, and Marina Pisklakova:

Marriages in Russia. Couples During the Economic Transition.

Westport: Praeger Publishers 1999.

243 Seiten, ISBN 0–275–96147–8, $ 65.00

Abstract: In der sehr guten Studie, die auf der Kooperation von amerikanischen und russischen Forscherinnen beruht, werden die ehelichen Beziehungen im gegenwärtigen Rußland diskutiert. Nach einer kontextuellen Einbettung in eine historische Reflexion über die Entwicklung von Ehe und Familie in Rußland und der Sowjetunion und nach transformationstheoretischen Überlegungen werden Themen wie Geschlechterbilder, Arbeitsteilung, Ehe-Qualität und Gewalt mit Hilfe quantitativer Methoden analysiert.

Die sechs Autorinnen haben gemeinsam eine Studie vorgelegt, in der mit den Mitteln der quantitativen und qualitativen empirischen Sozialforschung die Lage und Selbsteinschätzungen von Ehepaaren im heutigen Rußland untersucht werden. Amerikanische Forscherinnen haben zusammen mit Kolleginnen in Moskau diese Untersuchung in einem längeren Prozeß geplant, durchgeführt und zuletzt den Text verfaßt. Es handelt sich – so läßt die vorgelegte Studie schließen – um ein gelungenes Kooperationsprojekt auf hohem Niveau. Der theoretische Rahmen der Untersuchung sind familiensoziologische und transformationstheoretische Überlegungen; als Methode wurden multivariante Analysen und biographische Interviews gewählt. Es wurden drei Samples aus einer Großstadt (Moskau) und zwei ländlichen Gebieten (das Gebiet um Saratov und um Pskov) aus Ehepaaren im Alter von 18 – 60 Jahren gebildet. Die Paare wurden getrennt befragt, die Population des primary sample besteht aus 1090 Personen aus Moskau, 159 aus dem Gebiet um Pskov und 175 aus dem Gebiet um Saratov, die des secundary sample besteht aus 746 Paaren aus Moskau, 123 Paaren aus der Gegend von Pskov und 125 Paaren aus der Gegend um Saratov.

Historischer Abriß und theoretische Überlegungen zur Familie

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die These, daß in einer Gesellschaft, die – wie Rußland – dramatische sozio-ökonomische Änderungen erfährt, zusammenbricht und extreme Verelendungstendenzen aufweist, Familie und Ehe für die Menschen zum Stabilisationsfaktor werden. Familie und Ehe scheinen vor diesem Hintergrund als die gesellschaftlichen Institutionen, die den Subjekten Kontinuität, Verläßlichkeit, die Erfahrung von Zufriedenheit und Stabilität geben können. Von Relevanz erscheint es daher den Autorinnen, in ihrer Studie die Struktur und die Selbsteinschätzungen der Eheerfahrungen von Russinnen und Russen zu erfragen. Die getesteten Variablen sind Gender-Einstellungen und -eigenschaften, die Arbeitsteilung und der Verlauf von Entscheidungsfindung in den Familien, die wahrgenommene Qualität der Ehe und Überlegungen zu bzw. Erfahrungen von Scheidung. Zuletzt werden die Häufigkeit und die Zusammenhänge verbalen und physischen Mißbrauchs in intimen Beziehungen analysiert. Die genannten Themenfelder sind als abhängige Variablen konstruiert. Der Aufbau des Buches ist klar und gut strukturiert, er folgt neben kontextueller Einbettung der Themen der Logik des Untersuchungsinstrumentes, die im jeweiligen Kapitel als abhängige Variable untersuchte Thematik wird im nächsten Kapitel als unabhängige Variable integriert und in die Berechnung mit einbezogen. Alter, Ausbildung und sozio-ökonomischer Status, Scheidungserfahrung bzw. Eheleben werden in den Korrelationen mit berücksichtigt. Der klare Aufbau ermöglicht, die Kapitel unabhängig, dem Interesse folgend zu lesen.

Die Studie wird zunächst von einem allgemeinen Kapitel über Ehe und Familie in Rußland eingeleitet. Ein kurzer Gang durch die Geschichte betont einerseits die grundlegend patriarchale Organisation der russischen Gesellschaft, vergißt allerdings auch nicht, die Schriftstellerin Alexandra Kollontai und ihre Kritik dieser Verhältnisse zu erwähnen. Die Sowjetunion und ihre paradoxe Gender-Politik, nämlich die Beteiligung der Frauen an der Erwerbsarbeit unter Beibehaltung biologistisch begründeter Genderdifferenz, werden reflektiert und als Faktoren ausgemacht, die die Lage heute noch mitbestimmen. Genauer betrachten wollen die Autorinnen die heutigen Gender-Verhältnisse und das Entwicklungspotential, das in der Familienorganisation liegen könnte. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß der historische Abriß kurz ist und nicht mehr als eine kontextschaffende Bemerkung darstellt. Wer mehr wissen will, muß zu ergänzender Lektüre greifen.

Die Familie heute: eine sozialstrukturelle Positionsbestimmung

In einem weiteren Kapitel wird die Lage der Familie in Rußland heute bearbeitet. Die soziostrukturellen Faktoren, die das Alltagsleben der in Familien lebenden Menschen bestimmen, werden hier der Reihe nach vorgestellt und diskutiert. Dabei nehmen die Autorinnen Bezug auf amerikanische wie auch auf sowjetische und russische familiensoziologische Literatur. Stichworte sind hier die Geburts- und Sterberate und die allgemeine Wohnsituation im heutigen Rußland. Bezüglich der untersuchten Population werden informative Tabellen angeboten, die über die Charakteristiken der Haushaltsorganisation sowie über die Wohnsituation, die Einkommen und die sozio-ökonomische Lage der Befragten Auskunft geben.

Die eigentliche Untersuchung wird in vier Kapiteln vorgestellt, die den oben erwähnten Themen entsprechen. Ein letztes Kapitel faßt die Ergebnisse zusammen und formuliert, ein wenig hoffnungsfroh anmutend, ein Entwicklungspotential, das, in den Familien quasi aufgehoben, der Gesellschaft zugute kommen könne, falls dieser durch gute Sozial- und Familienpolitik die Entfaltung des Potentials gelänge.

Ergebnisse: Das Haupt der Familie und gemeinsame Entscheidungsfindung

Nun noch zu den Ergebnissen der Studie, die natürlich nur beispielhaft hier vorgestellt werden können. Generell läßt sich sagen, daß patriarchale Normen und Familienorganisation auch bei jüngeren Paaren weiterhin dominant sind. Eindeutig ist der Zusammenhang zwischen traditionellen Geschlechtervorstellungen bei beiden Teilen des Paares und positiver Einschätzung der Ehequalität. Ehequalität wird in der Studie als Faktor für die Stabilität einer Ehe betrachtet. Bricht ein Teil aus der traditionellen Einschätzung aus, werden diese Ehen äußerst instabil und können dann nicht mehr helfen, die gesellschaftliche Instabilität auszubalancieren.

Interessant ist für uns, daß lebensrelevante Entscheidungen in den Ehen unabhängig von der allgemeinen patriarchalen Organisation der Familie von beiden Eheleuten getroffen werden. Die Frauen kontrollieren mehrheitlich die alltäglichen Finanzen, wichtige Entscheidungen, die die Familienmitglieder betreffen, werden gemeinsam getroffen. Gleichzeitig sind mehrheitlich beide Partner der Ansicht, der Ehemann solle das ‚Haupt‘ der Familie sein, die Familie repräsentieren und das Familieneinkommen erwirtschaften. Interessant ist, daß besonders Männer mit der höchsten und mit der niedrigsten Ausbildung sich vorstellen können, die Rolle des Ernährers mit der Ehefrau zu teilen.

Ergebnisse: Die Dynamik von Verpflichtung und Zuständigkeit

In den biographischen Interviews, die in jedem Kapitel beispielhaft zur Vorstellung und Interpretation von Ergebnissen herangezogen werden, wird ein besonderes Ehemodell sichtbar: Die befragten Männer äußern eine Art Auftrag, das Leben der Ehefrau leichter zu machen. Diese starke Verpflichtung hindert die Männer geradezu, die Möglichkeiten gleichwertiger Arbeitskraft von Frauen und Männern zur Kenntnis zu nehmen. Das Versagen bei dieser Aufgabe wird von den Männern als Funktionsverlust für Ehe und Familie erlebt. Dies korrespondiert nach Einschätzung der Autorinnen mit der besonderen Bedeutung, die Frauen ihrer Zuständigkeit für Familiengestaltung und Kinderbetreuung geben. Die Kinder und die Beziehungen scheinen ihnen zu ‚gehören‘, so daß in der Tat nicht ganz klar ist, welche Rolle die Ehemänner in der Familie denn spielen könnten – wenn die Ernährerfunktion nicht ausgeübt werden kann. Solche Reflexionen sind im Text einerseits gut mit Zahlen unterlegt und anregend. Andererseits hätte ich mir weitergehende Überlegungen und ausführlichere Interpretationen der Daten im Kontext des kulturellen Hintergrundes Rußlands gewünscht. Die biographischen Interviews sind in der quantitativ orientierten Studie nicht wirklich gut genutzt worden. Sie dienen – und das ist allerdings für eine solche quantitative Untersuchung ein seltener Fall – zur Anregung und sporadischen Interpretation der Dynamik von Geschlechterverhältnissen. Dies wie auch die Diskussion sozio-kultureller Faktoren zur Einbettung der Untersuchung ist sehr positiv.

Ergebnisse: heitere Frauen und starke Männer

Ein weiteres Ergebnis und das dazu verwendete Untersuchungsinstrument möchte ich hier noch diskutieren. Es handelt sich um die Sensitivitäts- bzw. Instrumentalitätsskalen, mit denen Charakterzüge (als Selbsteinschätzungen) und ihr Zusammenhang mit Bildung, Einkommen und Qualität der Ehe gemessen werden. In der Skala ‚Sensitivität‘ werden Charaktermerkmale oder Eigenschaften wie heiter, mitfühlend, verständnisvoll, zärtlich, warm, gefühlvoll und sensibel abgefragt, der Skala ‚Instrumentalität‘ werden Eigenschaften wie unabhängig, stark, aggressiv, stark, führend, entscheidungsfähig, risikobereit, dominant und selbstvertrauend zugeordnet. (Über den genauen Messungsvorgang wie auch die Ergebnisse gibt ein Appendix Aufschluß.) Interessant für die Autorinnen selbst ist der negative Zusammenhang zwischen Sensitivität und Ausbildung bei Männern: je geringer die Bildung desto höher die Sensitivität, je höher die Bildung desto höher die Instrumentalität. Irrelevant ist hier der tatsächliche ökonomische Erfolg. Zunehmende Bildung löst bei Männern traditionelle Geschlechtereinschätzungen und traditionell männliche Selbstzuschreibungen nicht ab.

Allerdings müßten zur Erklärung und kulturellen Einbettung dieses Ergebnisses sowohl die soziale Kultur der Sowjetunion als auch die Auswirkungen und Anforderungen des Transformationsprozesses stärker herangezogen werden, als dies die Autorinnen selbst tun. In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein paar kritische Bemerkungen zu der sehr informativen Untersuchung machen.

Familie sichert Stabilität? Kritische Reflexion eines anthropologischen Modells

Der Bezugspunkt ‚Familie‘ als Stabilitätsfaktor in einer zerbrechenden und krisenhaften Gesellschaft und als Wegmarkierung auf der Zivilisationsachse in Richtung ‚Demokratie‘ scheint mir zu unkritisch mit der Gestaltung des Familienlebens in demokratischen Gesellschaften umzugehen. Zu wenig wird in der Untersuchung die für demokratische Gesellschaften konstitutive Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit und die Zuordnung der Geschlechter zu den jeweiligen Sphären reflektiert – die traditionellen Gender-Konzepte halten viele westliche Feministinnen auch für ein Produkt moderner Gesellschaften, nicht nur für ein Überbleibsel aus dem ‚dunklen‘ Mittelalter. Auf Rußland und das patriarchale Erbe der Sowjetunion haben die Autorinnen einen durchaus informierten und überzeugenden Blick, der sicher nicht zuletzt der Beteiligung guter russischer Wissenschaftlerinnen geschuldet ist. Auf die eigene Gesellschaft, die die Ausgangsfolie der Untersuchung abgibt, haben die amerikanischen Forscherinnen einen – wie mir scheint – zu positiven Blick, der sie verführt, auf eine Weiterentwicklung emanzipierter Eheverhältnisse im Rahmen der vorhandenen Ehekonzeption zu hoffen. Diese entwickelten, gleichberechtigten Eheverhältnisse sollen dann helfen, die zerbrechende Gesellschaft zu stabilisieren und in Richtung Demokratie zu entwickeln. Historisch haben wir aber eher die Erfahrung gemacht, daß sich in Krisensituationen private Beziehungen gerade nicht zum Vorteil der Frauen entwickeln; ebenso hat die Entstehung demokratischer und kapitalistischer Gesellschaften ja gerade eine Privatisierung bestimmter Lebensbereiche erzeugt, die dann den Frauen zugeordnet werden. Einen ähnlichen Privatisierungsprozeß sehen wir heute in Rußland mit ähnlichen Folgen. Das patriarchale System der Sowjetunion verbindet sich glänzend mit dem patriarchalen Regime der marktwirtschaftlich organisierten Demokratie. Diese mangelnde Kritik an der Konzeption der Institutionen Ehe und Familie basiert vermutlich auf einer Art anthropologischer Setzung: Familie wird als die grundlegende Einheit in menschlichen Gesellschaften verstanden. Nun gibt es aber durchaus Gesellschaften, die zwar Verwandtschaft kennen, die diese aber nicht in Familien organisieren, schon gar nicht in kleinen Zwei-Generationen-Familien nach dem Muster ‚Vater-Mutter-Kind‘. Zwar ist auch die russische wie schon die sowjetische Gesellschaft in Kleinfamilien organisiert, aber dies scheint mir eher erklärungsbedürftig und sollte mehr Teil einer Reflexion über die Verfaßtheit einer Gesellschaft sein als die anthropologisierte Voraussetzung ihrer Entwicklungsfähigkeit.

Trotz dieser Kritik halte ich das hier vorgelegte Buch für überaus lesenswert, da es relevante Themen des Geschlechterverhältnisses systematisch und hochdifferenziert betrachtet. Nützlich ist dieses Buch auch aus kultursoziologischer Sicht: Die manchmal so überzeugend wirkenden, aber holzschnittartigen Bilder von der Macht der russischen Mütter in den Familien, den patriarchalen Männern, die nicht Teil der Familie sind, und andere (im besten soziologischen Sinne) analytischen Konstrukte können mit Hilfe dieser Daten entweder klarer und schärfer konturiert oder gar als Phantasieprodukt abgelegt werden.

URN urn:nbn:de:0114-qn021103

Martina Ritter

Institut für Soziologie, Justus-Liebig-Universität Gießen

E-Mail: Martina.Ritter@sowi.uni-giessen.de

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