Aufforderung zum Kampf. Geschlechterkonstruktionen und Antisemitismus zum Tanzen bringen!

Rezension von Iris Homann und Astrid Homann

A.G.Gender-Killer (Hg.):

Antisemitismus und Geschlecht.

Von ‚maskulinisierten Jüdinnen‘, ‚effeminierten Juden‘ und anderen Geschlechterbildern.

Münster: Unrast 2005.

281 Seiten, ISBN 3–89771–439–6, € 18,00

Abstract: Der Band Antisemitismus und Geschlecht der Gruppe A.G.Gender-Killer versammelt Untersuchungen über die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in antisemitischen Diskursen seit dem 19. Jahrhundert. Ihnen gemeinsam ist die These einer konstitutiven Verknüpfung von Antisemitismus und Geschlechterkonstruktionen. Von der Notwendigkeit eines antifaschistischen gesellschaftlichen Engagements ausgehend, versuchen die Beiträger/-innen einen Brückenschlag zwischen Universität und Politik, Theorie und Praxis. Ihre Ergebnisse belegen die Abrufbarkeit und damit auch die Wirkungsmacht antisemitischer Sexualphantasien und Geschlechterbilder bis heute.

Die Kategorien Sexualität und Gender nehmen bis heute weder in gesellschaftskritischen Zusammenhängen noch in der Forschung einen selbstverständlichen Platz bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus ein. Sie werden bisher weitgehend nur von marginalisierten Positionen aus bearbeitet. Im Vergleich zum englischsprachigen Raum wird im deutschen wissenschaftlichen Kontext die Bedeutung von Genderkonstruktionen in antisemitischen Diskursen in historischen Forschungen sowie in diskursanalytischen Debatten über Antisemitismus eher vernachlässigt.

In ersten feministischen Analysen des Nationalsozialismus wurden Frauen in Übereinstimmung mit dem Ansatz der Geschlechterdifferenz und den daraus folgenden Identitätspolitiken als Opfer der patriarchalen nationalsozialistischen Gesellschaft dargestellt. Vereinzelte Kritik von deutsch-jüdischen Feministinnen an diesen Analysen musste so untergehen. Im Verlauf der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre wurden vermehrt auch Frauen als (Mit-)Täterinnen während des Nationalsozialismus betrachtet, der Blick also auf das (soziale) Geschlecht der antisemitischen Subjekte gelenkt. Eine weitere, ebenfalls mehrheitlich außerhalb Deutschlands geführte Debatte beschäftigte sich mit Genderkonstruktionen und -beziehungen innerhalb des Judentums.

Die Gruppe A.G.Gender-Killer widmet nun mit ihrem Sammelband Antisemitismus und Geschlecht ihre Aufmerksamkeit dem Zusammenhang von Genderkonstruktionen und Antisemitismus.

Die Herausgeber/-innen des Bandes vertreten die These, dass Antisemitismus und Geschlechterbilder nicht nur zufällig eng miteinander verknüpft sind, sondern dass das reibungslose Funktionieren antisemitischer Ressentiments erst durch die Zuhilfenahme von Geschlechterkonstruktionen und -konnotationen gewährleistet wird. Als das ‚Andere‘ wird ihnen zufolge jeweils dasjenige konstruiert, was hegemonialen Vorstellungen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ vorgeblich nicht entspricht.

Sowohl die Herausgeber/-innen als auch die Autor/-innen sehen dementsprechend ihre Aufgabe darin zu zeigen, „dass Antisemitismus auch in seiner Verschränkung mit Geschlechterkonstruktionen verstanden werden muss“ (S. 7). Die Interrelationen und -dependenzen werden in den einzelnen Artikeln genauer in den Blick genommen.

Die Praxis in die Theorie tragen

Eine Besonderheit des Bandes ist die gelungene Kooperation gesellschaftspolitisch Interessierter und Aktiver sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universität. Viele der hier versammelten Beiträge wurden im Zuge eines von den Herausgeber/-innen im Oktober 2004 in Berlin veranstalteten Kongresses zu „Antisemitismus und Geschlecht“ zusammengestellt. Das Interesse der Herausgeber/-innen ist es, der gesellschaftlich notwendigen Arbeit gegen Antisemitismus neue Impulse durch eine theoretische Fundierung zu geben; im Gegenzug fordern sie eine Praxisorientierung akademischer Diskurse.

Die Praxisorientierung offenbart sich jedoch nicht nur in der Zusammensetzung der Beitragenden, sondern auch in der Umsetzung selbst. Vielen der Artikel ist umfangreiches historisches Bildmaterial beigefügt, anhand dessen Konstruktionen ‚des Ariers‘, ‚der Arierin‘, ‚des Juden‘ oder ‚der Jüdin‘ anschaulich entschlüsselt werden. Häufig widmen sich zudem die Autor/-innen auch der Fragestellung, welche gesellschaftspolitische Relevanz ihre Forschungsergebnisse bieten bzw. wie ihre Erkenntnisse in ein antifaschistisches Engagement transferiert werden könnten. Auch die Aufnahme von einführenden Texten zu Antisemitismus in Deutschland und von Überblicksartikeln zu Geschlechterbildern im Antisemitismus ist sicherlich dieser produktiven Zusammenarbeit zu verdanken.

Von Geschlechterbildern im Nationalsozialismus zur Dekonstruktion des Antisemitismus?

Im ersten Aufsatz bieten die Herausgeber/-innen einen verdienstvollen Überblick über Geschlechterbilder und Antisemitismus im Nationalsozialismus. Ausgehend vom Bild ‚des Ariers‘ unterziehen sie Bilder ‚der Arierin‘, ‚des Juden‘ und ‚der Jüdin‘ und die Bezüge der einzelnen Bilder aufeinander einer eingehenden Darstellung. Etwas gewöhnungsbedürftig, aber dafür konsistent erscheint die Markierung verschiedener Kategorien mit den Sonderzeichen ™ für Fremdzuschreibungen und © für Selbstzuschreibungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft.

Im nachfolgenden Beitrag „Der Körper des ‚Juden‘ und des ‚Ariers‘ im Nationalsozialismus“ geht Christina von Braun der Frage nach, welche Veränderungen der jüdischen und der christlichen Religion sich im Säkularisierungsprozess vollzogen haben. Am Beispiel von Geschlechterbildern im Nationalsozialismus weist sie nach, dass Säkularisierung als ein Prozess der ‚Entkirchlichung‘ und eine ‚Sakralisierung des Weltlichen‘ zugleich definiert werden muss.

Klaus Hödl beschreibt anschließend das Bild des ‚verweiblichten Juden‘ im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdzuschreibungen im Fin de Siècle. Der Durchbruch einer Analogisierung von Judentum und Weiblichkeit erfolgte, so der Autor, als ‚das Männliche‘ zur zentralen gesellschaftlichen Norm erhoben wurde. In seinem Artikel geht Hödl auch auf historische Strategien zur Auflösung der so festgeschriebenen Bilder ‚des Jüdischen‘ ein.

Basierend auf dem theoretischen Rahmen von Pierre Bourdieus Die männliche Herrschaft dechiffriert Meike Günther eine Postkarte aus dem Ersten Weltkrieg, auf der der legendäre ‚Dolchstoß‘ in den Rücken eines deutschen Frontsoldaten durch die Hand eines Juden/einer Jüdin ausgeführt wird, der/die als Mann und Frau zugleich dargestellt ist. An das Ende ihrer Ausführungen stellt sie ergiebige Überlegungen, inwiefern eine derartige Entschlüsselung von Bildern für eine emanzipatorische Praxis fruchtbar sein kann.

Fraglos interessant hinsichtlich des Frauenbildes im Nationalsozialismus ist auch Elke Frietschs Untersuchung über Darstellungen des ‚Parisurteils‘ aus der Zeit des ‚Dritten Reiches‘ in der bildenden Kunst. Eine explizite Verbindung zwischen Geschlechter- und antisemitischen Diskursen stellt sie allerdings nicht her.

Bini Adamczak reflektiert die (Un-)Möglichkeit eines zugleich anti-antisemitischen und feministisch/queeren gesellschaftpolitischen Engagements. Ergebnisoffen diskutiert sie, ob Essentialismus und Antiessentialismus antideutscher und queerer Politik miteinander vereinbart werden können. Abschließend argumentiert sie für eine dekonstruktivistische Herangehensweise auch an die eigenen Theorie- und Praxiskonzepte politisch arbeitender Gruppen.

Schließlich wird im letzten, von Michael Moreitz verfassten Artikel des Bandes die Geschichte der Judenfeindschaft im Zeitraffer vom Beginn der Ansiedelung von Juden und Jüdinnen in ‚deutschen‘ Gebieten im Zuge römischer Eroberungs- und Siedlungspolitik bis hin zu einem Exkurs über Antisemitismus und Antizionismus dargestellt.

Über Repräsentationen ‚der Jüdin‘ und antisemitische Rezeptionen der Mutterrechtstheorie

Besonders hervorzuheben sind die Artikel von Hildegard Frübis, Eva Maria Ziege und Jeanette Jakubowski, weil sie deutlich machen, wie gewinnbringend ein genauer Blick auf Geschlechterkonstruktionen in antisemitischen Diskursen sein kann:

Allzu häufig wird in bisherigen Untersuchungen das Bild der ‚schönen Jüdin‘ lediglich mit einem kurzen Verweis abgehandelt. Frübis schafft Abhilfe durch ihr mit vielen Bildbeispielen versehenes Kapitel „Repräsentationen ‚der Jüdin‘“. Die verschiedenen Auswirkungen dieser Konstruktion wie z. B. Entpolitisierung, Entindividualisierung bis hin zu Viktimisierung, Grenzziehung oder auch Mythisierung werden erläutert.

Ziege beschreibt die „Bedeutung des Antisemitismus in der Rezeption der Mutterrechtstheorie“ Johann Jakob Bachofens. Der Autorin zufolge begann um die Wende zum 20. Jahrhundert eine „Ethnisierung der Matriarchatsidee“ (S. 143). In den Rassendiskursen sowohl antisemitischer Männer als auch völkischer Frauen war die Mutterrechtstheorie ein zentrales Motiv, mit dessen Hilfe entweder die Existenz einer altgermanischen Frauenmacht behauptet oder aber das ‚jüdische Patriarchat‘ für den weltgeschichtlichen Niedergang des Matriarchats verantwortlich gemacht wurde. Rückbezüge auf völkische Mutterrechtstheoretiker/-innen und antisemitische Konnotationen macht Ziege auch in matriarchatsbezogenen Teilen der neuen Frauenbewegung zum Ende des 20. Jahrhunderts aus.

Jakubowski untersucht die Verwendung jüdinnen- und judenfeindlicher Stereotype in Martin Walsers 2002 erschienenem Roman Tod eines Kritikers. Besondere Beachtung schenkt sie der Frage der Geschlechtszugehörigkeit. Antisemitische Aspekte des Romans sind der Autorin zufolge noch vor dem Mord an dem jüdischen Literaturkritiker Ehrl-König an der Stereotypisierung der Romanfiguren abzulesen. Die Darstellung des Literaturkritikers als ‚Jude‘, seine Sexualität, die Beschreibung seiner Ehefrau als ‚Mannweib‘ und die Einführung einer ‚nichtjüdischen Frau‘ als Gegenbild belegen nach Jakubowski „Walsers Griff in die antisemitische Mottenkiste“ (S. 188).

Gerade solche Beiträge wie die zuletzt beschriebenen zeigen, dass die Berücksichtigung der Zusammenhänge zwischen Geschlechterkonstruktionen und Antisemitismus sowohl für historische Forschungen als auch für ein gesellschaftliches Engagement von bisher zu wenig beachteter Relevanz sind. Ihre Ergebnisse belegen die Abrufbarkeit und damit auch die Wirkungsmacht antisemitischer Sexualphantasien und Geschlechterbilder bis heute.

URN urn:nbn:de:0114-qn072168

Iris Homann

Berlin

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Astrid Homann

London

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