Geschlecht als Modernisierungsfaktor deutsch-jüdischer Identitäten

Rezension von Margret Karsch

Kirsten Heinsohn, Stefanie Schüler-Springorum (Hg.):

Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte.

Studien zum 19. und 20. Jahrhundert.

Göttingen: Wallstein 2006.

296 Seiten, ISBN 3–89244–942–2, € 24,00

Abstract: Der Sammelband Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert beleuchtet die Relevanz der Kategorie „Geschlecht“ für den historischen Verlauf von Akkulturation, Verbürgerlichung und Säkularisierung. Dabei erweist sich die Familie als Schnittstelle der Umbruchsprozesse, in denen jüdische Identitäten und das Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft ausgehandelt wurden.

Für eine integrative Geschlechtergeschichte

Die Herausgeberinnen Kirsten Heinsohn und Stefanie Schüler-Springorum liefern in der Einleitung eine Übersicht über die Entwicklungen in der deutsch-jüdischen Geschichtsforschung und heben zwei zentrale Themenkomplexe hervor: zum einen die Bewahrung bzw. den Verlust jüdischer Identität, zum anderen das Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft. Der instruktive Band belegt einmal mehr die Notwendigkeit einer integrativen Geschlechtergeschichte, indem er Forschungsergebnisse präsentiert, die ohne diese Perspektive ausgeblendet blieben.

Neben der Einleitung umfasst der Sammelband 13 Beiträge, die sich in vier Abschnitte gliedern: „Modernisierung aus geschlechterhistorischer Perspektive“, „Sozialgeschichtliche Perspektiven“, „Kulturgeschichtliche Perspektiven“ und „Diskussionen“. Den Autorinnen gelingt es, bei ihrer Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Religion als Sinnstiftungssystem sowie von Geschlechterrollen die unterschiedlichen Ansätze produktiv zu machen. Die Grundlage für die Forschungen lieferten die Workshops der Konferenz „Rethinking Jewish Women’s and Gender History“, die vom 20. bis zum 22. Oktober 2003 im Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden stattfand.

Die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse

Den Auftakt des ersten Abschnitts bildet der Artikel „Muster der Modernisierung“ von Paula E. Hyman. Hyman stellt die Akkulturation von jüdischen Frauen in Deutschland und Russland vergleichend gegenüber und ordnet sie souverän in die Forschungen zur „Frauenfrage“ ein. In beiden Ländern habe sich die jüdische Frauenrolle erst mit der Säkularisierung der Bildung verändert.

Simone Lässig fordert demgegenüber eine Akzentverschiebung bei der Interpretation der Modernisierungsprozesse. Sie untersucht in ihrem Beitrag „Religiöse Modernisierung, Geschlechterdiskurs und kulturelle Verbürgerlichung“ das Verhältnis von religiösen Deutungsmustern und soziökonomischen Veränderungen im 19. Jahrhundert. Lässig argumentiert überzeugend, dass Ende des 18. Jahrhunderts die Haskala die Herausbildung eines aufstrebenden Bürgertums und der weiblichen Emanzipation befördert und europäische Reichweite erreicht habe. Bisher seien die Reformen als Folge von Akkulturation und Säkularisierung betrachtet worden, womit deren Einfluss überschätzt werde. Tatsächlich hätten Frauen in einem langwierigen Prozess der Verbürgerlichung Zutritt zu Religion und Bildung erlangt. Die Kategorisierung von Empfindungen als „weiblich“ etwa habe ihnen den religiösen Raum eröffnet, der im Judentum bisher durch die Riten männlich besetzt gewesen sei.

Wandel der Konzepte „Arbeit“ und „Familie“

Zu Beginn des Abschnitts „Sozialgeschichtliche Perspektiven“ stellt Monika Richarz die Entwicklung von „Geschlechterhierarchie und Frauenarbeit seit der Vormoderne“ dar: In jüdischen Familien trugen Frauen dazu bei, den Lebensunterhalt zu gewährleisten, denn das halachische Judentum begründete das Patriarchat religiös, ohne die Geschlechteridentitäten an die Erwerbsarbeit zu koppeln. Mit der Säkularisierung und Verbürgerlichung Ende des 18. Jahrhunderts sicherten die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und das Bildungsmonopol die männliche Dominanz. In den Familienbetrieben blieb die weibliche Arbeitskraft jedoch nach wie vor unverzichtbar. Der soziale Aufstieg von Juden setzte zudem in größerem Umfang erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein und schritt zunächst langsam voran. Dann aber war er begleitet vom verstärkten Bildungsstreben der Frauen.

Den Streit um die Geschlechterrollen greifen auch die drei übrigen Beiträge dieses Abschnitts auf: Claudia T. Prestel zeichnet in ihrem Aufsatz „Die jüdische Familie in der Krise“ am Beispiel jüdischer Fürsorgejugendlicher nach, wie der Verfall der Familie „zum Symptom für die Krise des Judentums überhaupt“ (S. 105) wurde. Harriet Pass Freidenreich ergänzt mit ihrem Aufsatz „Die jüdische ‚Neue Frau‘ des frühen 20. Jahrhunderts“ Details eines umstrittenen Konzepts. Unter dem Titel „‚Neue Frauen‘ im Exil“ fasst Atina Grossmann bereits früher vorgestellte Ergebnisse zur Emigration von deutschen Ärztinnen unter besonderer Berücksichtigung der Jüdinnen kenntnisreich zusammen, ohne „die Instabilität und Vielfältigkeit der Identitäten“ (S. 135) zu unterschlagen.

Subversion und Tradition

Der Abschnitt „Kulturgeschichtliche Perspektiven“ setzt mit dem Beitrag „Kulinarische Bildung“ von Ruth Abusch-Magder ein. Die Autorin hebt hervor, dass die traditionell von einer aktiven Teilhabe an der schriftlichen Überlieferung ausgeschlossenen jüdischen Frauen im 19. Jahrhundert durch die Verbürgerlichung die Chance erhielten, die jüdische Identität mitzubestimmen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Kochbücher „in der Form wie auch im Inhalt eine Anfechtung des traditionellen Systems“ (S. 161) darstellten.

In ihrem Artikel „Die ‚Neue jüdische Familie‘“ weist Alison Rose den Einfluss des europäischen Nationalismus und der bürgerlichen Moral auf den Zionismus nach: Der männliche Entwurf der Geschlechterrollen im politischen wie im Kulturzionismus orientierte sich nicht am Ideal des traditionellen Judentums, sondern hielt an dem Glauben fest, „[…] dass jüdische Männer durch die Bearbeitung des Bodens männlicher, die jüdischen Frauen durch die Pflege der Familie femininer würden.“ (S. 195) Martina Steer legt in ihrem Aufsatz dar, inwiefern „Bertha Badt-Strauss‘ Biographie der Zionistin Jessie Sampter“ aus dem Jahr 1956 als autobiographischer Text gelesen werden kann, der zugleich „Geschichtsschreibung in Dienste der zionistischen Bewegung“ (S. 222) betreibt.

Sharon Gillerman untersucht in ihrem Beitrag „Jüdische Körperpolitik“, wie in der Weimarer Republik die Diskurse zu Mutterschaft und Eugenik „[…] innerhalb der jüdischen Gemeinschaft jüdische Differenz konstruierten und wie sie diese Unterschiede in der Sozialpolitik und in der Sozialarbeit zu verankern suchten.“ (S. 196) Die Ergebnisse zeigen Parallelen zum aktuellen medialen Streit um das „Aussterben der Deutschen“.

Forschungstendenzen

Zwei Diskussionspunkte greift der letzte Abschnitt auf: zum einen die Integration von Autobiographien in die Geschichtswissenschaft, zum anderen die disziplinäre Trennung von Frauen- und Männerforschung. Miriam Gebhardt spricht in ihrem Aufsatz „Von der Verführungskunst weiblicher Autobiographik“ und fordert, die kulturelle Konstruktion von Familiengeschichte und Bürgertum in dieser Gattung stärker in den Blick zu nehmen.

Der Beitrag „Zur Bedeutung von Memoiren für die deutsch-jüdische Frauengeschichte“ von Marion A. Kaplan zeichnet die Geschichte dieser Debatte, die durch postmoderne Ansätze wieder aufgenommen worden ist, umfassend nach. Kaplan bestreitet nicht die Notwendigkeit, kulturelle Konstruktionen zu reflektieren, beharrt aber auf der sozialhistorischen Relevanz von Autobiographien. Ihr Beitrag besticht durch die Klarheit und Ausführlichkeit, mit der Kaplan die verschiedenen Argumentationsgänge und die Entstehung dieser grundsätzlichen methodischen Diskussion erörtert.

Deborah Hertz kommt in ihrem Beitrag „Männlichkeit und Melancholie im Berlin der Biedermeierzeit“ zu dem Schluss, dass die Konversionen von jüdischen Schriftstellern zum Christentum mit diskriminierenden Erfahrungen und mit den unterschiedlichen Geschlechterrollen zusammenhingen, die die religiösen Traditionen anboten. Hertz endet etwas abrupt mit einem Hinweis darauf, dass die Frauen- wie die Geschlechtergeschichte insgesamt noch am Anfang stehe. Der vorliegende Sammelband beweist in seiner Gesamtheit unstrittig die Produktivität der deutsch-jüdischen Geschlechtergeschichte und regt durch die Vielfalt an aufgeworfenen Fragen zu weiteren Forschungen an.

URN urn:nbn:de:0114-qn072170

Margret Karsch

Hannover

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