Ethik, Recht und Theologie. Reproduktionstechnologien in Polen

Rezension von Susanne Lettow

Heidi Hofmann (Hg.):

Biopolitik grenzenlos.

Stimmen aus Polen.

Herbolzheim: Centaurus 2005.

326 Seiten, ISBN 3–8255–0510–3, € 22,90

Abstract: Die bisherigen Debatten um Stammzellforschung, Klonen und Reproduktionstechnologien wurden in Deutschland weitgehend im nationalstaatlichen Rahmen und mit Blick auf Entwicklungen im angelsächsischen Raum geführt. Dabei sind diese Forschungsrichtungen und Technologien kein genuin „westliches“ Phänomen – immerhin wurde das erste Retortenkind in Polen bereits 1987 geboren. Heidi Hofmann lässt in ihrem Band polnische Philosoph/-innen, Jurist/-innen und Politikerinnen zu Wort kommen und öffnet den Blick dafür, dass die Art und Weise, in der Reproduktionstechnologien gesellschaftlich problematisiert werden, in Polen durch ganz andere politische, kulturelle und historische Konstellationen geprägt ist als in Deutschland.

Der Band bietet zunächst eine Fülle an Informationen zur reproduktionstechnologischen Praxis in Polen sowie zu den politischen, rechtlichen und moralphilosophischen Debatten. Die einzelnen Beiträge stammen zu einem Großteil von Philosoph/-innen und Jurist/-innen, aber auch von Politikerinnen wie der stellvertretenden Ministerpräsidentin Izabela Jaruga-Nowacka und Interessenvertretern kinderloser Paare wie dem Vorsitzenden des Vereins „Nasz-bocian“ (Unser Storch), Piotr Palasz. Vor allem zwei Determinanten der polnischen Debatte werden in den unterschiedlichen Beiträgen immer wieder hervorgehoben, nämlich zum einen das Fehlen rechtlicher Regulation, zum anderen die kulturelle Dominanz der katholischen Kirche.

Wie Weronika Chanska in ihrer einführenden Rekonstruktion zum „Stand der Debatte“ in Recht, Medizin und Politik erläutert, gibt es „keine genauen Rechtsvorschriften, die den Bereich und die Formen ärztlicher Behandlung bei einer Unfruchtbarkeitsbehandlung regeln“ (S. 19). Dies führt dazu, dass reproduktionstechnologische „Verfahren hinter den verschlossenen Türen der Behandlungsräume durchgeführt werden. Wem und aus welchem Grund Hilfe beim Zeugen von Kindern geleistet wird“, bleibt somit weitgehend im Dunkeln (S. 48). Eine daraus resultierende Forderung, die wiederholt geäußert wird, ist die nach gleichem Zugang zu den Reproduktionstechnologien, d. h. einer öffentlichen Finanzierung. „Wenn der Staat und die Versicherer“, so der Reproduktionsmediziner Marian Szamatowicz, „die Behandlungen über ihre Haushaltspläne finanzierten, so wäre die Lizenzerteilung für Zentren, die sich mit ART (assisted reproduction technologies/SL) beschäftigen, die Aufsicht über ihre Arbeiten und letztendlich die Führung eines Landesregisters die logische Folge“ (S. 54). Die Frage „Für wen?“ (Chanska, S. 48) ist jedoch nicht nur in finanzieller, sondern auch in ideologischer Hinsicht brisant, ist doch unter Medizinern wie unter Juristen der Begriff der ehelichen Unfruchtbarkeit gebräuchlich, der nahe legt, dass Unfruchtbarkeit überhaupt nur in einer Ehe auftreten und daher auch behandelt werden kann (vgl. Chanska, S. 32).

Obwohl, wie Alicja Przyluska-Fiszer schreibt, die polnische Debatte „auf der theoretischen Ebene“ nicht allzu sehr von der internationalen, sprich englischsprachigen, abweicht, ergeben sich „Unterschiede bei den ethischen Beurteilungen“ vor dem Hintergrund „kultureller und religiöser Traditionen sowie vorhandener, national übergreifender Wertesysteme“ (S. 61). Przyluska-Fiszer beklagt die extreme Polarisierung der Debatte im Vergleich zu anderen Ländern, wo sie eine stärkere „Tendenz zu einer Kompromisssuche zwischen einem völligen Verbot solcher Verfahren und einer Erlaubnis zur kritiklosen Anwendung aller technisch möglichen künstlichen Fortpflanzungsmethoden“ ausmacht (S. 63). Zugespitzt formuliert dies auch Magdalena Sroda, die gar von einer „Unmöglichkeit, in Polen Diskussionen über Fragen der Sexualität, der Sexualerziehung, der Abtreibung, der Gen- und Reproduktionstechnologien und der Geschlechtsumwandlung bei Transsexualität zu führen“, spricht (S. 87). Diese Unmöglichkeit gründe vor allem in der dominierenden religiösen Ethik-Auffassung, die diese „zu einem deklarativen und mit Tabus behafteten Wissensgebiet“ (S. ebd.) mache. So sei das am häufigsten verwendete normative Konzept in der polnischen Moraldebatte das katholische Naturrecht in der Tradition Thomas von Aquins, während man „in Europa“ auch eine liberale Tradition in Anschluss an Thomas Hobbes und John Locke kenne (S. 93). Die Gegnerschaft zum Katholizismus tendiert dabei zu einer Idealisierung des „westlichen“ Liberalismus und einer Technikeuphorie, die in die Frage mündet, warum etwa „teure HIV-Therapien“ staatlich finanziert werden, aber nicht die Hilfe bei einer „so wichtigen Zivilisationskrankheit wie […] Unfruchtbarkeit“ (S. 95). Auch utilitaristisch-eugenische Positionen, die in der angelsächsischen Bioethik zum Standardrepertoire gehören, wie die Auffassung, dass „qualities of life are as important, or even more so, than purely biological existence“ (Szawarski S. 119, vgl. Przyluska-Fiszer S. 77), werden z. T. weitgehend positionslos dargestellt. Ein Gegengewicht dazu stellt der Beitrag von Anna Sobolewska dar, die die Stigmatisierung von behinderten Kindern und ihren Eltern beschreibt und die eigenen positiven Erfahrungen des Lebens mit einem behinderten Kind anführt. So sind die „Stimmen aus Polen“ durchaus vielfältig, auch wenn sich in den einzelnen Beiträgen manche Informationen insbesondere zur rechtlich-politischen Entwicklung und zu den unterschiedlichen reproduktionstechnologischen Methoden wiederholen.

Ergänzt werden die „Stimmen aus Polen“ im hinteren Teil des Buches durch Stimmen aus Deutschland. Dabei handelt es sich zum einen um einen sehr hilfreichen Überblick über „Reproduktion und Reproduktionstechnologien in der Debatte der polnischen Frauenbewegung“ von Gesine Fuchs, zum anderen um einen Beitrag von Heidi Hofmann zu den soziokulturellen Veränderungen, die mit den Reproduktionstechnologien verbunden sind, sowie um Interviews mit Sigrid Graumann und Kathrin Braun, beide ehemals bzw. gegenwärtig Mitglieder der Bundestagsenquête-Kommissionen zu Recht und Ethik in der modernen Medizin. Diese Beiträge sind insofern ein wichtiger Bestandteil des Buches, als sie die polnischen Debatten kontextualisieren, aber auch Verstörungen, die sie vor dem Hintergrund der hiesigen feministischen Debatten auslösen, artikulieren. Die vorsichtig geäußerte Einschätzung Sigrid Graumanns etwa, dass sich in Polen „ähnlich wie in Italien frauenpolitische Positionen wegen der unsäglichen Abtreibungsdiskussion reflexhaft gegen kirchliche Positionen richten“ (S. 305), ist denn auch nicht ganz von der Hand zu weisen, könnte jedoch, produktiv gewendet, zum Ausgangspunkt einer spannenden internationalen feministischen Diskussion über Kritikstrategien werden, die nicht nur in Polen allzu oft hegemonialen Anordnungen verhaftet bleiben. Es ist zu wünschen, dass der Sammelband über den Informationsgehalt, den er zweifellos hat, hinaus Anregungen für eine solche Diskussion gibt.

URN urn:nbn:de:0114-qn071153

Dr. Susanne Lettow

Institut für die Wissenschaften vom Menschen/Wien

E-Mail: lettow@iwm.at

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