Ein Schritt auf dem Weg zur Emanzipation russischer Feministinnen?

Rezension von Ilka Borchardt

Svetlana Ajvazova:

Russkije zhenshchiny v labirinte ravnopravija. Ocherki politicheskoj teorii i istorii, Dokumentalnye materialy.

(Russische Frauen im Labyrinth der Gleichberechtigung. Abriss der politischen Theorie und Geschichte).

Moskva: Redakcionno-Izdatel’skij Kompleks (RIK) Rusanova 1998.

405 Seiten, ISBN 5–87414–124–3.

Abstract: In der besprochenen Arbeit werden ein Überblick über Geschichte und Theorien des russischen Feminismus und Dokumente aus dem Zeitraum 1870–1914 vorgestellt. Die Historisierung der Frauenbewegung eröffnet eine Perspektive, die angesichts sich weiterhin verändernder Wertesysteme in einer Transformationsgesellschaft wie Rußland an theoretischer und politischer Bedeutung gewinnt.

„Russische Frauen…“ im Rahmen des neuen feministischen Diskurses in Rußland

Zum 90. Jahrestag des Ersten Allrussischen Frauenkongresses, im Dezember 1908 in St. Petersburg, veröffentlichte die Politologin und Historikerin Svetlana Ajvazova Russkije zhenshchiny v labirinte ravnopravija (Russische Frauen im Labyrinth der Gleichberechtigung). Dieses Buch verdient besondere Aufmerksamkeit in zweierlei Hinsicht: Für diejenigen, die bisher davon ausgingen, daß es in Rußland keine eigene feministische Tradition gab, dürfte dieses Buch der Gegenbeweis sein. Ebenso kann es aber auch denen als Bereicherung dienen, die für fremde (russische) politische, theoretische Erfahrungen offen sind.

Es gibt einige Sammelbände, die mehr oder weniger gut übersetzte, nicht nur theoretische Texte des westlichen Feminismus einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen versuchen. Genannt seien nur Feminism: Perspektivy socialnogo Znanija von Olga A. Voronina (ed.), Moskau, 1992, Gendernye issledovanija: Feministkaja metolodogija v social’nykh naukakh von Irina Zherebkina (ed.), Kharkov, 1998, Khrestomatiya feministkikh tekstov, Perevody von Elena Zdravomyslova & Anna Temkina (eds.), St. Petersburg, 2000. Letztere schreiben in ihrer Einleitung: „Durch die Konfrontation mit dem Fremden, seine Aneignung und Umwandlung entwickelt sich eine neue russische feministische Diskurskultur.“[1]

So wahr diese Aussage auch ist, geht Ajvazova doch einen anderen, nicht minder erfolgversprechenderen Weg: Ihr Rückgriff auf die eigene Geschichte bietet nicht nur die Möglichkeit, sich Erfolge in Erinnerung zu rufen, sondern vor allem auch neue Strategien, Argumentationslinien und Theorien zu entwickeln, die hiesigen gesellschaftlichen Gegebenheiten vielleicht eher entsprechen, als es aus westlichen Diskursen ‚importierte‘ können. Zwar ordnet sie die Frauenbewegung in die allgemeine Menschenrechtsbewegung ein, die mit der Französischen Revolution entstanden sei, beläßt aber ansonsten den russischen Feminismus in seinem kulturellen, philosophischen Kontext, unter Berücksichtigung äußerer Einflüsse aus anderen europäischen Diskursen.

Theoretische Grundlage der Arbeit ist eine Definition von Feminismuspositionen, die Ajvazova auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert: „Philosophie oder Ideologie […] der Befreiung der Persönlichkeit von der repressiven Macht des biologischen Geschlechts, Strömung, die nach der Trennung, der Autonomie des Individuums von seinen geschlechtlichen Ursprüngen strebt“ (S. 7, meine Übersetzung). Der Definitionsversuch scheint mir ein Charakteristikum für den russischen Diskurs: In dem Maß, wie sich westliche Feminist/-innen, Theoretiker/-innen und Aktivist/-innen häufig aus Gründen der politicalcorrectness sträuben, allgemeine Definitionen zu finden, scheint hier die Notwendigkeit dafür zu bestehen. Grund mag die Legitimierung von Frauenforschung und Gender Studies als ‚Wissenschaft‘ sein. Dieser Legitimationszwang beinhaltet ein Verständnis von Wissenschaft als etwas für die Gesellschaft Notwendiges und damit Praxisorientiertes, Anwendbares.[2] Hier wird eine Bedeutung von Ajvazovas Arbeit deutlich: Mit der politologischen, quellenorientierten historischen Untersuchung schreibt sie ein Stück Geschichte Rußlands neu. Mit der Historisierung der für Rußland scheinbar ‚neuen‘ Frauenbewegung stärkt Ajvazova nicht nur das notwendige Selbstbewußtsein russischer Feminist/-innen, sondern fördert auch die Anerkennung der Frauenbewegung als etwas ebenso originär Russisches wie Westliches.

Ajvazovas Zugang zum Thema

Der erste große Abschnitt des Buches ist der Darstellung und Analyse der Geschichte der Frauenbewegung und ihrer theoretischen Grundlagen gewidmet. Der zweite Teil, vom Umfang her der größere, besteht ausschließlich aus Primärquellen, einer Auswahl „Vergessener Texte“ russischer Feminist/-innen. M.K.Chebrikovas Vorwort zur 1870 erschienenen russischen Ausgabe von J. S. Mill’s Die Hörigkeit der Frau (orig. The subjection of women) eröffnet die Dokumentation. Es folgen Archiv-Dokumente aus den „Arbeiten des I. Allrussischen Frauenkongresses, 10.–16. Dezember 1908“. Den Abschluß bilden Artikel aus den populärsten Monatszeitschriften Sojuz Zhenshchin (Moskau) und Zhenskij Vestnik (St. Petersburg) bis 1914. Ich schließe mich hier der Intention der Autorin an, Leser/-innen selbst über Bedeutung und Interpretation urteilen zu lassen, und versuche daher keinen Kommentar der Texte.

Da Ajvazova die Auswahl in keiner Weise für erschöpfend oder gar ausreichend hält, überläßt sie die Vervollständigung der Geschichtsschreibung kommenden Historiker/-innen. Die Bedeutsamkeit der vorliegenden Dokumente sieht sie jedoch in ihrer Aktualität für den wissenschaftlichen feministischen Diskurs und für öffentliche Diskussionen über Vergangenheit und Zukunft der Frauenbewegung in Rußland.

Die Autorin teilt die Geschichte der Frauenbewegung chronologisch in 3 Phasen ein. Beginnend mit dem frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt sich die erste Phase. Der zweite Zeitraum beginnt mit der Oktoberrevolution und reicht bis zum Zerfall der Sowjetunion. Der letzte Abschnitt gilt den Reformen der 1990er Jahre und der Entwicklung einer unabhängigen Frauenbewegung.

Alle drei Kapitel beschäftigen sich mit Aspekten gesellschaftlichen Lebens, die für die Autorin offensichtlich entscheidenden Einfluß auf die Vorstellungen von Weiblichkeit und damit verbundene Anforderungen an das Leben von Frauen haben. Sind es in der ersten Phase noch Literatur und Philosophie, so untersucht sie in der zweiten das sowjetische Arbeitsleben und den Umgang mit Schwanger- und Mutterschaft. Für die 1990er Jahre liegt ihr Schwerpunkt auf der Arbeitsmarktsituation während der Reformen, der sich formierenden Frauenbewegung und deren Typologisierung.

Wesentliche Diskurse des frühen russischen Feminismus bei Ajvazova

Obwohl die genannten Zeiträume gleichermaßen interessant für die Entwicklung des Feminismus sind, gehe ich nur auf den ersten ein, da er unter der Überschrift und der Frage nach der Historizität der russischen Frauenbewegung als der wesentlichste erscheint.[3] Ajvazova verbindet hier überzeugend das Zusammenwirken kultureller Stereotype der literarischen Klassik (Puschkin, Tolstoj) mit dem zeitgenössischen Frauenbild.

Ein typisch russischer Archetypus der Frau ist nach ihrer Darstellung die sich selbst verleugnende Heldin, die z. B. ihrem Ehemann in die Verbannung folgte, („Dekabristenfrau“[4]). Eine fast noch wichtigere Aufgabe für die Frau betrifft die Familie, die Liebe und die „Aufrechterhaltung der Art“. Hier liegen die Pflicht und alle Rechte der Frauen, die eigentliche Verwirklichung und das wahre Heldentum verborgen. Diese Vorstellungen und Lebenskonzepte finden sich bis heute bei vielen Frauen, egal welchen Alters.

Für den Übergang vom „traditionellen Zivilisationstyp zum liberalen“ (S. 43, wobei die Autorin diese Begriffe leider nicht näher erklärt), beginnend mit Alexander I. bis 1914, sei ein autonomes, selbstbestimmtes Individuum nötig. Im patriarchalen Rußland aber sei kein Raum für die Entfaltung einer unabhängigen, freien Persönlichkeit gewesen. Insofern verstand sich der Feminismus des 19. Jahrhunderts in erster Linie als Bewegung zur Befreiung der menschlichen Persönlichkeit (egal ob Frau oder Mann) von den Grenzen des Geschlechts. (S. 48 f.) In aufklärerischer Tradition sollte u. a. geistige, moralische Bildung zur Autonomie des Individuums führen. So erklärt sich als eines der Ziele früher Feministinnen die Forderung nach freiem Zugang zu Bildungseinrichtungen. Resultat dieser Bestrebungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren in fast allen großen Städten Frauenkurse verschiedener Fachrichtungen.

Ein zentrales Thema philosophischer Auseinandersetzungen des späten 19. Jahrhunderts ist die Liebe, köperliche und geistige, die ebenfalls zur Befreiung des Individuums leiten sollte. Mit der Frage nach Sinn und Zweck der Liebe zwischen den Geschlechtern wird diese vom pragmatischen ‚zur Aufrechterhaltung der Art‘ zum Mittel der Vervollkommnung der Persönlichkeit, der Verbindung von Geistigem und Körperlichem, Göttlichem und Menschlichem. Solche Überlegungen widersprechen den kulturellen weiblichen Stereotypen, die einer Frau erst als Großmutter, also als sexuell neutralem Wesen, individuelle, geistige Fähigkeiten zugestehen. Während aber im Westen zur Jahrhundertwende bereits über bewußte, erwünschte Mutterschaft, Schwangerschaftsverhütung und -abbruch nachgedacht wurde, rief allein der Verdacht solcher Ideen in Rußland Empörungsstürme hervor.

Diese Barrieren auf dem Weg zu politischem und kulturellem Liberalismus zu nehmen, sah sich der russische Feminismus berufen. Allerdings stellte die Frauenbewegung nur einen, lange nicht den wichtigsten Teil der allgemeinen ‚Befreiungsbewegung‘ dar. Die wichtigsten Fragen innerhalb letzterer betrafen dementsprechend die Befreiung Rußlands von feudal-absolutistischer Herrschaft.

Fazit

Für interessant halte ich diese Phase der Frauenbewegung aus zwei Gründen: Erstens zeichneten sich an ihrem Ende Probleme ab, die auch heute an Aktualität kaum verloren haben – die Aufsplitterung in politische Richtungen, die auf einander entgegengesetzten theoretischen Grundlagen basieren. Vielfalt an sich ist noch kein Problem. Am Beispiel des Petersburger Frauenkongresses, wo die Konfrontation von ‚bourgeoisen‘ und ‚proletarischen‘ Feministinnen die Vereinigung von Frauenorganisationen zugunsten effektiverer und koordinierter Mitarbeit auf internationaler Ebene verhinderte, wird jedoch die Konfliktträchtigkeit deutlich. Daher bieten gerade die Erfahrungen aus der frühen Frauenbewegung Ansätze für die Entwicklung feministischen Bewußtseins und feministischer Politik in einer Transformationsgesellschaft wie Rußland, in der die meisten Menschen mit ganz anderen, ‚existentielleren‘ Problemen zu kämpfen haben, als es Frauen- oder allgemeine Menschenrechte sind.

Zum zweiten bildet die frühe Frauenbewegung eine Grundlage für einen bewußten Umgang mit der Vergangenheit. Über sowjetische Geschichte, sowjetische Frauenpolitik wird seit einigen Jahren verstärkt geforscht und diskutiert. Meines Erachtens aber können viele Aspekte des alltäglichen Frauenlebens, der Geschlechterverhältnisse auch der sowjetischen Geschichte kaum nachvollzogen werden, wenn nicht wesentlich ältere, kulturelle Stereotype und tradierte zwischenmenschliche Werte in Betracht gezogen werden. Da die Frauenbewegung auch in Rußland sich deren Veränderung zum Ziel gesetzt hat, bietet die Betrachtung dieser Geschichte die Chance, heutige und sowjetische Stereotype und gesellschaftliche Mechanismen wenn schon nicht vollständig, dann doch wenigstens etwas genauer zu verstehen, als es ein so begrenzter Zeitraum wie der sowjetische ermöglichte.

Leider wird Ajvazovas Buch u. U. schwer seinen Weg in die westliche Öffentlichkeit und feministische Wissenschaft finden. Das Problem besteht ganz einfach in der Erhältlichkeit. Die Publikation wird vom Konsortium der Nicht-Regierungs-Frauen-Organisationen in Moskau vertrieben.[5] Es ist bisher nicht im Buchhandel erhältlich. Was leider üblich für viele feministische Schriften ist, die meist auf informellen, privaten Wegen ihre Leser/-innen finden und damit an das SamIzdat-Dasein in der UdSSR erinnern.

Vielleicht konnte diese Rezension etwas helfen, der vorgestellten Arbeit auch im nicht-russischen Sprachraum die verdiente Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Anmerkungen

[1]: J. Zdravomyslova, A. Temkina (Hg .), Khrestomatiya feministkikh tekstov, Perevody, St. Petersburg 2000, S. 26 (meine Übersetzung).

[2]: Vgl. M. Ritter in: Feministische Studien, 1/1999, S. 8–22.

[3]: Zu weiteren Untersuchungen der sowjetischen Geschichte vgl. u.a. A. Koebberling: Das Klischee der Sowjetfrau, Stereotyp und Selbstverständnis Moskauer Frauen zwischen Stalinaera und Perestroika. Frankfurt am Main, New York, 1997. Zur postsowjetischen Zeit M. Ritter und E. Meshcherkinain: Feministische Studien, 1/1999, S. 8–22 und S. 49–60.

[4]: Vgl. auch E. Zdravomyslovain, in: Feministische Studien, 1/1999, S. 23 34.

[5]: Die Bezugsadresse lautet: 129090 Moskva, Olimpijskij Prospekt d. 16, of. 2383, Telefon: Moskau/ 288–70–66, Fax: Moskau/ 288–96–33, e-mail: wcons@com2com.ru

URN urn:nbn:de:0114-qn021064

Ilka Borchardt

zur Zeit in Nowosibirsk/Rußland

E-Mail: semykina_ilka_1999@yahoo.de

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