Soziale Mission und Emanzipation. Zwei Pionierinnen der weiblichen Sozialarbeit

Rezension von Margret Nitsche

Anja Schüler:

Frauenbewegung und soziale Reform.

Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889–1933.

Stuttgart: Franz Steiner 2004.

392 Seiten, ISBN 3–515–08411–8, € 44,00

Abstract: In einer umfangreichen Doppelbiographie beschreibt Anja Schüler Leben und Werk der beiden frühen Sozialreformerinnen und Feministinnen Jane Addams (1860–1935) und Alice Salomon (1872–1948) und die wechselseitige Rezeption ihrer jeweiligen sozialpolitischen Arbeit im transatlantischen Dialog.

Alice Salomon, 1872 in Berlin geboren, war die Tochter einer assimilierten großbürgerlichen Familie. Jane Addams, Jahrgang 1860, entstammte einer wohlhabenden Familie aus Illinois. Die amerikanische Quäkerin und die – später konvertierte – deutsche Jüdin hatten ein gemeinsames Problem: sie hatten nichts zu tun. Die bürgerliche Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts verwehrte jungen Frauen die Chance, ihre Fähigkeiten sinnvoll einzusetzen. Und noch etwas hatten sie gemeinsam: ein tief sitzendes soziales Gerechtigkeitsgefühl. Obwohl sie in zwei sehr unterschiedlichen politischen Systemen lebten – dem deutschen Kaiserreich und der amerikanischen Frontiergesellschaft – wählten sie einen sehr ähnlichen Weg, mit ihrer Situation umzugehen: Beide wurden Pionierinnen der weiblichen Sozialarbeit.

In einer ausführlichen Doppelbiographie hat sich jetzt die Historikerin Anja Schüler mit den beiden Sozialreformerinnen und Feministinnen beschäftigt. Mit ihrem Buch Frauenbewegung und soziale Reform, einer Überarbeitung ihrer Dissertation, möchte sie sowohl „neue Einsichten über die Reformarbeit deutscher und amerikanischer Frauen und ihren Beitrag zur Entstehung des Wohlfahrtsstaates“ (S. 13) liefern als auch einen Beitrag zur Geschichte der internationalen Frauenorganisationen. Insbesondere geht es ihr um den Austausch zwischen Addams und Salomon und den jeweils mit ihnen verbundenen Netzwerken auf beiden Seiten des Atlantiks und die gegenseitigen Reformanstöße, die sich hieraus ergaben.

Jane Addams: Brave Quäkertochter im Aufbruch

Die ersten sieben Kapitel sind Jane Addams gewidmet. Deren Vater, Unternehmer und Senator, war für die höhere Bildung für Frauen – allerdings nur, um aus ihnen bessere Ehefrauen und Mütter zu machen. Dementsprechend war er gegen die Pläne seiner Tochter für ein Medizinstudium und schickte sie stattdessen auf das Rockford Female Seminary. Nach dem Ende ihrer Collegezeit geriet sie in das für Frauen bis heute wirksame Dilemma, sich zwischen traditioneller Frauenrolle und beruflicher Karriere einen Weg suchen zu müssen. Addams reagierte mit Krankheiten und Depressionen. Der Durchbruch kam auf einer Europareise 1887. In London besuchte das Toynbee Hall Settlement – eine Ansiedlung von Studenten im East End mit dem Ziel, die dortigen Lebensverhältnisse aus eigener Anschauung kennen zu lernen und den Slumbewohnern Hilfe zu leisten. Gegen den Willen ihrer Familie gründete sie 1889 in Chicago das Hull House, ein Settlement in einem Immigrantenviertel – für sie ein Versuch, „ein rein politisches Demokratiekonzept um eine soziale Komponente zu erweitern“ (S. 60). Die Bewohnerinnen eröffneten einen Kindergarten, organisierten Abendkurse und kulturelle Veranstaltungen. Es gab Clubs zur politischen Bildung und ein Wohnprojekt für junge Arbeiterinnen. Und aus dem Projekt wurde ein „think-tank für Sozialreformen“ (S. 112): Hull House gab die erste amerikanische Studie über die Lebensbedingungen in den Slums heraus.

Arbeit in der Frauen- und Friedensbewegung

Zur organisierten Frauenbewegung stieß Addams relativ spät: erst 1906 wurde sie Mitglied der National American Woman Suffrage Association. Zwar plädierte sie immer für eine größere gesellschaftliche Verantwortung für Frauen und den Zugang zu höherer Bildung, für das Frauenstimmrecht argumentierte sie jedoch mit den „spezifischen Fähigkeiten, denen politische Verantwortung entsprechen müsse“ (S. 119), und distanzierte sich damit von radikaleren Frauenrechtlerinnen, die das Wahlrecht als gleiches Bürgerrecht forderten. Nach 1914 wurde Addams zu einer der führenden Persönlichkeiten der internationalen Friedensbewegung und baute ein internationales Netzwerk von Frauenrechtlerinnen auf. Schon seit der Weltausstellung 1893 in Chicago gab einen regelmäßigen Austausch von Ideen durch Reisen, Briefe und Beiträge in Zeitschriften. Etwas unklar bleibt in Schülers Darstellung zunächst das persönliche Verhältnis von Addams und Salomon. Erst im 7. Kapitel über die Rezeption Addams’ in Deutschland erfahren wir, dass die ausführlichste Würdigung von Addams’ Arbeit in Deutschland in den Schriften Salomons erfolgte, dass die beiden eine langjährige Korrespondenz pflegten, vor allem, dass Salomon sich durch Addams’ Arbeit inspirieren ließ in ihrer praktischen Arbeit. Insbesondere sah Salomon Addams als Vorbild dafür, „wie soziale Arbeit Frauen zu politischem Einfluss verhelfen kann“ (S. 177).

Alice Salomon: Sozialarbeit als Sinnerfüllung

Im 8. bis 14. Kapitel widmet Schüler sich Alice Salomon und ihrem Lebenswerk. Salomon besuchte die Zimmermannsche Töchterschule bis sie 15 Jahre alt war. Mehr Bildung war für Mädchen nicht vorgesehen. Wie damals für Frauen in gutbürgerlichen Kreisen üblich, verbrachte sie ihre Zeit mit Nichtigkeiten wie „dem jahrelangen Besuch der Stickereikurse des Kunstgewerbemuseums“ (S. 189) und dem Warten auf einen adäquaten Ehemann.1893 folgte sie dem Aufruf zur Gründungsversammlung der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, deren Ziel eine organisierte, fachlich qualifizierte Wohltätigkeit sein sollte. Ausdrücklich wurde betont, dass es sich um „keinerlei Emanzipationsbestrebungen“ (S. 193) handelte, wobei Schüler der Ansicht ist, dass dies eine „taktische Verschleierung“ (S. 193) gewesen sein könnte. Salomons Motivation war anfangs sehr moralisch: Sie glaubte an die besondere soziale Verantwortung der (bürgerlichen) Frau.

Schon 1899 wurde Salomon Leiterin der sozialen Gruppen, 1908 gründete sie die Soziale Frauenschule, die eine „wirklich systematische Grundlage für berufsmäßige soziale Arbeit“ (S. 226) vermitteln sollte. Ihre Haltung zur Sozialarbeit als Beruf war allerdings widersprüchlich. Trotz ihrer Bemühungen um eine fundierte Ausbildung hielt sie lebenslang am Ideal der ehrenamtlichen Arbeit fest. In ihrer politischen Haltung ist sie nach Schüler schwer einzuordnen: in ihren sozialreformerischen Forderungen sei sie eher dem radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung nahe gewesen, beim Frauenstimmrecht eher dem gemäßigten. Sie war dafür, leitete ihre Forderung aber wie Addams aus der „weiblichen Eigenart“ (S. 236) ab, sah es „als Mittel, damit Frauen ihre spezifischen weiblichen Aufgaben in der Gesellschaft erfüllen konnten“ (S. 237). Seit 1898 engagierte Salomon sich im Bund deutscher Frauenvereine BDF, ab 1900 war sie Vorstandsmitglied. Gleichzeitig war sie im Internationalen Frauenbund ICW aktiv.

Von der nationalistischen Begeisterung zur antisemitischen Verfolgung

Der Erste Weltkrieg beendete ihr internationales Engagement. Wie fast die gesamte bürgerliche Frauenbewegung schwenkte sie auf einen nationalistischen Kurs ein. Schüler formuliert hier euphemistisch: „Die fast vollständige Integration sozial engagierter Frauen in den Kriegsapparat ließ wenig Platz für internationales Engagement“ (S. 263). Dabei gab es durchaus eine Minderheit engagierter Frauen, die sich jeglicher Arbeit für Kriegszwecke verweigerten. Salomon hingegen meinte: „Die soziale Kriegsfürsorge ist die Kriegsleistung der Frau“ (S. 265). Später behauptete sie allerdings, sie habe die nationalistische und militaristische Begeisterung nie geteilt. Aber erst nach dem Krieg hatte sie wieder intensive internationale Kontakte. Sehr kurz handelt Schüler das Thema Antisemitismus im BDF ab. Salomon hatte sich berechtigte Hoffnungen auf den Vorsitz gemacht, aber, wie Schüler formuliert, konnte „der BDF sich nicht dazu durchringen, eine Frau mit jüdischem Nachnamen zu nominieren (S. 316). Noch 1932 erhielt ihre Schule – für ein Jahr – ihren Namen, 1933 wurde sie aller Ämter enthoben, 1937 von der Gestapo aufgefordert, das Land zu verlassen, woraufhin sie mit 65 Jahren in die USA auswanderte.

Resümee

Schüler gelingt es, etliche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Reformerinnen herauszuarbeiten. Sowohl Addams als auch Salomon stellten die Frage nach der „sozialen Gerechtigkeit“ in den Mittelpunkt und betonten die Verpflichtung insbesondere der bürgerlichen Frauen zur Lösung der sozialen Frage, beide lehnten sozialistische Positionen ab. Beide verbanden die praktische mit konzeptioneller und politischer Arbeit, legten die Grundlagen für die Professionalisierung der Sozialarbeit und eröffneten damit bürgerlichen Frauen ein neues Berufsfeld. Trotzdem beriefen sie sich auf die traditionelle Frauenrolle und forderten von da aus eine größere politische Partizipation. Beide vertraten wie auch der Mainstream der bürgerlichen Frauenbewegung einen „maternalistischen Feminismus“. Der Weg von der Wohltätigkeit über die Sozialreform zur politischen Mitbestimmung war für beide keineswegs geradlinig und von vielen Widersprüchen geprägt.

Als Resümee fasst Schüler zusammen: „Die Arbeit der jeweils anderen Gruppe erwies sich so als bedeutsam für den Entwurf und die Legitimation der eigenen Reformprojekte“ (S. 350). Das ist vermutlich nicht falsch, wird von Schüler aber nicht besonders deutlich belegt. Das Problem ist, dass das Buch zwar insgesamt sehr gründlich recherchiert und faktenreich ist, dass aber in der Fülle der Details eine klare Linie oft nicht zu erkennen ist. Schülers Anliegen droht ständig in der Fülle des Materials unterzugehen. Das liegt auch daran, dass sie ihr eigenes Erkenntnisinteresse nicht sehr deutlich formuliert. Ihr Buch gerät dadurch zwar sehr informativ, nicht aber zu einer wirklich anregenden Auseinandersetzung mit den Fragen, die es behandelt. Dazu fehlt die eigene Haltung, die stringent verfolgte These, die überzeugende Analyse. Es entsteht eher der Eindruck, dass Schüler unbedingt einen ausgewogenen Mittelkurs steuern will und dabei sogar die vielen Widersprüchlichkeiten ihrer Protagonistinnen eher glättet, statt sie deutlich herauszuarbeiten.

URN urn:nbn:de:0114-qn071213

Margret Nitsche

Bremen

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