Die Geschlechtsblindheit in der Transformationsforschung und -theorie zu Ostmitteleuropa

Rezension von Ursula E. Frübis

Christiane Frantz:

EU-Integration als Transformationsrahmen?.

Demokratische Konsolidierung in Polen durch die Europäische Union.

Opladen: Leske + Budrich 2000.

273 Seiten, ISBN 3–8100–2613–1, DM 54,00 / SFr 49,00 / ÖS 394,00

Abstract: In dieser Rezension wird die Geschlechtsblindheit des mainstreams der Transformationstheorien diskutiert. Hierfür wird eingangs auf die von Christiane Frantz verfaßte Analyse des polnischen Transformationsprozesses eingegangen. Im zweiten Teil werden Hypothesen über die möglichen Ursachen und Funktionen des Widerstandes gegen die Einbringung der fundamentalen Kategorie gender dargelegt. Zur Verdeutlichung des Forschungsdefizits werden die Aufsätze von Birgit Sauer und Vlasta Jalušič angeführt.

Unter dem Topos „Transformation“ wird in den Sozialwissenschaften die Diskussion um den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Wandel in den ehedem sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas geführt. Transformation wird also als ein den postkommunistischen Gesellschaften spezifischer Vorgang verstanden, dessen „Entwicklungsziele prinzipiell bekannt sind: Demokratie, Wachstum und Wohlfahrt. Sie werden zu erreichen versucht durch Übernahme bzw. Nacherfindung der Basisinstitutionen der Vorbildgesellschaften: durch Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum“.[1]

In dieser Tradition steht auch das Buch zur „EU-Integration als Transformationsrahmen? Demokratische Konsolidierung in Polen durch die Europäische Union“ von Christiane Frantz. Im theoretischen Vorlauf der Dissertationsschrift stellt die Autorin die konkurrierenden Ansätze der Transformationsforschung vor, um im Anschluß daran ein systematisches Transformationsraster für ihre Fallstudie zu Polen, einem EU-Erweiterungsland, zu entwickeln. Durch den von ihr vorgeschlagenen systematischen Transformationsrahmen versucht sie, die in der Transformationsforschung bekannte System-, Ebenen- und Phasenproblematik zu umgehen. Als Gradmesser für „die demokratische Konsolidierung im politischen System Polens“ dient ihr die „Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur“ (S. 38). Hierfür ist die Konzeption einer Zivilgesellschaft vonnöten.

Als Fazit der Arbeit stellt Christiane Frantz fest: „Polen hat mit Hilfe des Transformationsrahmens, den die EU um das politische System als Repressions- und Angleichungsrahmens gelegt hat, ein stabiles demokratisches Institutionengefüge herausgebildet.“ (S. 243) Lediglich in einigen Bereichen, wie in der Reform der Verwaltung, der Agrarpolitik und dem Parteiensystem wird ein Handlungsbedarf im Hinblick auf die EU-Angleichung gesehen. (S. 244)

Die Frage nach der Partizipation von Frauen im neuen politischen System wird in diesem Buch nicht gestellt. Die Autorin argumentiert entlang den bekannten Mustern des malestream. Der Genderaspekt wurde in der gesamten Forschung zum Transformationsprozeß in den ostmitteleuropäischen Ländern stark vernachlässigt oder ignoriert. Um so bedeutsamer ist daher ein Blick auf die Transformationsforschung aus der feministischen Perspektive.

Der Stand der Transformationsforschung und Transformationstheorie aus feministischer Perspektive

In der von Eva Kreisky herausgegebenen Aufsatzsammlung „Vom Patriarchalen Staatssozialismus zur patriarchalen Demokratie“ (1996) findet sich ein Text von Birgit Sauer[2], der Gründe für die Aufspaltung der Transformationsforschung und -theorie in institutionelle und mikrosoziologische bzw. sozialstrukturelle Ansätze und die damit eng verbundene generelle Geschlechtsblindheit beschreibt. So stellt Sauer fest: „Es scheint, als sei die Trennung von Makro- und Mikroebene stetige Reproduktionsbedingung der Geschlechtsblindheit von Transformationsforschung und -theorie: Das Geschlechterthema wird unsichtbar gemacht zwischen System- und Handlungsebene.“ (S. 133)

Doch Sauer bleibt bei dieser Feststellung nicht stehen. Sie verweist auf die Forschungsdefizite der Arbeiten, die aus einer feministischen Perspektive heraus geschrieben wurden. So merkt sie kritisch an, daß die feministischen Studien zu den Übergangsprozessen in Ostmitteleuropa „eher auf dem Mikrolevel angesiedelt [sind] und [sie] systemischen, institutionellen sowie historischen Aspekten der longue durée nicht die nötige Aufmerksamkeit [schenken].“ (ebd., S. 133) Im Ergebnis bleiben in der Transformationsforschung die Frauen „[a]ls Akteurinnen des Übergangs […] unsichtbar.“ (ebd., S. 132)

Doch warum insgesamt diese Widerstände gegen eine geschlechterorientierte Transformationsforschung? In Beantwortung dieser Frage formuliert Sauer nach ihrem kursorischen Gang durch die Transformationstheorien die These, daß die „Postmoderne Theoriediversion durch die Implosion der realsozialistischen Staaten Unterstützung zu erfahren scheint.“ (S. 155) „Die Politikwissenschaft nutzte die Krise auch als restaurative ‚Chance‘ zur Reifizierung und Festschreibung traditioneller ‚geschlechtsneutraler‘ Paradigmen. Auch um Fragen der Demokratie, der Menschenrechte sowie gerechter Macht- und Ressourcenverteilung soll es der ideengeschichtlich gereinigten Politikwissenschaft nicht mehr gehen.“ (S. 157) „Bis in die Sprache hinein ist eine technizistische und mechanistische Sicht auf die Transformationsprozesse vorherrschend.“ (S. 135).

Mit dem stichhaltigen Argument von Sauer, daß „ein verengter Begriff des Politischen [dazu] führt, daß Politik nur dort verortet wird, wo Männer agieren, d. h. in staatlichen Institutionen und in korporatistischen Verhandlungssystemen; [so das] die ‚andere Hälfte‘ der politischen Akteure verloren geht (ebd., S. 137), möchte ich auf einen weiteren Aufsatz, der aus der ostmitteleuropäischer Perspektive geschrieben wurde, verweisen.

In ihrem Aufsatz „Die Geschlechterfrage und die Transformation in Ostmitteleuropa“ geht Vlasta Jalusic[3] der Frage nach der Abwesenheit des Geschlechts am Ort des Politischen nach. Ihr Transformationsbegriff des Politischen stützt sich auf eine, in der Rezeption von Hannah Arendt bislang nicht sonderlich beachteten, „Betonung [der] Notwendigkeit der ständigen Erneuerung, der Möglichkeit einer politischen Innovation, die wegen der ‚existentiellen‘ Bedingtheit der Menschen notwendig anlegt ist“. (S. 452).

Was ist mit dem aus Arendts politischer Philosophie entlehnten Begriff des „Neuen im Politischen“ für eine geschlechterorientierte Transformationsforschung gewonnen? Als neue Situation haben Frauen und Männer die Freiheit im Postsozialismus zunächst als Befreiung von einstiger „Hyperpolitisierung“ verstanden. So versteht Jalušič auch die Widerstände der Frauen in den Transformationsländern gegen den westlichen Feminismus. „Die Frauen in Ostmitteleuropa setzen sich im allgemeinen ŕpriori dem Feminismus entgegen: Sie sehen ihn als eine importierte, dogmatische und ‚graue‘ Ideologie der Gleichheit, die in der diversifizierten, freien und demokratischen Gesellschaft nichts zu suchen hat.” (S. 454) Jalušič argumentiert an dieser Stelle: „Der Kampf um die [politische] Gleichheit von Frauen, […] gilt in diesem Teil Europas vor allem als totalitärer Rest und wird deshalb auf ein Nebengleis der aktuellen politischen Themen gesetzt.“ (S. 454) Sie sagt weiter: „[…] die Räume, die vorher die Quelle des Politischen waren, die ‚Küchentischbewegungen‘ (Kreisky 1996: 8), [wurden] durch Stabilisierung und Normalisierung depolitisiert. Die Männer sind ‚in die Politik‘ gegangen, an den ‚Ort der Macht‘, die Frauen sind draußen geblieben, irgendwo im (halb)öffentlichen Sozialen.“ (S. 455)

Im Gegensatz zur „politischen Kategorie Feminismus“ bietet die Kategorie gender den ostmitteleuropäischen Frauen größere Möglichkeiten, um ihre pluralen Erfahrungen in die Transformationsforschung einzubringen. Nun steht eine gender-bezogene Forschung zur EU-Integration Ostmitteleuropas auf der agenda.

Anmerkungen

[1]: Wolfgang Zapf: Die Modernisierungstheorie und unterschiedliche Pfade der gesellschaftlichen Entwicklung. In: Leviathan 1, 1996, S. 63–77.

[2]: Der hier diskutierte Aufsatz von Birgit Sauer stellt die Problematik einer Transformationsforschung, die bislang auf einen geschlechterorientierten Zugang verzichtete, in einer umfassenden Art und Weise dar. Ihr Beitrag ist in voller Länge als Download (Microsoft Word) in dieser Ausgabe der Querelles-Net nachzulesen. Birgit Sauer: Transition zur Demokratie? Die Kategorie „Geschlecht“ als Prüfstein für die Zuverlässigkeit von sozialwissenschaftlichen Transformationstheorien. In: Eva Kreisky (Hg.): Vom Patriarchalen Staatsozialismus zur patriarchalen Demokratie, Wien 1996, S. 131–164.
[Anm. der Redaktion: Wir danken der Autorin und der Herausgeberin, daß Sie uns den Text freundlicherweise für eine Zweitveröffentlichung in Querelles-Net zur Verfügung stellten.]

[3]: Vlasta Jalušic: Die Geschlechterfrage und die Transformation in Ostmitteleuropa: Kann das Geschlechterparadigma zur „Transformation des Politischen“ beitragen? In: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 28, 1997, S. 450–474.

URN urn:nbn:de:0114-qn021058

Ursula E. Frübis

Freie Universität Berlin

E-Mail: lachs@zedat.fu-berlin.de

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