‚Doing Sex – Doing Society‘ – zum Geschlechtskörper als sinnlichem Scharnier zwischen Gesellschaft und Subjekt

Rezension von Christoph Kimmerle und Hanna Meißner

Paula-Irene Villa:

Sexy Bodies.

Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper.

Opladen: Verlag Leske + Budrich, 2000.

275 Seiten, ISBN 3–8100–2223–3, DM 29,00 / SFr 26,50 / ÖS 212,00

Abstract: Eine interessante Zusammenstellung und kritische Rekonstruktion verschiedener Ansätze sozialkonstruktivistischer Theorien, die in der bundesdeutschen feministischen Debatte um die soziale Konstruktion von ‚Geschlecht‘ und ‚Körper‘ eine zentrale Rolle spielen. Das besondere Anliegen der Autorin besteht darin, diese Ansätze auf gesellschaftstheoretische Defizite zu überprüfen und diesbezüglich (neu) rückzubinden.

Geschlecht, Geschlechterdifferenz und Körper

Gewiß einiges wurde bisher schon zum Thema Geschlecht, Geschlechterdifferenz und Körper geschrieben. Dabei interessiert und fasziniert das Zusammenspiel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, sozialer Bedeutungen, Symbole und Rollen mit individuellen Identitätsentwürfen, Handlungsmöglichkeiten, Begehrensweisen und körperlich-sinnlichen Erfahrungen. Oft bleiben jedoch entweder gesellschaftliche Strukturen und Ungleichheiten unberücksichtigt oder subjektives Empfinden, Begehren und Handeln ausgeklammert. Allermeist wird dieser Zusammenhang kaum sichtbar, ist lückenhaft oder zumindest konzeptionell-theoretisch unbestimmt.

Paula-Irene Villa versucht in ihrem vorliegenden Band, diese Auslassungen unterschiedlicher theoretischer Perspektiven auf den Geschlechtskörper aufzuzeigen und mittels synthetisierender Zusammenstellung zu überwinden. So ist eine Arbeit entstanden, die sich der Konstruktion der Geschlechterdifferenz vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse widmet. Am Körper als Scharnier zwischen Gesellschaft und Subjekt wird der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen, Prozessen und Bedeutungen und der geschlechtlichen Existenz eines Individuums aufgezeigt und näher bestimmt. Mit ihrer Untersuchung knüpft die Autorin an mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum verstärkt rezipierte, allerdings wenig aufeinander bezogene sozialkonstruktivistische Positionen in der sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung an. Diesen zufolge sind Natur (Biologie) und Kultur nicht voneinander zu trennen, sondern als gleichursprünglich zu begreifen. Der Körper wird als Ergebnis sozialer, kontextgebundener und in Machtprozesse eingelassener Konstruktionsprozesse verstanden.

Villas Vorgehen ist in dreierlei Hinsicht interessant: Zum einen bieten Rekonstruktion und Vergleich unterschiedlicher paradigmatischer Ansätze einen guten Überblick. Zum anderen leistet sie mit ihrem Anliegen, diese Zugänge gesellschaftstheoretisch zurückzubinden, einen wichtigen Beitrag. Und drittens werden diese Perspektiven so synthetisiert, daß sie sich in einen (neuen) Zusammenhang stellen.

Entsprechend ihres theoretischen Zugangs zu Gesellschaft, zum Subjekt und zu deren Verschränkung begreift Paula-Irene Villa den Körper als spezifischen Ort der Vergesellschaftung, an dem in markanter und subtiler Weise das ‚Haben‘ materieller und kultureller Ressourcen durch ‚Verinnerlichung‘ und ‚Inkorporation‘ zum ‚Sein‘ wird. Da Subjekte einerseits ‚Produkt‘ sozialer Verhältnisse seien, andererseits aber wiederum diese Strukturen konstruierten, würden gerade am Körper als Scharnier zwischen Gesellschaft und Subjekt die verobjektivierten Strukturen in die Subjektivität auf präreflexive und sinnliche Art eingelassen, um so die Stabilität jener Strukturen zu garantieren. Damit erhält die sinnlich-emotionale Qualität und alltägliche Erfahrung des Körpers als subjektive Dimension der sozialen Konstruktion von Geschlecht besonderes Gewicht.

Theoretisierung des Körpers bei Lindemann, Butler und Hirschauer

Villas Buch setzt sich mit verschiedenen Theoretisierungen des Geschlechtskörpers auseinander. Ausgangspunkt ist Gesa Lindemanns phänomenologisch-leibphilosophische Perspektive auf die Realität der Geschlechterdifferenz. Villa eröffnet mit anschaulichen Beispielen und Interviewausschnitten konkrete Zugänge zur subjektiv empfundenen ‚vermittelten Unmittelbarkeit‘ des Geschlechtskörpers und des geschlechtlich-körperlichen Begehrens. Die Beispiele verdeutlichen, wie Normen mit Haut und Haaren er- und gelebt werden. Als hilfreich erweist sich hierbei, daß Villa Kurzschlüsse und Universalisierungen Lindemanns kenntlich macht und den Geltungsanspruch der reproduzierten Normen mittels konkreter Beispiele in Frage stellt.

Villas Darstellung des diskurstheoretischen Entwurfs Judith Butlers thematisiert Normen als machtvolle ‚Diskurse‘ in ihren inneren Logiken, in ihren Einschlüssen und ‚Verwerfungen‘ und vor allem in ihrer ‚epistemologischen Machtwirkung‘ als Definitionen scheinbarer Wahrheiten sowie ontologischer Grundkategorien. Butlers Enthüllung ‚authentischer‘ körperlicher Wahrnehmung und ‚natürlicher‘ Materialität als Naturalisierungseffekte wird so präzise rekonstruiert, daß der bei vielen Kritikerinnen und Kritikern entstandene Vorbehalt, Butler ergehe sich jenseits aller Materie in einer Art ‚linguistischem Idealismus‘, von Villa überzeugend ausgeräumt werden kann.

Treffend zeigt Villa gesellschaftstheoretische Defizite des Butlerschen Entwurfs auf, die sie ansatzweise mittels Bourdieus Verständnis von Sprache als Ausdruck sozialer Macht ergänzt. In ihrer Verallgemeinerung dieser Mängel bei Butler hin zu einer Kritik der Diskurstheorie insgesamt übersieht sie jedoch, daß gerade die sozialen (Macht-) Positionen und Funktionen des sprechenden, praktizierenden Subjekts, der definierenden Institution – also mithin der Einbezug zumindest gewisser gesellschaftstheoretischer Überlegungen – eine durchaus zentrale Dimension diskurstheoretischer Analysen darstellen. Inwiefern dieser Zugang zu gesellschaftlichen Verhältnissen zu befriedigen vermag, bleibt eine interessante Frage, die von Villa aber an dieser Stelle nicht diskutiert wird. Ebenso bleiben diskurstheorie-immanente Ergänzungspotentiale bzw. Reinterpretationsmöglichkeiten unerkannt. Obwohl sie zu Anfang ihrer Rekonstruktion selbst noch auf die Verschiedenheit zwischen beidem hinweist, reduziert Paula-Irene Villa die Vielfalt und Komplexität von ‚Diskurs‘ auf Sprechakte und setzt diesen somit letztlich mit Sprache gleich. Folgerichtig lautet ihre Frage an die Diskurstheorie kurzschlüssig: „Was sagen wir, um das Geschlecht zu sein?“ (S. 121)

Aus der Sicht der vorliegenden Arbeit erscheint der diskurstheoretische Ansatz Butlers gewissermaßen als thematische Ergänzung der phänomenologischen Perspektive um eine lediglich sprachlich-diskursive Ebene. Ähnlich komplementär wird auch der ethnomethodologisch-interaktionstische Entwurf Stefan Hirschauers, der die soziale Konstruktion von Geschlecht und Geschlechtskörper auf der Ebene von Interaktionen beschreibt, den anderen theoretischen Perspektiven zugesellt; frei nach dem Motto: die einen beschreiben das Tun in der Interaktion, die anderen die sprachliche und die dritten schließlich die sinnlich-körperliche Ebene. Wenn aber Diskurse mehr sind als Sprechakte, nämlich auch (körperliche) Praxen, die Begehren und Empfinden konstituieren, dann zerrinnt die Klarheit der synthetischen Zusammenstellung der unterschiedlichen Perspektiven auf den Körper. Die Aneinanderreihung der drei paradigmatischen Entwürfe erweist sich dann in dieser Additivität als diskussionswürdig.

Auch die gesellschaftstheoretische Rückbindung sozialer Konstruktionen von Geschlecht wirft Fragen auf. Dazu trägt Villas nicht ganz präziser Umgang mit soziologischen Strukturkategorien bei: Einerseits wird das ‚Geschlechterverhältnis‘ als gesellschaftliches Organisationsprinzip der strukturell hierarchisierten Beziehung zwischen Männern und Frauen (u.a. Knapp, Gottschall) bestimmt, andererseits die Erweiterung des marxistischen (materiell-ökonomischen) Kapitalbegriffs um ‚kulturelles‘ und ‚soziales Kapital‘ (Bourdieu) zu einem Verständnis ‚sozialer Ungleichheit‘ entwickelt, bei welchem sowohl ungleich verteilte Güter als auch asymmetrische Beziehungen als ‚strategische Ressourcen‘ (Kreckel) aufgefaßt werden. Geschlechterverhältnis und soziale Ungleichheit bleiben aber gesellschaftlich-historisch vage und unspezifiziert. Die spezifische Verknüpfung von Differenzierung und Hierarchisierung von Männern und Frauen, wie sie sich beispielsweise im Übergang zur immer noch sehr grob umrissenen ‚kapitalistischen Moderne‘ etablieren konnte, bleibt unterbelichtet.

Eng mit dieser Problematik verbunden ist Villas Unterscheidung zwischen ‚Geschlechterdifferenz‘ als Einteilung von Menschen in zwei Geschlechter und ‚Geschlechterverhältnissen‘ als gesellschaftlichen Organisationsformen, die beide Geschlechter strukturell zueinander in Beziehung setzen. Die Trennschärfe beider Begriffe bleibt undeutlich, und deren Verhältnis zueinander wird nicht näher expliziert. Die (essentialistische) Differenzierung von Menschen erscheint bezüglich entsprechender Hierarchisierungen als potentiell davon losgelöst und neutral.

Im Gegensatz zu anderen Subjektkonzeptionen und Interpretationen, in welchen ein autonom handlungsmächtiges Subjekt entworfen wird, bindet Villa Handlungsfähigkeit eng an gesellschaftliche Strukturen. Sie geht davon aus, daß ‚Makro-Strukturen‘ sowohl ‚verinnerlicht‘ als auch aktiv und kreativ angeeignet werden. Dabei bleibt aber unklar, ob Villa mit diesem Vergesellschaftungsmodell tatsächlich der Dichotomie zwischen der Vorstellung eines aller Zwänge freien Subjekts oder eines determinierten Individuums entgeht oder nur einfach auf die deterministische Seite wechselt, auf welcher sich dann sozial erworbene ‚innerpsychische‘ Strukturen biologischen Determinierungen argumentationslogisch angleichen. Hierbei schlägt zu Buche, daß die Frage, was denn alles an der Konstruktion des Geschlechts in Machtprozesse eingebunden ist, nur in Richtung Naturalisierung erfolgt und die Verknüpfung hierarchisierender Differenzierung mit Essentialisierungen nicht berücksichtigt wird.

Herausforderung zur Auseinandersetzung

Als Orientierungshilfe und Einführung in das Feld bietet Villas Monographie einen umfassenden Einblick in die derzeit diskutierten Positionen zur sozialen Konstruktion von Geschlecht und Körper. Ihr Sprachstil ist angenehm zu lesen, und die bisweilen komplexen und abstrakt-theoretischen Inhalte sind anschaulich vermittelt und ohne große Vorkenntnisse zu verstehen. Hilfreich sind die Exkurse zur Vertiefung einzelner Aspekte auf einer verallgemeinerten Ebene oder jene Unterkapitel, die zunächst vorab in die Grundtheorie eines spezifischen Ansatzes einführen. Interessant und unterhaltsam ist der letzte Teil des Buches, in welchem Villa am Beispiel des Tangos eine Verknüpfung der zuvor diskutierten theoretischen Überlegungen mit konkreten (Alltags-) Praxen gelingt. Auch für bereits mit der Thematik Vertraute stellt Villas Arbeit einen wichtigen Beitrag dar: Ihr synthetisierendes Vorgehen wirft grundlegende metatheoretische Fragen bezüglich des Umgangs mit unterschiedlichen Theorieansätzen auf. Ihre Interpretationen provozieren zu weiterer Diskussion. Ihre Intention gesellschaftstheoretischer Rückbindung sozialer Konstruktionen von Geschlecht und Körper befördert die Auseinandersetzung um (angemessenen) Einbezug gesellschaftlicher Verhältnisse in wissenschaftliche Theoriebildung.

Wenngleich Paula-Irene Villas eigene Position bisweilen nur undeutlich zu erkennen ist und ihr Vorgehen immer wieder auch Gefahr läuft, Widersprüche zu glätten, fordert der vorliegende Beitrag zur Politisierung der Auseinandersetzung heraus und nimmt in dieser Weise die Idee der sozialen Konstruktion von Geschlecht in ihren radikalen Grundsätzen ernst.

URN urn:nbn:de:0114-qn011109

Christoph Kimmerle

E-Mail: jackson@zedat.fu-berlin.de

Hanna Meißner

E-Mail: hannam@zedat.fu-berlin.de

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