Das Erzählbuch einer Dokumentarfilmerin. Stimmen weiblicher KZ-Überlebender

Rezension von Constanze Jaiser

Loretta Walz:

„Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag“.

Die Frauen von Ravensbrück.

München: Antje Kunstmann 2005.

420 Seiten, ISBN 3–88897–388–0, € 24,90

Abstract: Die Dokumentarfilmemacherin Loretta Walz gibt mit diesem Buch einen Einblick in ihre Videoproduktionen „Widerstand leben – Frauenbiographien“. Seit nunmehr 25 Jahren interviewt sie Frauen, die die Nationalsozialisten seit 1933 in den drei Frauen-Konzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück inhaftiert hatten. Über 200 Zeugnisse zählen inzwischen zu dieser Sammlung, die in vielerlei Hinsicht als einmalig und herausragend gelten darf. Es ist ein lesenwertes Buch geworden, das 35 Frauen porträtiert, die Gefangenschaft und KZ-Haft überlebten. Allerdings greifen die konzeptionellen Überlegungen zum Aufbau des Buches zu kurz, wohingegen der Anspruch, eine mögliche Lagergeschichte Ravensbrücks zu sein, zu weit reicht.

Wie soll man ein Buch schreiben, das so viele Begegnungen mit Überlebenden dokumentiert und zugleich ein Vierteljahrhundert der eigenen Arbeit als Dokumentarfilmerin im Kontext einer bewegten deutsch-deutschen Zeitgeschichte abdeckt? Loretta Walz nimmt uns mit auf ihre persönliche Zeitreise, die in der alten Bundesrepublik begann, sich später auf Westeuropa ausweitete und sich schließlich, Anfang der 90er Jahre, im Territorium der ehemaligen DDR und in osteuropäischen Ländern fortsetzte. Aus allen diesen Zeiten und Orten präsentiert uns das Buch Schicksale von Frauen, die über ihr Leben, ihre KZ-Haft und deren Auswirkungen auf das weitere Leben erzählen.

Auf der Suche nach dem roten Faden

Die sowohl chronologischen als auch geographischen Etappen bilden das erste Ordnungskriterium, entlang dessen Loretta Walz uns Lebensläufe und Aussagen dieser Frauen vorstellt. Sehr bald wird jedoch erkennbar, dass das Buch zugleich nach inhaltlichen Schwerpunkten gegliedert ist. Diese sind vor allem Orte im ehemaligen Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, an denen Gefangene bestimmte Aufgaben zur Aufrechterhaltung des KZ-Systems zu übernehmen hatten. Als Block- und Stubenälteste hatten sie Bewachungs- und Ordnungsfunktionen in den so genannten Blocks, den Baracken, in denen die Häftlinge zusammengepfercht leben mussten (z. B. Marta Baranowska oder Mieczyslawa Jarosz). In der SS-Küche mussten sie für das SS-Personal kochen (so Hanna Burdówna), in der Ravensbrück-eigenen Frisierstube die Haare der SS-Aufseherinnen waschen, schneiden und legen (so Edith Sparmann). Im so genannten Revier, dem Häftlingskrankenbau, hatten sie sich – unter dem Befehl von SS-Ärzten und -Schwestern und unter katastrophalen hygienischen und medizinischen Bedingungen – um die kranken Häftlinge zu kümmern, aber auch Selektionen vorzubereiten (so Hanka Housková und Vera Picková).

Schließlich gibt es auch noch ein biographisches Ordnungsprinzip, wonach Frauen Raum gegeben wird, die in unterschiedlicher Form für die Geschichte Ravensbrücks bedeutsam sind – ganz besonders als Opfer medizinischer Experimente (Stanislawa Bafia, Wanda Poltawska, Maria Plater u. a.), aber auch als Jüdin (Anna Kopp), als Kind (Stella Nikiforova, geb. Kugelmann, Menachem Kallus, Lilly Rozenberg), als Sinti und Roma (Sophie Wittich, Ceija Stojka).

Damit ist der größte Schwachpunkt des ansonsten lesenwerten Buches benannt, denn es fällt schwer, sich darin zurecht zu finden, um es etwa unter einem eigenen wissenschaftlichen Forschungsinteresse auszuwerten.

Sich wandelnde Geschichte und Geschichten

Loretta Walz Blick wandelte sich, als ihr im Zuge der Wende immer mehr auffiel, „dass von Seiten der Häftlinge – sowie der damaligen DDR-Gedenkstätte – nicht alle Erinnerungen in gleicher Weise geschätzt wurden. Häufig waren es die früheren ‚Funktionshäftlinge‘, über deren Arbeit in Ravensbrück nicht detailliert gesprochen wurde. In vielen Interviews war zwar die Rede vom uneigennützigen Einsatz der Funktionsträgerinnen, aber der tatsächliche Zwiespalt, in den sie als potenzielle ‚Mithelferinnen‘ geraten waren, wurde nicht thematisiert.“ (S. 143)

Dieser Befund verweist implizit auf zwei wichtige, verallgemeinerbare Entwicklungen: Zum einen handelt es sich dabei um ein gesamtdeutsches Phänomen, das heikle und komplexe Thema der Funktionshäftlinge wurde nirgendwo angemessen angegangen. Zum anderen steht Walz mit ihrer Entwicklung repräsentativ für die Bewegungen innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung, die sich in den 70er und 80er Jahren verdient gemacht hat um die Erforschung weiblicher Schicksale. Der vergessene Widerstand von Frauen stand bei vielen feministischen Forscherinnen im Mittelpunkt. Mit dazu gehörte auch die Suche nach typisch weiblichen Überlebensstrategien sowie die keineswegs unwichtige Annahme, Frauen seien im System des Nationalsozialismus vor allen Dingen Opfer gewesen – und zwar aufgrund ihres Geschlechts eher betroffen, aber auch eher ausgeschlossen. Notwendige Differenzierungen dieser Annahme, die dann explizit die (Mit-)Täterschaft von Frauen thematisierten, wirkten sich auch auf die KZ-Forschung aus. Weibliches SS-Personal rückte in das Blickfeld, aber ebenso weibliche Häftlinge, die innerhalb des KZ-Systems Aufgaben zu übernehmen hatten, damit die SS die Ordnung und den Ablauf von KZ-Alltag, Zwangsarbeit und Massenverwahrung überhaupt bewältigen konnte.

1997 konnte Loretta Walz erstmals eine Blockälteste, die Polin Marta Baranowska, für ein Gespräch aufsuchen (vgl. S. 82 ff.). Interviewt hat sie auch Mieczyslawa Jarosz, die mit damals 21 Jahren als Stubenälteste und später, als nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 12.000 Polinnen, darunter zahlreiche Kinder, nach Ravensbrück deportiert worden waren, als Blockälteste in Ravensbrück eingesetzt war (vgl. S. 87 ff.). Ihre Erzählungen über diese aufgezwungene Tätigkeit geben einen guten Einblick in die moralischen Dilemmata, die in dieser Funktion an der Tagesordnung waren. Das unzureichende Essen gerecht zu teilen, die Gefangenen des eigenen Blocks zu Ruhe und Ordnung anhalten, Hunderten helfen zu wollen und gleichzeitig im Zwang zu Gehorsam und Rechenschaft gegenüber der SS zu sein, deren Befehle auszuführen, immer in Gefahr, selber in Ungnade zu fallen – dies war eine Herausforderung, die immer nur schlecht, mehr oder weniger schlecht, gelingen konnte.

Formen weiblicher Selbstbehauptung

Die Erzählungen dokumentieren die vielfältigen Formen politischer Widerstandsarbeit von Frauen. Für die Zeit der Haft entwickelten die Betroffenen sehr unterschiedliche Formen der Selbstbehauptung, die viel auch mit der jeweiligen Biographie, der Persönlichkeit, den Vorerfahrungen zu tun haben. Durch die lebensgeschichtlichen Interviews, die nicht auf die Zeit der Haft beschränkt sind, werden die individuellen Besonderheiten mit in den Blick genommen. Freilich ist es schwierig, von einer typisch weiblichen Hafterfahrung und Selbstbehauptung zu sprechen, auch wenn die Autorin dies mit einigem Recht durch ihre thematische Auswahl nahe legt. So handelt ein Kapitel von den Sterilisationen der Sinti-und–Roma-Frauen und -Mädchen, ein Kapitel über von den in Ravensbrück inhaftierten Kindern, ein weiteres schließlich beschäftigt sich mit den Geburten, die, für viele Lesende vielleicht überraschend, auch im KZ stattgefunden haben.

Gerade an den Zeugnissen der Frauen, die Funktionen im KZ hatten, wird immer wieder deutlich, wie entscheidend es war, ein Netzwerk im Lager aufbauen zu können – vielleicht eine Eigenschaft, die Frauen qua Sozialisation eher besaßen als Männer, vielleicht aber auch eine Fähigkeit, die schlicht von der körperlichen und seelischen Konstiution sowie der Position innerhalb der Lagerhierarchie abhing. Beispiele wie Hanna Burdówna, die Anfang 1940 in Ravensbrück ankam, weil sie als Lehrerin der verbrecherischen Absicht der Nationalsozialisten, die so genannte „polnische Intelligenz“ auszurotten, zum Opfer gefallen war (vgl. S. 117 ff.), machen eben deutlich, dass eine religiöse oder, in anderen Fällen, eine politische Überzeugung ein wesentliches Element für das Überleben darstellte. Und schließlich – auch dafür finden sich zahlreiche Aussagen in dem Buch – waren es Zufälle, die den einen halfen und den anderen gerade nicht.

Das Erzählbuch einer Dokumentarfilmerin

Walz‘ Quellen basieren auf der Methode lebensgeschichtlicher Interviews, mit ihren Filmen verortet sie sich in der Tradition Eberhard Fechners und Claude Lanzmanns. Garantiert ist damit ein gutes Erzählen. In ihrer Haltung, die Walz in vorliegendem Buch erstmals beschreibt, zeigt sie sich deutlicher als in ihrer natürlich ebenfalls subjektiven Arbeit des Schneidens der Filmrollen: Sie begegnet ihren Interviewpartnerinnen mit großem Respekt, immer auf die Würde des Individuums bedacht. Durch ihre immense Erfahrung im Umgang mit Zeitzeugenberichten und durch ihr Wissen über Ravensbrück kann sie eine Vielstimmigkeit erzeugen: Die Aussagen der Frauen erhellen sich gegenseitig; die Autorin vermag sie in ihren historischen Kontext zu betten und ihnen darüber auch die angemessene Bedeutung zu verleihen.

Bei dem heiklen und komplexen Thema der Funktionshäftlinge stößt dieser Ansatz dennoch an Grenzen. Hier wären mehr Analysen des KZ-Systems gefragt; möglicherweise lässt sich das perfide System der Zwangsbeteiligung am System wirklich nur darstellen, wenn dabei die eigentlichen Verursacher, die Täterinnen und Täter mit in die Perspektive genommen werden.

Fazit

Es ist ein lesenswertes und schön gestaltetes Buch geworden. Die vielen ausführlichen Zitate liefern Porträts eindrücklicher, kämpferischer Frauen. Das Buch ist ein wenig wie die Filme von Loretta Walz, nur eben leider ohne den visuellen Eindruck. Dafür erhält man einen Einblick in das Schaffen, die Intentionen und die politische Haltung und Entwicklung einer Filmemacherin, die mit ihren Filmen und Videointerviews zweifelsohne Ravensbrücker Geschichte geschrieben hat.

Dem Anspruch, in diesem Buch „verdichten sich unterschiedliche Erinnerungen zu einer möglichen Lagergeschichte des Frauen-KZ Ravensbrück“ (S. 26), wird das Buch jedoch nicht gerecht – zu wenig kommen diejenigen zu Wort, die die Mehrzahl der Inhaftierten stellten, nämlich diejenigen, die eben keinerlei Funktion im Lager hatten und entsprechend unter vollkommen anderen Bedingungen leben (und sterben) mussten.

In gewisser Weise ist Walz‘ Buch das Gegenstück zu der eher trockenen, akribisch dokumentierenden Arbeit des Historikers Bernhard Strebel, der sich in seinem Vollständigkeitsanspruch, eine Studie über den gesamten Lagerkomplex Ravensbrück vorzulegen, verliert, mitunter hinter dem aktuellen Forschungsstand zurückbleibt, vor allem aber eine Sprache entwickelt, die arm an Empathie ist und die in ihrer Neigung aufzuzählen, additiv Aspekte, Ereignisse, Verbrechen zu referieren, die Menschen einer erneuten Verobjektivierung aussetzt. Walz dagegen schreibt lebendig, ihre Sprache ist voller Empathie, sie lässt den Betroffenen sehr viel Raum, ihre eigene Geschichte zu berichten.

Doch für alle als Gesamtdarstellung von KZ-Geschichte präsentierten Publikationen gilt meines Erachtens dasselbe: Sie mögen wissenschaftlich erwünscht sein, geraten jedoch als Unternehmen einer einzelnen Forscherperson all zu schnell unter einen Absolutheitsanspruch, der, selbst wenn wie bei Walz ausschließlich mit den Stimmen der Opfern argumentiert wird, auf Ausgrenzung beruht.

URN urn:nbn:de:0114-qn071115

Dr. Constanze Jaiser

Freiberufliche Literaturwissenschaftlerin und Theologin, Berlin

E-Mail: c.jaiser@web.de

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