Gibt es unterschiedliche Geschlechterkonstruktionen in Ost und West?

Rezension von Michaela Schier

Ingrid Miethe, Claudia Kajatin, Jana Pohl (Hg.):

Geschlechterkonstruktionen in Ost und West.

Biografische Perspektiven.

Münster: LIT 2004.

348 Seiten, ISBN 3–8258–7491–5, € 24,90

Abstract: Die zentrale Forschungsfrage, wie Geschlecht immer wieder neu hergestellt wird, steht im Zentrum des vorliegenden Sammelbands. Besonders spannend ist das Ziel der Autorinnen zu untersuchen, welchen Einfluss unterschiedliche räumliche und gesellschaftliche Verortungen von Menschen auf die Konstruktion von Geschlecht haben. Ist Frau- und Mann-Sein in Ost und West etwas Unterschiedliches? Um dieser Frage nachzugehen, nutzen die Autorinnen das analytische Potential von Biografien. Biografische Texte bieten die Möglichkeit zu erfassen, wie Menschen in Beziehung zu anderen Menschen und in Auseinandersetzung mit strukturellen Rahmenbedingungen Geschlecht herstellen und verändern. Das Buch Geschlechterkonstruktionen in Ost und West bietet auf diese Weise, insbesondere auch durch die Zusammenstellung unterschiedlicher empirischer Studien, interessante Anregungen für die weitere Diskussion.

Konzept des Sammelbandes

Die meisten der 15 Beiträge des mit 348 Seiten recht umfangreichen Sammelbandes basieren auf Vorträgen der Tagung „Geschlechterkonstruktionen in Ost und West“, die vom Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien (IZFG) der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald initiiert wurde und vom 19.9. bis 21.09.2002 an der Universität Greifswald stattfand. Um den Band zu vervollständigen, wurden einige wenige zusätzliche Autorinnen eingeladen.

Die Herausgeberinnen verfolgen mit dem Band Geschlechterkonstruktionen in Ost und West das Ziel, „theoretische und empirische Beiträge [zusammenzuführen], die die Konstruktion von Geschlecht vor dem Hintergrund der jeweiligen östlichen und/oder westlichen Gesellschaft aufzeigen.“ (S. 9) Anhand von empirischen Studien möchten die Herausgeberinnen der allgemeinen Frage nachgehen, wie Biografien zu einer „östlichen“ bzw. „westlichen“ werden. Allerdings betonen sie ebenso, dass es „auch Gegenstand der Betrachtung [ist], an welchen Stellen eine derartige Kategorie wenig Sinn macht und die Dualität von Ost und West aufgelöst werden sollte.“ (S. 10) Sie verweisen damit darauf, dass andere Dimensionen – wie z. B. Generation, soziale Schicht oder kulturelle Zugehörigkeit – die Kategorien „Ost/West“ überlagern können. (vgl. S. 10)

Die internationale (z. B. Finnland, Schweiz, Deutschland, Ungarn, Russland, Großbritannien) und interdisziplinäre Herkunft (von Erziehungswissenschaften über Soziologie und Geographie bis zur Sozialarbeit und Sprachwissenschaften) der am Sammelband beteiligten Autorinnen bereichert die Behandlung des Themas Konstruktion von Biografie und Geschlecht durch ein breites Spektrum von Perspektiven.

Zu den Inhalten der einzelnen Beiträge

Der Sammelband Geschlechterkonstruktionen in Ost und West ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil „Geschlecht, Biografie und Transformation“ beschäftigt sich eingangs die Erziehungswissenschaftlerin Bettina Dausien aus einer theoretischen Perspektive mit dem Verhältnis von Biografie und Geschlecht. Dabei wirft sie zunächst die allgemeine Frage auf, „ob und wenn ja, welche gemeinsamen Strukturen […] sich über die Grenzen von politischen Systemen, Kulturen und Lebenswelten hinweg [überhaupt] rekonstruieren lassen.“ (S. 19) Sie skizziert im Folgenden ihr Verständnis von „Theorie“ im Kontext der Biografieforschung und zeigt – sehr anregend, aber etwas kurz und knapp – reflexiv-konstruktive Forschungsperspektiven auf. Die beiden folgenden Beiträge von Ingrid Miethe und von Elena Zdravomyslova und Anna Temkina befassen sich mit der Entwicklung der Geschlechterforschung in Ost und Westdeutschland seit 1989 einerseits und im postsozialistischen Russland andererseits. Die Autorinnen untersuchen jeweils die sich wandelnde Funktion von Biografien bzw. von Biografieforschung im wissenschaftlichen Diskurs.

Sowohl im zweiten Teil des Buches „Soziale Konstruktion von Geschlecht“ als auch im dritten Teil „Arbeit, Beruf und Alltag“ sind verschiedene empirische Studien zusammengestellt worden, die spannende neue Einsichten bieten. So befasst sich Sylka Scholz am Beispiel von ostdeutschen Männern damit, wie Männlichkeit in biografischen Erzählungen konstruiert wird. Christine Thon analysiert die Biografien von jungen westdeutschen Frauen und verweist auf die Widersprüchlichkeiten und Schwierigkeiten der Überwindung von traditionellen Geschlechterverhältnissen. Im Unterschied zu den Autorinnen der folgenden Beiträge gehen Scholz und Thon davon aus, dass die ostdeutsche bzw. westdeutsche Verortung ihrer Gesprächspartner/-innen durchaus eine wichtige Rolle bei der jeweiligen Konstruktion von Geschlecht spielt. Die Autorinnen der beiden nächsten Beiträge, Nadja Lehmann und Kristina Reiss, hinterfragen hingegen den Sinn einer dualen Kategorisierung. Lehmann tut dies am Beispiel der Migrationsbiografie einer rumänischen Roma, die Sprachwissenschaftlerin Reiss analysiert das Genderbewusstsein in der Sprache von Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland.

Mit dem Artikel von Mechthild Bereswill beginnt der dritte Teil des Buches, in dem der Bereich der Erwerbsarbeit im Vordergrund steht. Bereswil thematisiert am Beispiel von jungen ost- und westdeutschen Männern die Bedeutung von „Arbeit“ für deren Selbstentwürfe. Ute Luise Fischer und Eszter Zsófia Tóth beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit Erwerbsbiografien im Transformationsprozess am Beispiel von Frauen in Sachsen und Akkordarbeiterinnen in Ungarn. Jutta Wergen und Stefanie Sauer setzen sich mit der Konstruktion von Geschlecht am Beispiel von Frauen in Männerberufen einerseits und am Beispiel der Familienbiografie eines Ehepaares in Westdeutschland andererseits auseinander. Die zentrale und vor allem auch sinn- und identitätsstiftende Bedeutung von Arbeit für das Leben von Menschen wird sehr eindrücklich in dem Beitrag von Eva Maeder und Jolanda Nydegger deutlich, die in ihrem Artikel vom Frauenalltag in Ostsibirien und dem Schweizer Prättigau erzählen. Gerade weil der Bezug auf Arbeit ein wesentliches Element bei autobiografischen Berichten ist, werden in den in diesem Abschnitt zusammengestellten Beiträgen die systemspezifischen Entstehungsbedingungen gesellschaftlicher und geschlechtsgebundener Normalitätsvorstellungen besonders gut sichtbar.

Der vierte Teil des Sammelbandes enthält zwei Beiträge, in denen es um das Thema der Entwicklung von feministischen Diskursen in Ost und West geht. Während Myra Marx Ferree die Entwicklung des deutschen und amerikanischen Feminismus vergleicht, diskutieren im letzten Beitrag Ute Gerhard und Ingrid Miethe aus einer Ost- und einer Westperspektive verschiedene Positionen und Auseinandersetzungen der feministischen Diskurse in Ost- und West.

Fazit

Der alles in allem gut gelungene Sammelband Geschlechterkonstruktionen in Ost und West ist für alle lohnend, die sich mit dem Thema der Konstruktion von Geschlecht auseinandersetzen wollen. Vor allem die empirischen Beiträge des Sammelbandes bieten spannende neue Einsichten. Als Geographin hätte mich allerdings eine stärker fokussierte Analyse der Abhängigkeit von Geschlechterkonstruktionen von ihrer konkreten räumlichen Verortung interessiert. Und ich hätte aus den Beiträgen zwei verschiedene Sammelbände gemacht: einen, in dem die Geschlechterkonstruktionen in Ost und West aus biografischer Perspektive im Vordergrund stehen, und einen, in dem es stärker um die Rolle der Biografie(-forschung) und die Entwicklung der Geschlechterforschung im Zusammenhang mit Transformation geht.

URN urn:nbn:de:0114-qn071221

Dr. Michaela Schier

Ludwig-Maximilians-Universität München, Seminar für Sozialwissenschaftliche Geographie, Sektion Geographie, Department f. Geo- u. Umweltwissenschaften

E-Mail: michaela.schier@lmu.de

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