Frauen. Kultur. Mittel- und Osteuropa oder: Über den langsamen Einzug der gender studies in die slawistischen Kulturwissenschaften

Rezension von Barbara Wurm und Ursula Doleschal

Christine Engel, Renate Reck (Hg.):

Frauen in der Kultur.

Tendenzen in Mittel- und Osteuropa nach der Wende.

Innsbruck: Inst. f. Sprachwissenschaft 2000.

256 Seiten, ISBN 3–85124–199–1, DM 80,00 / sFr 68.00/ ÖS 560,00

Abstract: Der vorliegende Sammelband, entstanden anläßlich einer Konferenz, die im September 1997 vom Institut für Slawistik der Universität Innsbruck in Zusammenarbeit mit der österreichischen UNESCO-Kommission veranstaltet wurde, untersucht aus soziologischer, kulturhistorischer, literatur- und filmwissenschaftlicher Perspektive verschiedenste Aspekte der Institutionalisierung und Repräsentation von „Frauen in der Kultur“ Mittel- und Osteuropas.

Mit dem übergeordneten Ziel, Frauen- und Geschlechterforschung in der Slawistik zu etablieren, reiht sich das Buch ein in eine Serie ähnlicher Unternehmungen der letzten Jahre, darunter der Erfurter Konferenzband „Frauenbilder und Weiblichkeitsentwürfe in der russischen Frauenprosa“ (hg. v. Christina Parnell, 1996), der Sammelband englischer, russischer und amerikanischer Slawist/-innen „Gender and Russian Literature“ (Cambridge 1996, hg. v. Rosalind Marsh) sowie Publikationen und Kooperationen mit russischen Frauenforscherinnen der Freiburger Slawistinnen Elisabeth Cheauré und Carolin Heyder.

Zu Titel und Gliederung des Bandes

Der Band umfaßt 20 Aufsätze, die in vier Kapitel gegliedert sind und von einem Vorwort der Herausgeberinnen, den Innsbrucker Slawistinnen Christine Engel und Renate Reck, sowie einem Nachwort der Vertreterin der österreichischen UNESCO-Kommission, Dorothea Gaudart, umrahmt werden. Die Beiträge stammen von Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen aus sieben Staaten (Bulgarien, Deutschland, Österreich, Polen, Rußland, Tschechien, Weißrußland), wobei ca. die Hälfte der Artikel in deutscher, die andere Hälfte in russischer Sprache verfaßt ist.

Sowohl der Titel des Bandes als auch die Gliederung in die vier Abschnitte „Frauen im Kulturbetrieb“ (1), „Genderspezifische Auswirkungen des soziokulturellen Wandels“ (2), „Feministischer Diskurs als Überwindung der Geschlechterdichotomie“ (3) sowie „Repräsentation und Weibliches Schreiben“ (4) sind der Heterogenität der einzelnen Beiträge geschuldet, mit der die Herausgeberinnen konfrontiert waren. Der sehr allgemein gehaltene Titel „Frauen in der Kultur“ ist denn tatsächlich der kleinste gemeinsame Nenner der Einzelstudien. In weiten Teilen behandeln diese politisch und künstlerisch aktive Frauen sowie die sozialen, wirtschaftlichen und teilweise kulturellen Bedingungen des „Frau-Seins“ in den (post-)kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas. Implizit wird so auch „Kultur“ zu einem allumfassenden Begriff, der institutionelle, nationale, geographische, soziopolitische und künstlerische Aspekte einschließt.

Die eher empirisch ausgerichteten Untersuchungen der ersten beiden Kapitel, die „Frauen“ als Subjekte des kulturellen Lebens fokussieren, lassen sich mit einer zweiten Gruppe von Arbeiten kontrastieren, die Frauen, Feminismus und Weiblichkeit als Objekte diskursiver und kultureller Praktiken betrachten (Kapitel drei und vier).

Tendenzen der Frauen- und Geschlechterforschung in den slawistischen Kulturwissenschaften

Die parallele, vergleichende Darstellung der (westlichen und östlichen) gender-Perspektiven, eines „hüben und drüben“ (S. XIV), verbindet sich im Vorwort mit einer zweiten Grundtendenz, nämlich der Hervorhebung der Bedeutung des gesellschaftlichen Umbruchs in Ost- und Mitteleuropa, der für Frauen neue Möglichkeiten, aber auch neue Gefahren darstellt. Wie die Herausgeberinnen betonen, sollten die slawistischen Institute als „grenzüberschreitende Plattformen“ (S. XI) verstanden werden. Die daraus resultierenden Kooperationen bewegen sich aber in derselben ambivalenten Situation, wie sie schon der Umbruch zeigte: So können sowohl positive als auch negative Tendenzen verzeichnet werden.

Positiv werten lassen sich in erster Linie Aktivitäten im institutionellen Bereich wie der Aufbau feministischer Bibliotheken, Koordinationszentren und elektronischer Netzwerke, der verstärkte Austausch von Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen sowie die Zusammenarbeit mit bereits existierenden (nichtstaatlichen) Organisationen und Publikationsreihen wie bspw. der Moskauer Zeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung „Preobraženie“. Negativ zu bezeichnen ist hingegen das (dabei) konstatierte „Ost-West-Gefälle“, das als Problem der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Cheauré) verstanden werden kann. Dieses betrifft die Ressentiments und Vorurteile, mit denen sich „westliche“ und „östliche“ Standpunkte gegenüberstehen, etwa die „mystische Überhöhung von Weiblichkeit, die aus westeuropäischer Perspektive deutlich misogyne Elemente enthält“ (S. XV), oder die von Brigitte Obermayr und Christina Parnell beobachtete Ablehnung russischer feministischer Schriftstellerinnen bzw. die Weigerung osteuropäischer Wissenschaftlerinnen, sich mit in der westlichen Frauen- und Geschlechterforschung etablierten theoretischen Paradigmen auseinanderzusetzen.

In dem hier besprochenen Sammelband kann allerdings eine intensive Einbindung von aktuellen gender-Theoremen nur den Autorinnen des dritten sowie teilweise des vierten Kapitels zugesprochen werden, was aber weniger an einem „Ost-West-Gefälle“ als daran liegt, daß die meisten Beiträge (v. a. der ersten beiden Kapitel) eine Art Bestandsaufnahme einzelner Aspekte der Lebens-, Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen Ost- und Mitteleuropas darstellen. Mit welcher Hartnäckigkeit gerade Forscherinnen und Künstlerinnen aus häufig unterrepräsentierten Ländern (Tschechien, Weißrußland, Polen, aber auch Österreich) auf soziale Benachteiligungen reagieren, belegt die verstärkt spürbare und artikulierte Notwendigkeit realer Maßnahmen für eine Geschlechterdemokratie und für die Gleichstellung von Frauen im kulturellen Bereich.

So kann man durchaus (auch die qualitative) Heterogenität der Artikel als zwischenzeitlichen Zustand der slawistischen gender studies werten. Die hier gesammelten unterschiedlichen Interessen, Ambitionen, Intentionen und ideologischen Standpunkte (auch darüber, in welchem Verhältnis Frauen- und Geschlechterforschung zu den Kulturwissenschaften steht,) können als charakteristisch für die derzeitige Umbruchsphase betrachtet werden, die nicht nur die sozialen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa, sondern auch universitäre Einrichtungen betrifft, – finden sich doch ehemals (und zum Teil immer noch) philologische Institute in der Rolle kulturwissenschaftlicher Einrichtungen wieder, deren Aufgaben und Möglichkeiten noch lange nicht ausdiskutiert sind.

Aufgrund der angesprochenen Vielfalt der in dem vorliegenden Band verhandelten Aspekte seien nun die Einzelstudien – den vier Kapiteln entsprechend – jeweils kurz besprochen

„Frauen im Kulturbetrieb“

Christine Engel bietet eine allgemeine Darstellung der Rolle des Kulturbetriebs in sozialistischer Zeit im Vergleich mit den vergangenen zehn Jahren seit 1989/90. Sie beschreibt eine Ablösung der zentralistisch organisierten und in eine offizielle und eine inoffizielle geteilte Kultur durch eine am „Markt“ orientierte Szene. Wenn von einer Überbewertung der Kultur in der sozialistischen Zeit gesprochen werden kann, so ist man in Mittel- und Osteuropa heute generell mit einer Unterbewertung konfrontiert. Die Befreiung des Kulturbetriebs aus ideologischen und organisatorischen Zwängen bringt daher einerseits ein Potential an neuen Möglichkeiten, u. a. auch für die Artikulation von Frauen und für das Aufkommen neuer Diskurse. Gleichzeitig ist die Gefahr groß, daß diese den neuen Zwängen des Marktes, der Vermarktung und Vermarktbarkeit, unterworfen und nicht gehört werden.

Elena Trofimova geht in ihrem Artikel „Ženskaja literatura i knigoizdanie v sovremennoj Rossii(Frauenliteratur und Buchherausgabe im heutigen Rußland) der Frage nach, was denn eigentlich „Frauenliteratur“ sei. Sie definiert diese als „von Frauen verfaßte Literatur“ und stellt deren Entwicklung und (geringe) Rezeption in der Geschichte der russischen Literatur dar. Genauer geht sie auf die verschiedenen Strömungen und Genres der gegenwärtigen russischen Frauenliteratur ein und zeigt auf, wovon deren Erfolg bei verschiedenen Leser/-innenkreisen abhängt. Ein Resümee in einer anderen Sprache als Russisch wäre wünschenswert, um diesen äußerst interessanten Artikel einem weiteren Kreis zugänglich zu machen.

Svetlana Vasilenko, eine der wichtigsten Schriftsteller/-innen der russischen Gegenwartsliteratur, beschreibt in „Novye amazonki“ (Die neuen Amazonen) die selbst erlebte Geschichte der Entstehung der gleichnamigen Schriftstellerinnenvereinigung, die „den Feminismus neu erfand“, weil sie ihn nicht kannte, und den Grundstein für die Publikationsmöglichkeiten der neuen russischen Frauenliteratur legte, welche von der offiziellen Verlagswelt in der Perestroikazeit wegen ihrer weiblichen Thematik abgewertet und ausgeschlossen wurde.

Ähnlich wie der Beitrag Trofimovas auf Rußland bezieht sich der Artikel von Miglena Nikolčinaauf die Frauenliteratur im Nachkriegsbulgarien und heute. Sie zeigt deren Entwicklung in verschiedenen Etappen sowie die Rezeption der modernen Genderproblematik durch die Kritik auf. Die moderne bulgarische Frauenliteratur ist interessanterweise trotz erheblicher kommerzieller Schwierigkeiten besonders auf dem Gebiet der Poesie gut vertreten und erfolgreich.

In den Beiträgen von Julija Cenova und Nancy Van de Vate geht es um Musikschaffende in Bulgarien einerseits, in Österreich andererseits. In Bulgarien haben Frauen in der Popmusik und in der traditionalistischen Volksmusik Chancen, für Österreich wird vor allem die gegen null gehende Rezeption weiblicher Komponistinnen beklagt.

Der Aufsatz von Minna Antova ist der Situation in der bildenden Kunst in Österreich, dem Frauenanteil und den Förderungsmöglichkeiten gewidmet. In der bildenden Kunst, wie auch in anderen Bereichen des Kulturbetriebs, zeigt sich die Dichotomie zwischen der Kunst von Männern, die einfach als „Kunst an sich“ wahrgenommen wird, und der Kunst von Frauen, die als „Frauenkunst“ betrachtet wird. Diese zentrale Erfahrung wird allerdings nicht abstrahierend betrachtet. Man könnte sich in diesem Zusammenhang die Frage nach dem „spezifisch Weiblichen“ der „Frauenkunst“ stellen bzw. die Frage, ob es so etwas überhaupt gibt.

„Genderspezifische Auswirkungen des soziokulturellen Wandels“

Hartmute Trepper stellt die Hypothese auf, daß die Frauenbewegung in Rußland heute ein erhebliches Potential hat, da sich die Frauen nicht als historisch benachteiligt und als Opfer von Diskriminierung begreifen. Die Autorin geht davon aus, daß das Selbstbewußtsein russischer Hausfrauen (eigentlich „Hausherrinnen“) ein ganz anderes ist als jenes westlicher Frauen. Leider belegt sie diese interessante Hypothese nicht. Es folgt eine detaillierte Darstellung des Frauennetzwerks auf der Halbinsel Kola, das sie als eine zukunftsweisende kulturelle Organisationsform ansieht. Dabei betont sie in ganz realistischer Weise den Wert einer traditionell weiblichen „Fürsorge- und Verantwortungsethik“.

Ljubov‘ Štyleva schreibt über die Situation der Lehrer (sic!) in Rußland, von denen 75% Frauen sind. Der Artikel ist auch nur insofern geschlechtsspezifisch als es um die psychologischen und sozialen Belastungen der Pädagog/-innen sowie um Auswege aus der derzeitigen Krise geht.

Der Artikel von Ljudmila Petina bietet eine interessante Analyse des politischen Verhaltens der Frauen in Weißrußland. Nach geltendem weißrussischen Recht sind Frauen und Männer bezüglich des aktiven und passiven Wahlrechts gleichgestellt. Nichtsdestoweniger gibt es keine Frauen in politisch entscheidenden Positionen. Die Autorin verweist auf die sowjetische Tradition, eine Frauenquote von 30% in den verschiedenen Gremien herzustellen, wobei die Frauen die Arbeiter- und Bauernklasse repräsentierten, jedoch nie in Machtpositionen vorgelassen wurden. Der Mythos von der Gleichberechtigung der Frauen wurde auf diese Weise scheinbar belegt und hält sich auch im heutigen Weißrußland hartnäckig. Auch die Praxis des derzeitigen Präsidenten Lukašenko steht in der sowjetischen Quotentradition. Nichtsdestoweniger gab es in der ersten Hälfte der neunziger Jahre eine aktive politische Beteiligung von Frauen, das Entstehen von Frauenorganisationen und einer Frauenpartei. Diese Bemühungen wurden jedoch durch die autoritären Maßnahmen Lukašenkos in ihrer Wirkung stark gebremst. Dennoch sieht die Autorin eine Veränderung des politischen Bewußtseins der Frauen sowie auch des Bildes der Politikerin.

Marta Pelinka-Marková weist darauf hin, daß das Selbstbild der tschechischen Frauen stets ein ganz anderes war als jenes der westeuropäischen Frauenbewegung: An erster Stelle standen und stehen immer die allgemeinen Menschenrechte und nicht das „spezifisch Weibliche“. An eine abrißartige Darstellung wichtiger weiblicher Persönlichkeiten seit dem Ersten Weltkrieg schließt eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen sozialen, politischen und psychologischen Situation der Frauen in der tschechischen Republik, die insgesamt als nicht positiv einzuschätzen ist, an.

„Feministischer Diskurs als Überwindung der Geschlechterdichotomie“

Im Anschluß an eine bereits publizierte Auswertung von Arbeiten aus dem akademischen Bereich behandelt Elisabeth Cheauré hier die Spezifika des russischen Feminismus-Diskurses anhand von populär(wissenschaftlich)en Texten aus der Tages- und Wochenpresse. Die Untersuchung konzentriert sich auf drei Aspekte: den Rollenwandel im Rahmen des kulturellen und politisch-ideologischen Umbruchs, die Rede von der „natürlichen Bestimmung“ der Frau und die Rolle des Feminismus. Ausgehend von der den russischen Diskurs prägenden Verquickung zweier zentraler Binnendiskurse (russophil-konservativ vs. westlich-fortschrittlich) verweist Cheauré auf die Widersprüchlichkeit der Rolle der Frau in der postkommunistischen Gesellschaft. Die für den „Westen“ paradoxal erscheinende „Restauration bürgerlich-konservativer Genderkonstruktionen“ (S. 133), die als emanzipatorisch ausgeschilderte Reaktivierung von Idealen des „weiblichen Wesens“ (Menschlichkeit, Opferbereitschaft, Natürlichkeit, Feminität, Mutterrolle), die für gesellschaftliche Krisen in Rußland traditionelle Instrumentalisierung der „Frauenfrage“ sowie die dort allgemein vorherrschende Auffassung vom Feminismus als „wesensfremd“ und un- bzw. antirussisch veranlassen die Autorin zu einer pessimistischen Einschätzung der Entwicklung der Geschlechterverhältnisse in Rußland.

Anders als Cheauré, weil weniger auf empirische Daten setzend, stellt Brigitte Obermayrs Ansatz, sowohl „Rußland“ als auch „Frau“ als Konzeptualisierungen, d. h. als diskursives Produkt einer primär binären Denkpraxis zu verstehen, den theoretisch wohl innovativsten Versuch dieses Bandes dar, gender studies nicht nur im Bereich der slawistischen Literatur- bzw. Kulturwissenschaften zu integrieren, sondern grundlegende Postulate (Butler, Grosz, Foucault) zu diskutieren. Daß diese dichotomischen Strukturen in einer bigeschlechtlich und performativ orientierten künstlerischen Reflexion von Körperdispositionen subvertiert werden können und werden, versucht die Autorin am Beispiel der visuellen Kunst zu zeigen: Skulpturen Vera Muchinas aus den 20er und 30er Jahren (darunter das berühmte Sowjetpaar „Arbeiter und Bäuerin“) werden Photomontagen und eine Graphik der 90er Jahre gegenübergestellt – wobei gerade die Analyse der Arbeiten und die Rückbindung an die theoretischen Postulate leider etwas kurz geraten sind. Allerdings kann selbst ein für die Argumentation eher ungünstiger Setzfehler – die Reihenfolge der vorgestellten visuellen Arbeiten wurde vertauscht – die Signifikanz des Projektes von Obermayr nicht verdecken. Diese besteht darin, daß gegen eine in den slawistischen gender studies nachgerade hegemoniale „anklagende Diskriminierungsgeschichte“ (S. 155) hier für das Aufzeigen der „Genealogie einer Positionierung der Frau und des Weiblichen, einer Genealogie der Territorialisierungen“ (ebd.) plädiert wird.

Diesem Versuch einer intermedial ausgerichteten Dekonstruktion der Zuschreibungen von Geschlechteridentität(en) steht Christina Parnells Anwendung von gender-Theoremen v. a. Julia Kristevas und Luce Irigarays auf Texte der russischen Gegenwartsliteratur von Frauen gegenüber (Eva Datnova, Elena Sazanovič, Nina Sadur, Svetlana Vasilenko). Den Hintergrund der sehr differenzierten und komplexen Textanalysen bildetdie von Parnell postulierte Auffassung der „Weiblichkeitsdiskussion“ als „Differenzdiskussion“, wobei immer wieder eine „echte Differenz“ anvisiert wird, die nicht-dichotomisch und die Opposition männlich/weiblich zu subvertieren in der Lage sei. Dennoch werden die Texte aber zum Teil als Beleg für eine spezifisch weibliche, „auf sich selbst bezogene Subjektivität, die sich auf der Grundlage eigener biologischer und sozialer Erfahrung gründet“ (S. 159), gelesen.

„Repräsentation und weibliches Schreiben“

Einen grundsätzlich ähnlichen Standpunkt bei einer gänzlich divergierenden, hermeneutischen Herangehensweise vertritt Maria Cymborska-Leboda, die auf dem Umweg über das kulturelle Zeichensystem der Frage nach der Interpretation des „weiblichen Prinzips“ bzw. „weiblichen Elements“ in russischen philosophischen und künstlerischen Texten des 20. Jahrhunderts zur „Frauenfrage“ nachgeht. Ihre kulturologische Lektüre symbolistischer und futuristischer Autor/-innen (Nikolaj Berdjaev, Vjačeslav Ivanov, Andrej Belyj, Elena Guro) verläßt allerdings nach und nach eine analytische Position und gerät zunehmend zu einer Suche nach einem allgemein „weiblichen Ich bin“ (S. 179). Auf diese Weise wird der Lebenstext zu einem Lebenstext, werden kultursemiotische Konzeptionen des Weiblichen als dionysischem, organischem, lebensrettendem und -schaffendem, kreativem Prinzip in anthropologisch begründete ethische Grundsätze verwandelt.

Gerade durch die strenge Einhaltung der analytischen Position und durch die hervorragende Einbindung literaturtheoretischer Positionen von Paul de Man, Stephen Greenblatt, Barbara Johnson, D.C. Stanton und Slavoj Žižek zeichnet sich der bohemistische Artikel Anja Tippnersaus. Vier Texte tschechischer Autorinnen (Tereza Boučková, Zuzana Brabcová, Daniela Hodrová und Sylvie Richterová) stellen die Materialbasis für eine sorgfältige und differenzierte Diskussion autobiographischen Schreibens der letzten 20 Jahre dar. Thematisiert werden die gleichzeitige Aufwertung des Biographischen und des Metafiktionalen in der neueren tschechischen Literatur, der autobiographische Status der Texte (insbesondere in bezug auf die Dominanz von Paratexten), die Dialogizitätsmodelle in den Texten (u. a. Intertextualität) sowie die Dualität von Mutterschaft/ Weiblichkeit einerseits und Vaterschaft/ Autorschaft andererseits, die sich in der Indifferenz der Texte in bezug auf Geschlechterfragen zeigt und gleichzeitig das Dilemma schreibender Frauen (und Töchter) ausmacht.

Tamara Levajas interessante Darstellung der künstlerischen Karriere der russischen Komponistin Sofija Gubajdulina fokussiert die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen für die Arbeit der in der Sowjetunion verpönten Musiker/-innen. Die Thematisierung der Spezifik weiblichen künstlerischen Schaffens überläßt Levaja dem Poeten Iossif Brodskij, dessen Beurteilung der Dichterin Bella Achmadulina („Die Entfaltung ihrer Gedichte gleicht einer Rose, sie ist zentripetal und deutlich von einer gespannten weiblichen Aufmerksamkeit für das Detail gekennzeichnet, einer gespannten Aufmerksamkeit, die man auch anders, Liebe, nennen kann.“) analog für die Gubajdulina übernommen wird.

Steht der musikwissenschaftliche Aufsatz von Levaja im vierten Kapitel relativ isoliert da, so sind die filmwissenschaftlichen Beiträge von Renate Reck, Eva Binder und Elena Stišova thematisch am engsten miteinander verbunden. Renate Reck konzentriert sich auf das „Bild der Frau“ in neueren russischen Filmen (darunter die Kultfilme Malen‘kaja Vera (Kleine Vera, 1988), Interdevočka(Intergirl, 1989).

Im Gegensatz zu ihrer eher inhaltsorientierten und theoretisch wenig reflektierten Untersuchung gelingt Eva Binders Analyse von „Frauenrollen“ im russischen Film der 90er Jahre mit Querverweisen auf die 20er bis 60er Jahre eine historisch und theoretisch gleichermaßen umfassende Kontextualisierung der Repräsentation genderspezifischer Rollenbilder in Filmen wie Utomlennye solncem (Die Sonne, die uns täuscht, 1994), God sobaki (Das Jahr des Hundes 1994) und Brat (1997).

Ist der Prototyp der Frauenrolle im russischen Film für Binder die „Nebenrolle“, so belegt Elena Stišovas virtuelle Reise durch das Land der Bolschewiken, daß sich das Aschenputtel (Zoluška) als mindestens ebenso hartnäckiges gender-Projekt des russisch-sowjetischen Films erweist. Obgleich sich die Autorin selbst von jeglichem wissenschaftlichen Anspruch lossagt, schafft gerade ihr Beitrag eine eindrucksvolle Verdeutlichung des Fiktionalisierungsprozesses des Individuums, insbesondere der „Frau“ in der russischen/ sowjetischen Gesellschaft. Sie erläutert, wie gesellschaftspolitische Vorgaben implizit und explizit im Film transportiert, aber auch reflektiert werden. Die Konfigurierung der Frauen als Aschenputtel zieht sich von sowjetischen Klassikern wie Dom na Trubnoj (Das Haus auf dem Trubnoj, 1928), Veselye rebjata (Lustige Burschen, 1934) und Svetlyj Put‘ (Der helle Weg, 1940) unterschwellig bis in die 90er Jahre.

Das Nachwort von Dorothea Gaudart über den „Status der Frau; internationale Konventionen und Resolutionen der Vereinten Nationen“ gibt eine abrißartige Darstellung der Entwicklung der politischen Bearbeitung und institutionellen Verankerung des Status der Frau durch die Vereinten Nationen seit 1945, wobei gesondert auf die Arbeit der Frauenstatuskommission der Vereinten Nationen und des Expertinnenkomitees zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau hingewiesen wird. Beide Gremien beobachten die Auswirkungen des sozialen und kulturellen Wandels in Mittel- und Osteuropa auf den Status der Frauen mit Besorgnis, welchen vor allem nicht nur eine Frauenpolitik, sondern eine Geschlechterpolitik entgegengesetzt werden soll. Dabei ist es wichtig, nicht nur Rechte auf der gesetzlichen Ebene durchzusetzen, sondern durch ein umfassendes Forschungs- und Informationsprogramm kulturell geprägten Vorurteilen entgegenzuwirken und so die Geschlechterdemokratie in allen Bereichen der Kultur zu ermöglichen.

Intermedialität – Interkulturalität – Interdisziplinarität

Einer doch sehr eindimensionalen Ausrichtung auf Frauen (sei es, was die Verfasserinnen der Beiträge betrifft, sei es in bezug auf die Forschungsobjekte) steht ein intermedialer, interkultureller und interdisziplinärer Ansatz gegenüber. Der Band, der sich als „länder-, fach- und disziplinübergreifendes Forum eines offenen Meinungsaustauschs“ (S. XI) versteht, ist international bzw. interkulturell, insofern er (endlich) mehr als nur russische Frauen zu Wort kommen läßt; er ist intermedial, insofern er (endlich) mehr als nur die Literatur behandelt, und er ist interdisziplinär, insofern Soziologinnen, Pädagoginnen, Historikerinnen, Literatur-, Film- und Musikwissenschaftlerinnen sowie Künstlerinnen beitragen.

Die potenzielle Zielgruppe – Literatur-, Kultur- und feministische Wissenschaftler/-innen aller Fachrichtungen – wird leider durch die Abfassung etwa der Hälfte der Beiträge auf Russisch stark eingeschränkt. Dies ist insbesondere zu bedauern, als gerade diese Beiträge Einblick in die „fremde“, im Westen so unbekannte Kultur geben. Zumindest Resümees in zugänglicheren Sprachen wären ein Desiderat. Positiv hervorzuheben ist die sorgfältige Redaktion und das vorbildliche Layout. Eine entsprechende textuelle Überarbeitung einzelner Beiträge wäre zu begrüßen gewesen, da in manchen Fällen die Autorinnen nicht so recht auf den Punkt kommen.

Die Vielfalt der interessanten Ansätze – thematisch und methodisch sowie auch Anspruch und Durchführung betreffend – ist gleichzeitig auch die Schwierigkeit dieses Sammelbandes. Die Heterogenität der Einzelstudien wird zwar im kurzen und strategisch klugen Vorwort angesprochen und durch die Zusammenstellung der vier Kapitel überbrückt, es findet jedoch weder eine Auseinandersetzung mit einer sich anbietenden interdisziplinären und interkulturellen Perspektive noch eine (meta-)theoretische Reflexion des Gegenstandsbereichs und der Forschungsparadigmen statt. Einzig der Beitrag „Rußland. Konzept. Frau“ (Brigitte Obermayr) bietet eine Perspektive an, aus der das Phänomen der Alterität (Rußland/der Osten als das Andere, die Frau als die/das Andere) als Imperialismusphänomen verstanden wird. Hier wird deutlich, daß der schwierige Einzug der gender studies in die Slawistik mit einem Übertragungs- bzw. Übernahmeproblem einhergeht. Dieses betrifft einerseits zentrale gender-Aspekte, wie die Frage, inwieweit bspw. Wissenschaftlichkeit und Feminismus, aber auch Weiblichkeit (als „positive“ Qualität, sei es „Femininität“, sei es „Mütterlichkeit“) konstitutive Bedingungen einer Frauenforschung sind, sowie andererseits die grundlegende Auffassung der Geschlechterdifferenz selbst und die Frage, wie sehr diese wiederum auf Erfahrung oder eben diskursive Konstruktionen zurückzuführen ist.

URN urn:nbn:de:0114-qn021034

Barbara Wurm

Universität Wien

E-Mail: a9102917@unet.univie.ac.at

Ursula Doleschal

Wirtschaftsuniversität Wien

E-Mail: ursula.doleschal@wu-wien.ac.at

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