Von Askese und anderen Exzessen

Rezension von Sebastian Möckel

Irmela Marei Krüger-Fürhoff, Tanja Nusser (Hg.):

Askese.

Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung.

Bielefeld: Aisthesis 2005.

252 Seiten, ISBN 3–89528–492–0, € 38,00

Abstract: Die Kulturtechnik der Askese wird in diesem detailreichen Sammelband in ihrer auf Selbstermächtigung einerseits und Selbstdisziplinierung andererseits beruhenden Ambivalenz dargestellt. Askese bringt Geschlechterordnungen hervor, kann diese aber auch unterlaufen. Die Ästhetik der Askese birgt kreatives, exzessives Potential.

Asketische Praktiken

Seit weit mehr als 2000 Jahren spielt Askese eine herausragende Rolle. Der vorliegende Band nähert sich dem Phänomen der Entsagung in einem weit gespannten Zugriff – die Themen reichen von der Antike bis in die Gegenwart. Auffallend ist dabei, dass insbesondere Umbruchszeiten für asketische Praktiken geeignet scheinen bzw. sie in diesen besonders prägnant hervortreten. In den Untersuchungen des Bandes sollen die Kontinuitäten, Verschiebungen und Brüche dieser Praktiken aufgezeigt werden. Wenn der Band auch interdisziplinär ausgerichtet ist, so dominiert doch die Literaturwissenschaft: nur zwei Beiträge beschäftigen sich mit nichtliterarischen Phänomenen. Neben jenen Ausführungen zu Askesekonzepten in Film und Ballett geht es den Autoren und Autorinnen um literarische Texte, die darin entworfenen Bilder und Semantiken von Askese sowie letztlich medientheoretisch um die Rolle asketischer Verfahren für die Entstehung von Literatur selbst. Der kulturwissenschaftliche Ansatz ist auf der Höhe der Zeit: die Beiträge verhandeln vor allem Praktiken und Performanzen von Askese, deren diskursive Gestaltung sowie ihr medienästhetisches Potenzial. Insgesamt sind die Beiträge in einer Archäologie der „Technologien des Selbst“ zu verorten, wobei sie die Ästhetik der Selbstkonstitution mit einbeziehen und fundiert werden durch die Überlegungen Michel Foucaults zu den „Selbsttechniken“. Dies erscheint plausibel, denn Askese spielt eine zentrale Rolle bei Foucaults Überlegungen zur Differenzierung der „Sorge um sich“ in der Spätantike. Nur wenig werden jedoch die Schwierigkeiten dieses Ansatzes, seine historischen Ungenauigkeiten, reflektiert. Insgesamt erweist sich der methodische Bezug aber als überaus fruchtbar.

Sehr deutlich zeigt der Band eine Koexistenz unterschiedlicher Askese-Konzepte. Die antike áskesis wird zunächst als körperliche und geistige Ertüchtigung verstanden. Mit Foucault wird sie als Übung bzw. Technik der „Selbstsorge“ gesehen. Die hierin wirkende Logik der „Selbstermächtigung“ steht im Gegensatz zu einem christlichen Askesekonzept, das vielmehr auf Selbstbeschränkung und hierin auf Selbstdisziplinierung zielt. Die Beiträge zeigen in vielfacher Weise, dass beide Techniken von Selbsttransformation in der Herausbildung des modernen Subjekts wirksam waren. Hinzu tritt die orientalische Askesevorstellung, die vor diesem Hintergrund eingebunden wird in „das ambivalente Wechselspiel zwischen Selbstaufgabe und Selbstermächtigung“ (S. 11). Asketische Praktiken lassen sich als exzessive Schwellenphänome lesen, sie „markieren die Grenze des Menschen […], hinter der ‚Menschsein‘ physisch und psychisch nicht mehr möglich ist“ (S. 10), sind aber von einer inhärenten „Überbietungslogik“ geprägt. Als „prozessuale Verfahren“ produzieren sie „kulturelle Körper“ und weisen soziale Identität zu (S. 10). Dies wird in den Beiträgen auf die Konstitution von Geschlecht bezogen.

Der Band ist in drei Sektionen gegliedert, die jedoch ein großes Maß an inneren Referenzen aufweisen. Inhaltliche Schwerpunkte sind Geschlechtskonstitution, Ästhetik und Prozessualität von Askese.

Selbstermächtigung und Geschlecht

Ruth Albrecht zeigt, dass im spätantiken Mönchtum „die asketischen Praktiken, wie sie von Männern und Frauen ausgeführt wurden […], sich nicht auf signifikante Weise voneinander unterscheiden“ (S. 29). Gleichwohl wird weibliche Askese als an männlichen Entsagungsmodellen orientierte Erlösung verstanden. In der Einheit der Geschlechter werden die Asketinnen als Stellvertreterinnen ihres gesamten genus gesehen. Die verbreiteten Nahrungswunder in der Frühen Neuzeit eröffnen, so Waltraud Pulz, den abstinenten Frauen einen eigenen Lebensraum. Die Transzendenz der Macht- und Rollenverhältnisse bleibt dabei eingebunden in die konfessionellen Auseinandersetzungen. Diese Selbstermächtigung „in religiöser Sprache“ oszilliert zwischen Betrug und tatsächlicher Heilserwartung.

Inge Stephan arbeitet die Doppeldeutigkeit des Konzepts der „Schönen Seele“ um 1800 heraus. Die komplexen Askesefigurationen lassen hinter der Keuschheit eine latente Lasterhaftigkeit durchscheinen. Darin wird ein „Gegenentwurf sowohl zu konventionellen wie revolutionären Bildern von Weiblichkeit“ (S. 69) spürbar. Claudia Breger fragt nach dem „Neben- und Ineinander“ von Askese und Verausgabung im „Dispositiv des Imperialismus“ um 1900. Dabei wird anhand von englischen Romanen das von europäischen Kolonisatoren entworfene Bild des indischen Asketen in seiner Ambivalenz herausgehoben. Die Identität hegemonialer Männlichkeit zeigt sich in der Hybridität seiner Lust, in der sich „Triebmacht und Triebbemächtigung“ (S. 82) verschränken.

Der schöne Körper der Askese

Die zweite Sektion eröffnet Barbara Thums mit einer Diskursanalyse zum Begriff der „Schönen Seele“ im 18. Jahrhundert. Die Tugendhaftigkeit sittlichen Handelns erweist sich als eingelagert in einen heterogenen Diskurs zur Diätetik. Die Suche und Übung des rechten Maßes evoziert nachgerade eine „hypertrophe Einbildungskraft“ (S. 104). Hieraus können zudem digressive Erzählstrategien sowie die Verknüpfung von Moral und Rhetorik plausibel gemacht werden. Christine Schmider weist im Werk Gustave Flauberts nach, wie die „charakteristischen Bilderfluten“ von La tentation de saint-Antoine durch die „Versagung der erotisch-sinnlichen Befriedigung“ ausgelöst werden (S. 115). Askese reizt zum Exzess und wird gleichermaßen als Motiv untersucht wie als poetologisches Verfahren und als schreibökonomisches Prinzip Flauberts.

Gabriele Brandstetter untersucht die Praxis weiblicher Körperformung zum „Kunstkörper und seiner Figuration als Ornament“ (S. 135). Das Exerzitium/Exercise, wie es der klassische Tanz im 19. Jahrhundert darbietet, wendet den religiösen Asketismus ins Ästhetische. Anhand von Kellers Tanzlegendchen wird diese Verschränkung vor dem Hintergrund einer ins sexuell Indifferente verschobenen Idee von Weiblichkeit sinnfällig. Wolfgang Kabatek greift das Motiv des hinduistischen Yogi im Kino der Weimarer Republik auf. Die zeitgenössischen Ikonografien orientalischer Askese dienen „vornehmlich als Authentisierungssignal“ (S. 162). Selbstkasteiung steht hier unter dem Zeichen der Expansion menschlicher Fähigkeiten. Askese als freiwillige Form des Verzichts lässt sich zudem als ästhetisches Prinzip im abstrakten Film der zwanziger Jahre finden.

Die Geburt der Literatur aus dem Geist der Askese

Auch Jörg Dünne greift auf den heiligen Antonius zurück, verortet die spätantiken Texte im Spannungsfeld von Oralität und Schriftlichkeit. Die Differenz zwischen dem Körper des Asketen und der medialen Vermittlung der Askesepraktik bringt allererst die rhetorisch amplifizierten „Phantasien der Askese“ hervor, wobei dieser Diskurs heterogene Weiblichkeitsentwürfe als Differenzbegriff enthält. Tanja Nusser erhellt, wie in E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüder eine erzählerische Bewegung initiiert wird, die eindeutige Referenzen verhindert und so als „Absage an einen Wahrheitsbegriff […], der einem asketischen Ideal folgt“ (S. 195) zu deuten ist. Das Erzählen selbst kann Sinnstiftung als asketischen Akt nicht mehr eindeutig vollziehen und führt in eine unaufhebbare Mehrdeutigkeit.

Elisabeth Strowick unternimmt den ambitionierten Versuch, Askese in ihrer modernen Form als „Hermeneutik des Verdachts“ fruchtbar zu machen, als „Selbstdisziplinierung im Dienst der ‚Mikrophysik der Macht‘“ (S. 207). Selbst-Erkenntnis wird zum Selbst-Verdacht verschoben: das asketische Ideal als ein gegen sich selbst gerichtetes Ressentiment verstanden. An Texten von Thomas Mann wird schließlich eine „Poetik des Verdachts entworfen“. Irmela Marei Krüger-Fürhoff kann an einer zeitgenössischen Novelle darstellen, „dass die asketische Selbstdisziplinierung […] nicht nur der (prekären) Konstitution von Identität, sondern auch der Etablierung von Autorschaft dien[t]“ (S. 231). Diese Autorschaft ist allerdings nicht mehr durch Authentizität geprägt, sondern entsteht in der Aneignung und Kopie asketischer Praktiken.

Fazit

Der Sammelband enthält eine reichhaltige und überaus lesenswerte Sammlung differenzierter Untersuchungen des Phänomens Askese und seiner Überbietungslogik. Er stellt einen wesentlicher Beitrag zur Geschichte der Subjektkonstitution und deren geschlechtsspezifischer und ästhetischer Verfasstheit dar. Er dürfte weitere Untersuchungen anregen und wird in der Askeseforschung Nachhall finden. Allein der Bogen in die Gegenwart hätte prägnanter ausfallen können, denn die Moderne erscheint vor dem Hintergrund der präsentierten Details tiefgreifend von asketischen Praktiken durchzogen.

URN urn:nbn:de:0114-qn063171

Sebastian Möckel

Berlin/Humboldt-Universität zu Berlin/Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“

E-Mail: sebastian.moeckel@gmx.net

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