Goethe und die Kindsmörderin

Rezension von Ursula Künning

Rüdiger Scholz (Hg.):

Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn.

Kindesmorde und Kindesmörderinnen im Weimar Carl Augusts und Goethes. Die Akten zu den Fällen Johanna Catharina Höhn, Maria Sophia Rost und Margaretha Dorothea Altwein.

Würzburg: Königshausen & Neumann 2004.

178 Seiten, ISBN 3–8260–2989–5, € 19,80

Abstract: Am 28. November 1783 wurde in Weimar die vierundzwanzigjährige Dienstmagd Johanna Catharina Höhn wegen der Tötung ihres neugeborenen Kindes hingerichtet. Maßgeblich beteiligt am Todesurteil war Johann Wolfgang von Goethe als Mitglied des Beratungsgremiums des Herzogs von Weimar Carl Gustav. Äußerst kritisch beurteilt Rüdiger Scholz in seinem Text die Goetherezeption, die bis in die Gegenwart hinein den Schriftsteller idealisiert und Rechtfertigungen für seine Mitwirkung am Schicksal der Johanna Catharina Höhn sucht.

Die Tat der Johanna Catharina Höhn

Rüdiger Scholz rekonstruiert anhand der Gerichtsakten und der spärlichen Informationen zur Person der Täterin sowie unter der Einbeziehung der sozialhistorischen Forschung über Kindesmord (vgl. S. 12) die Lebenssituation der jungen Frau und die Umstände, die letztlich zu der Kindstötung führten. Johanna Catharina Höhn war eine unverheiratete Dienstmagd und wäre nie in der Lage gewesen, das Kind und sich selbst zu ernähren. Über den Vater des Kindes gibt es keine Informationen. Obwohl eine Fürsorgepflicht der Dienstherren für die Geburt und für die Versorgung des Neugeborenen bestand, war nicht damit zu rechnen, dass die Arbeitgeber eine ledige Mutter unterstützten. Vielmehr wurden die Dienstboten ausgebeutet; die Gründung einer eigenen Familie wurde ihnen nicht zugestanden. Am 11. April 1783 brachte die junge Frau allein in ihrer Kammer ein Kind zur Welt und tötete es ihrer Aussage zufolge mit mehreren Messerstichen in den Hals. Schließlich verscharrte sie das tote Kind im Bettstroh und blieb selbst dort liegen bis zu ihrer Entdeckung am selben Tag. In der Untersuchungshaft im Weimarer Gefängnis gestand sie die Tat. Obwohl ihr Verteidiger das Geständnis anzweifelte, da er davon ausging, dass Johanna Catharina Höhn wegen Verwirrung und Geistestrübung zur Tatzeit nicht wissen konnte, ob das Kind überhaupt gelebt habe, wurde die Angeklagte zum Tode durch Hinrichtung mit dem Schwert verurteilt.

Goethe und das Todesurteil

Johanna Catharina Höhn wurde gemäß der geltenden so genannten peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 hingerichtet. Nicht nur in Weimar, sondern in vielen Teilen Europas wurde im Zuge der Aufklärung ein neuer Umgang mit Kindsmörderinnen gefordert. Die soziale und psychische Notlage der Täterinnen rückte in den Mittelpunkt, und es wurden Bestrebungen aktuell, die Todesstrafe für Kindsmörderinnen abzuschaffen. Zwei Jahre vor der Hinrichtung von Johanna Catharina Höhn unternahm Herzog Carl August erstmalig den Versuch, die Todesstrafe abzuschaffen, und begnadigte eine Kindsmörderin nach dem Todesurteil zu lebenslangem Zuchthaus. Im Fall Höhn wurde dennoch das Todesurteil gesprochen. Nach dem Urteil wurde Carl August vom Kanzler Carl Schmidt aufgefordert, zu dem Urteil Stellung zu nehmen. Zweifellos erwartete der Herzog von seinem dreiköpfigen Beratungsgremium, dem auch Goethe angehörte, Unterstützung in seinem Bestreben, die Todesstrafe für die Verurteilte in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe umzuwandeln. Dazu kam es jedoch nicht. Goethe unterschrieb ebenso wie die beiden anderen Räte sein Votum für die Beibehaltung des Todesurteils gegen Johanna Catharina Höhn, deren Schicksal damit endgültig besiegelt war.

Die Rezeption

Rüdiger Scholz stellt in seinem Buch zahlreiche Beispiele für Goethe-Darstellungen vor, die Goethes Verhalten noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts rechtfertigen und auf Kritik an ihm reagieren, ohne sich dabei auf eigene historische Forschung zu stützen. (vgl. S. 47) Einer der Rechtfertigungsversuche besteht im Wiederholen der Behauptung, dass Goethe sich mit seiner Unterschrift zum Todesurteil nur den Räten und dem Herzog als Befürworter der Todesstrafe angeschlossen haben soll. Scholz weist auf Grundlage der „relativ bequem“ (S. 57) zu recherchierenden Quellen nach, dass diese Annahme falsch ist. Es ist belegt, dass der Herzog ein Gegner der Todesstrafe und einer der Räte in seiner Entscheidung zumindest unentschlossen war. Goethe hatte bereits 1775 in seiner ersten Version des Fausts einfühlsam die Situation des Gretchens als Kindsmörderin dargestellt und zur Diskussion um die Abschaffung der Todesstrafe beigetragen. Scholz verdeutlicht, dass Goethe die Pflicht gehabt hätte, auf die Notlage und Paniksituation der Verurteilten hinzuweisen und daher eine „Berücksichtigung bei der Frage, Hinrichtung oder Begnadigung zu verlangen.“ (S. 28) Von der mehrheitlich scharf kritisierten aktuellen Goetherezeption wird das Werk von Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche, 1998 ausgenommen. Scholz weist darauf hin, dass Damms Darstellung auch in Bezug auf die Voten zum Todesurteil bislang am genauesten ist. (vgl. S. 49) Auch die neuesten Faust-Kommentare beurteilt Rüdiger Scholz kritisch, da „sie auf Goethes Votum für die Beibehaltung der Todesstrafe bei Kindsmord und auf den Fall Johanna Höhn überhaupt nicht eingehen. Bei diesem Thema versagen die Kommentare kläglich.“ (S. 51). Die Goetherezeption ist Rüdiger Scholz zufolge geprägt von einer Idealisierung Goethes „zum Vorbild der Menschlichkeit.“ (S. 57)

Das Weimar Goethes und die gesellschaftlichen Folgen

Dass Goethe, der mit Carl August befreundet und sein wichtigster Berater war, diesen bei der Abschaffung der Todesstrafe im Stich ließ (vgl. S. 38), hatte, so Rüdiger Scholz, „weitreichende Folgen“ (ebd.). Da weder Todesstrafe noch Folter abgeschafft wurde, „wurde Weimar im Vergleich zu anderen Staaten zu einem inhumanen, rückständigen Staat, ganz im Gegensatz zu dem Staatsbild, das der Herzog bei jeder Gelegenheit in der Öffentlichkeit vertrat“ (ebd.). Nach Scholz liegen hier die Ursachen der Trennung von politischem Handeln und Humanität. Ab diesem Zeitpunkt nahm „die unselige Trennung von künstlerischer Ethik und einer ganz anderen Ethik des praktischen Handelns […] ihren Ausgang. Seither verbreiterte sich die Kluft immer mehr und hat sich in der deutschen Geschichte bis 1945 nie mehr geschlossen.“ (S. 38 f.) Der Autor geht davon aus, dass die „nationale Größe Goethes und die Identifikation von weiten Teilen des Bürgertums mit einer Lichtgestalt der Humanität“ (S. 57) bis heute eine realistische Sicht auf Goethe verhindert. „Die Gespaltenheit der Persönlichkeit in den human denkenden und den inhuman handelnden Teil, wobei der erstere den letzteren psychisch und moralisch entlastet,“ (S. 57) ist für Rüdiger Scholz ein Erklärungsansatz für das Versagen „des von der deutschen Klassik geprägten deutschen Bürgertums im Faschismus.“ (ebd.)

Resümee

Rüdiger Scholz hat ein nicht nur für die Goetherezeption wichtiges und spannendes Buch geschrieben. Ergänzt werden seine Ausführungen zum Fall Johanna Catharina Höhn durch die Auszüge aus den Originalakten zu diesem Fall und zu zwei anderen Kindsmordfällen sowie durch Dokumente zur Rezeption von 1938 bis 1945. Ob das Buch, wie der Autor anstrebt, zur „Versachlichung“ (S. 6) der Diskussion um Goethe beiträgt, bleibt abzuwarten. Sein Ziel, dass das Schicksal der Johanna Catharina Höhn „mit dieser Dokumentation für immer der Vergessenheit entrissen“ (S. 7) wird, hat er auf hohem wissenschaftlichen und gesellschaftskritischen Niveau erreicht.

URN urn:nbn:de:0114-qn063168

Dipl.Soz.Päd. Ursula Künning

Freie Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaften

E-Mail: u.kuenning@freenet.de

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.