Grenzgängerin in der Frauenbewegung. Eine biographische Annäherung an Marie Stritt

Rezension von Katja Weller

Elke Schüller:

Marie Stritt.

Eine „kampffrohe Streiterin“ in der Frauenbewegung (1855–1928).

Königstein/Ts.: Ulrike Helmer 2005.

294 Seiten, ISBN 3–89741–178–4, € 29,90

Abstract: Im politischen Wirken der Frauenrechtlerin Marie Stritt (1855–1928) liefen unterschiedliche Traditionslinien der organisierten bürgerlichen Frauenbewegung zusammen. Stritt stand sowohl dem kleinen Kreis kompromissloser Stimmrechtsaktivistinnen und Sexualreformerinnen nahe, der damals wie heute häufig als ‚radikal‘ bezeichnet wird. Beeinflusst war sie aber auch von der als ‚gemäßigt‘ etikettierten Majorität im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF). Sie lehnte das Denken in vereinfachenden, polarisierenden Kategorien ab und bemühte sich vor allem in ihrer Funktion als Vorsitzende des BDF von 1899 bis 1910 um Vermittlung zwischen den konkurrierenden Frauenkreisen. Zu einer Zeit, in der sich die Frauenvereinsbewegung immer stärker ausdifferenzierte und politisierte, agierte Stritt an der Schnittstelle der verschiedenen treibenden Kräfte. Dass Marie Stritts Vita bislang nur oberflächlich untersucht wurde, erstaunt angesichts dieser herausgehobenen Bedeutung. Elke Schüllers quellengesättigte „biographische Annäherung“ (S. 89) füllt diese Forschungslücke jetzt dankenswerter Weise und bietet dabei neue Erkenntnisse über die Geschichte des BDF.

Marie Stritt, geborene Bacon, zählte zu ihrer Zeit zu den bekanntesten und wichtigsten Persönlichkeiten der historischen Frauenbewegung. In einflussreichen Positionen tätig, prägte sie die Entwicklung des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) im Wilhelminischen Kaiserreich maßgeblich mit. Dennoch ist ihr Name heute weit weniger bekannt als die Namen ihrer prominenten Mitstreiterinnen Gertrud Bäumer, Helene Lange oder Marianne Weber. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass von Stritt kaum autobiographische Zeugnisse überliefert sind. Fast ihr gesamter persönlicher Nachlass fiel 1944 den Flammen einer Brandbombe zum Opfer. Die wissenschaftliche Rekonstruktion ihre Biographie wurde zudem bislang nur unzureichend und lückenhaft vorangetrieben.

Der vorliegende Band von Elke Schüller setzt hier neue Maßstäbe. Im Rahmen eines am Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel angesiedelten Forschungsprojekts zu Stritts Leben und Werk hat die Frankfurter Sozialwissenschaftlerin alle nachweisbaren Quellen und Schriften von und über Stritt gesichtet und ausgewertet. Unschätzbarer Wert kommt dabei dem überraschenden Fund einer verloren geglaubten Quelle zu: Richard Ackner, ‚Urgroßneffe‘ Marie Stritts, stieß im privaten Nachlass ihrer Tochter Friederike auf ein bislang unbekanntes handschriftliches Fragment der ‚Lebenserinnerungen‘ der Frauenrechtlerin. So kann die Protagonistin im ersten Teil des vorliegenden Bandes selbst zu Wort kommen. In einer von Kerstin Wolff sorgsam redigierten und kommentierten Fassung wird das Dokument hier erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Detailreich und sehr persönlich schildert Stritt darin die Jahre ihrer Kindheit und Jugend. Schon 1876 jedoch – leider vor dem Zeitpunkt, an dem Stritts Engagement in der Frauenbewegung begann – brechen die Aufzeichnungen mitten im Satz ab. Wahrscheinlich, so vermutet Kerstin Wolff, wurden die Memoiren für eine Transkription geteilt (vgl. S. 17). Vieles spricht dafür, dass die ‚Lebenserinnerungen‘ ursprünglich in einer umfassenderen Form vorgelegen haben (vgl. S. 12). Sollte die zweite Hälfte wider Erwarten jemals wieder auftauchen, dürften sie eine besonders wertvolle Quelle für die Geschichte der Frauenbewegung sein. Einstweilen allerdings bietet die sehr gewissenhafte und ausgewogene wissenschaftliche Aufarbeitung von Stritts „politische[r] Biographie“ (S. 13), die Schüller im zweiten Band ihres Buches präsentiert, Ersatz.

Stationen eines bewegten Lebens

Marie Stritts Vita ist durch vielfach ungewöhnliche, eigenwillige Wege gekennzeichnet. Im wohlhabenden bildungsbürgerlichen Milieu der siebenbürgischen Kleinstadt Schäßburg aufgewachsen, erhielt sie eine für Mädchen in dieser Zeit überdurchschnittlich gründliche schulische Ausbildung. Anschließend besuchte sie – für eine junge bürgerliche Frau ebenfalls keine alltägliche Berufswahl – die Wiener Schauspielschule. Allerdings arbeitete sie nur kurze Zeit in ihrem Beruf. Während ihres ersten Engagements am Großherzoglichen Hoftheater in Karlsruhe lernte sie ihren späteren Mann, den Opernsänger Albert Stritt kennen. Nach der Geburt ihrer beiden gemeinsamen Kinder führte Stritt zunächst in erster Linie das Leben einer Ehefrau und Mutter.

Über Frankfurt am Main kam das Paar 1890 nach Dresden. Hier kam Stritt erstmals mit der bürgerlichen Frauenvereinsbewegung in Berührung. Der Kontakt entstand – wiederum bemerkenswert – über ihre Mutter. Therese Bacon nahm ihre Tochter zur Feier des 25jährigen Bestehens des Allgemeinen deutschen Frauenvereines nach Leipzig mit und stellte sie dort den führenden Vertreterinnen der Frauenbewegung vor. Stritt war schnell für die Sache gewonnen und widmete sich in den folgenden Jahren dem Aufbau lokaler Frauenorganisationen in Dresden. Ihrer Schauspielausbildung verdankte sie offenbar große rhetorische Fähigkeiten, die ihr rasch den Weg in die Führungskreise der Frauenbewegung ebneten. Seit 1896 war Stritt Mitglied im geschäftsführenden Vorstand des BDF und maßgeblich beteiligt an der Mobilisierung des „Frauenlandsturms“ gegen den Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches. Drei Jahre später wurde sie zur ersten Vorsitzenden des Bundes gewählt. Gleichzeitig übernahm sie die Herausgabe des Bundesorgans Centralblatt/Die Frauenfrage und konnte auf dieser Grundlage den Kurs des BDF ein gutes Jahrzehnt lang maßgeblich mitprägen. Und auch nach ihrem Rückzug vom Vorstandsposten behielt Stritt wichtige Funktionen innerhalb der Frauenbewegung: 1911 übernahm sie den Vorsitz des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht, seit 1913 arbeitete sie im Vorstand seines internationalen Dachverbandes, des Weltbundes für Frauenstimmrecht. Als das Frauenstimmrecht in Deutschland mit der Novemberrevolution 1918 Realität wurde, hatte Stritt die Blütezeit ihres politischen Schaffens allerdings bereits überschritten. Ihre Kandidatur für die DDP bei den Wahlen zur Nationalversammelung 1919 blieb erfolglos. Als Parteipolitikerin konnte sie nur drei Jahre lang, von 1919 bis 1922, als Dresdner Stadtverordnete verantwortlich wirken. Herausgehobene Ämter hatte sie zu diesem Zeitpunkt in der Frauenbewegung nicht mehr inne. 1921 stellte sie schließlich auch die Herausgabe der Frauenfrage ein. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Stritt zurückgezogen vom politischen Leben. Sie starb am 16. September 1928 an einem Herzschlag.

„Kampffrohe Streiterin“ zwischen den Lagern der Frauenbewegung

Die elf Jahre, in denen Stritt Erste Vorsitzende des BDF war, werden in der Forschung seit der 1976 erschienenen und seinerzeit bahnbrechenden Studie von Richard J. Evans über die historische Frauenbewegung in Deutschland (The Feminist Movement in Germany 1894–1933, London) immer wieder als ‚radikale‘ Ära charakterisiert. Mit der Wahl Gertrud Bäumers zu Stritts Nachfolgerin im Jahr 1910 sei diese Periode durch eine ‚gemäßigte‘ Ära abgelöst worden. Die Einstufung Stritts als ‚radikal‘ resultiert dabei aus ihrem anfänglich starken Engagement in der Rechtschutzbewegung. Hier war sie eingebunden in den kleinen, aber sehr regen Frauenkreis, der sich selbst gern als ‚radikal‘ bezeichnete: Minna Cauer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann etwa zählten zeitweilig zu ihren politischen Weggefährtinnen. Elke Schüllers detailreiche Rekonstruktion kann allerdings überzeugend zeigen, dass es sich bei diesem Frauenkreis keineswegs um eine stabile Bezugsgruppe handelte. Seit sie öffentlich in Erscheinung traten, zerfielen ‚die Radikalen‘ in verschiedene, oft konkurrierende und gegeneinander intrigierende Gruppen und Einzelpersonen. Als Stritt zur ersten Vorsitzenden des Bundes gewählt wurde, verunglimpften sie die ehemaligen Mitstreiterinnen als Verräterin der ‚radikalen‘ Sache. Gleichzeitig wurde sie wegen ihres entschiedenen Eintretens für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts und für eine konsequente internationale Kooperation der Frauenbewegung von der Mehrheit im BDF-Vorstand als zu ‚radikal‘ eingestuft. Stritt stand zwischen den Lagern und mochte sich selbst keiner Seite zuordnen. Die Bezeichnungen ‚gemäßigt‘ und ‚radikal‘ lehnte sie ab. Stattdessen bemühte sie sich, die gemeinsamen frauenpolitischen Ziele in den Vordergrund zu stellen und appellierte, der gemeinsamen Bewegung vor allem durch Geschlossenheit Durchsetzungskraft zu verleihen.

Wie Stritt innerhalb des BDF zwischen die Fronten geriet und dennoch unbeirrt an ihrem Kurs festhielt, beschreibt der vorliegenden Band ausgesprochen kurzweilig und spannend. Schüller lässt dabei in weiten Teile die Dokumente sprechen und vermeidet Wertungen. Angesichts der bislang prekären Quellenlage ist dies ein nachvollziehbares Vorgehen. Dennoch hätte die Studie gewonnen, wenn das historische Material ab und an deutlicher interpretiert und zu aktuellen Forschungsdiskussionen kritischer in Beziehung gesetzt worden wäre. Die Verdienste des Bandes schmälert diese Kritik freilich nicht. Schüller leistet Grundlagenarbeit. Das beeindruckend breite Quellen- und Literaturverzeichnis zu Stritts Leben und Werk wird im Anhang systematisch aufbereitet. Ein Personenregister erleichtert darüber hinaus die Suche nach gezielten Informationen. Auf diese Weise wird das Buch zur unentbehrlichen Arbeitshilfe für alle, die über die Geschichte der Frauenbewegung zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts arbeiten.

URN urn:nbn:de:0114-qn063263

Katja Weller

Universität Hamburg, Historisches Seminar

E-Mail: katja.weller@uni-hamburg.de

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