Nation, Norm, Geschlecht

Rezension von Gesine Fuchs

Sophia Kemlein (Hg.):

Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848–1918.

Osnabrück: fibre 2000.

260 Seiten, ISBN 3–929759–45–4, DM 58,00 / SFr 58,00

Carmen Scheide, Natali Stegmann (Hg.):

Normsetzung und -überschreitung. Geschlecht in der Geschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert.

Bochum: Winkler 1999.

70 Seiten, ISBN 3–930083–37–X, DM 44,50 / SFr 44,50

Abstract: Zwei Bände mit Konferenzbeiträgen geben erstmals einen deutschsprachigen Einblick in die Forschungen zur Geschlechtergeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, der sich nicht nur auf Rußland und die Sowjetunion bezieht, sondern auch die Geschichte kleinerer Nationen zugänglich macht. Ein weiterer Vorzug besteht in der Möglichkeit, Querverbindungen zwischen den Aufsätzen zu ziehen.

Von Konferenzbeiträgen …

Beide hier besprochenen Bücher sind Sammelbände mit überarbeiteten Konferenzbeiträgen. Geschlecht und Nationalismus ist das Ergebnis einer Konferenz des Deutschen Historischen Instituts in Warschau 1998 über „Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848–1918“, zu der es im Jahr 2000 bereits eine Folgekonferenz gab, die den Zeitraum von 1918 bis 1939 abdeckt (Veröffentlichung geplant). Der zweite Band, Normsetzung und -überschreitung, geht auf eine von Nachwuchswissenschaftlerinnen organisierte Tagung über „Emanzipationswege und -hemmnisse in den Geschichten polnischer, russischer und jüdischer Frauen“ zurück, die ebenfalls 1998 im mittlerweile abgewickelten Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Frankfurt/Main stattfand.

Das Instrumentarium der Geschlechtergeschichte, also die Frage nach sozialer Konstruktion und Verankerung von Geschlechterunterschieden, wird hier auf Mittel- und Osteuropa angewendet, was noch selten geschieht. In den letzten Jahren sind zwar zahlreiche englisch- und deutschsprachige Studien erschienen, die sich aber fast ausschließlich auf Rußland und die Sowjetunion beziehen. Hier wird nun ein neues Kapitel aufgeschlagen, und andere osteuropäische Länder finden die Aufmerksamkeit der Forscherinnen, die damit Osteuropa mit seinen Spezifika für die historische Geschlechterforschung zugänglich machen. In den vorliegenden Büchern fehlt Rußland nicht, Polen ist in beiden Bänden mit insgesamt sieben Beiträgen recht prominent vertreten, aber wir erhalten auch erste Einblicke in die fast unbekannte serbische Geschlechtergeschichte und in vergeschlechtlichte weißrussische, lettische und ukrainische Nationsbildungsprozesse.

… zu spannenden Querverbindungen

Es sind die Querverbindungen, die die Lektüre beider Bücher anregend machen und die neue Einsichten liefern. Es sind, auch zwischen den Bänden, sachliche und thematische Verknüpfungen möglich, denn trotz auferlegter Beschränkung ist die Themenbreite beachtlich

Geschlecht und Nation in Wechselwirkung

Geschlecht und Nationalismus versammelt Aufsätze zum Diskurs von „Geschlechterordnung und Nationalismus in Osteuropa“, fragt nach „Chancen und Grenzen weiblicher Emanzipation im Nationalismus“ und blickt auf „Geschlechter im Krieg“. Der Band beginnt mit einem einleitenden Essay von Charlotte Tacke, in dem sie Geschlecht und Nation als „Kategorien der Relation“ vorstellt und fragt, „welche spezifischen Aufwirkungen Geschlecht im Zuge der Nationalisierung im 19. Jahrhundert erfuhr, aber auch, wie die Differenz von Männlichkeit und Weiblichkeit die Konstruktion des Nationalen bestimmte, beförderte und durchsetzte“. (S. 16). Tacke plädiert neben einer Analyse der nationalen Diskurse nachdrücklich für den Einbezug sozialer Praktiken und Wahrnehmungen, was sich am polnischen Beispiel als positiv erweist: Über Frauen im frühen nationalen polnischen Diskurs informiert der Beitrag von Joanna Kurczewska; Bianka Pietrow-Ennker gibt einen Überblick über das Engagement von Frauen in der polnischen Nationalbewegung und erklärt die spezielle semi-öffentliche Rolle der Frauen als Erzieherinnen und Bewahrerinnen nationalen Erbes. Der spezifische und prägende Anteil der Polinnen am polnischen Nationsbildungsprozeß des 19. Jahrhunderts wird so deutlich herausgearbeitet. Die Forderung der polnischen Frauenbewegung nach sozialer und rechtlicher Gleichstellung war mit dem Diskurs der nationalen Emanzipation amalgamiert. Natali Stegmann zeigt in ihrem Aufsatz über die Frauenbewegung im Ersten Weltkrieg, wie diese allmählich ein starker Teil der nationalen Befreiung und weniger eines allgemeinen Demokratisierungsprozesses wurde (der davorliegende Zeitraum behandelt Stegmanns Beitrag über Leitfiguren in der polnischen Frauenbewegung vor 1918 in Normsetzungen und -überschreitungen). Kontroverses trägt Martha Bochachevsky-Chomiak bei, indem sie über die gescheiterte Kooperation von ukrainischen und polnischen Frauenorganisationen in Galizien Ende des 19. Jahrhunderts schreibt. Auf einem gemeinsamen Kongreß 1892 beispielsweise schlossen sich polnische Frauenorganisationen – auch mit nationaler Überheblichkeit gegenüber den Ukrainer/-innen ausgestattet – nicht der ukrainischen Forderung nach muttersprachlichem Unterricht an, weil das von der polnischen Nationalbewegung als unpatriotisch aufgefaßt worden wäre. „Feminism looked nationalism in the eye and withdrew“, resümiert die Autorin (S. 151). Olga Zdravomyslova und auch Ekaterina Cimbaeva untersuchen die Konstruktion des Gegensatzes von Weiblichkeit und Männlichkeit in der „russischer Idee“ im 19. Jahrhundert. Sowohl Cimbaevas Analyse der intellektuellen Wechselwirkungen zwischen dem Katholizismus russischer Damen und der „russischen Idee“ als auch Irina Novikovas Untersuchung zur Ausgestaltung lettischer Nationalbewegungen in Verbindung mit neuen pietistischen Erfahrungen von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit zeigen den Einfluß religiöser Erfahrungen auf Geschlechterrollen in nationalen Ideen (und in der lettischen Nationalbewegung lassen sich ähnliche Erziehungsaufgaben für Frauen wie bei den Polinnen finden).

Viele Normen, wenige Überschreitungen

Normsetzung und -überschreitung beginnt mit drei Beiträgen über „Geschlechterrollenbilder in Polen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert“, nämlich über die schon erwähnten Leitfiguren, über das Heiratsverhalten der Warschauer Bourgeoisie und über Modelle von Vaterschaft und Mutterschaft in der „Inteligencja“ der Zwischenkriegszeit. Ein zweiter Abschnitt widmet sich der „Geschlechterordnung im Umbruch: Rußland und Sowjetunion zwischen Erstem Weltkrieg und Spätstalinismus“. Almut Bonhage hat eine Untersuchung über Arbeiterfamilien und Lebensmuster insbesondere der darin lebenden Frauen aus den 20er Jahren neu gelesen und kommt hinsichtlich weiblicher Handlungsmöglichkeiten zu sehr pessimistischen Ergebnissen – wohingegen Carmen Scheide emanzipative Entwicklungsmöglichkeiten für Frauen in den sowjetischen „Delegiertenversammlungen“ herausarbeitet. Susanne Conze analysiert die Geschlechterverhältnisse in einem sowjetischen Industriebetrieb der vierziger Jahre und erkennt Parallelen kapitalistischer und „sozialistischer“ Geschlechterordnungen. Diese drei Beiträge zeigen unterschiedliche Phasen der sowjetischen Geschichte und versorgen die Diskussion über Intention und Wirkung sowjetischer Frauenpolitik mit neuen Fakten. Elke Beyers Beitrag über die russischen Kriegskrankenschwestern im Ersten Weltkrieg und den Bruch der Beziehungen zu den Soldaten in der Revolution wird diejenige gerne lesen, die sich schon in Geschlecht und Nationalismus bei Marion Mienert über die Anfänge weiblicher Krankenpflege im Krimkrieg informiert hat. Der Band endet mit „Biographischen Beispielen aus Serbien und Galizien“. Nataša Miškovi? analysiert anhand eines Briefwechsels aus dem serbischen Bürgertum um die Jahrhundertwende von westlichen Konzepten abweichende Geschlechterverhältnisse, und Dietlind Hüchtker arbeitet aus der Autobiographie der jüdischen Schriftstellerin Minna Lachs eine doppelte Erzählweise heraus, nämlich die Verknüpfung von individueller mit kollektiver Geschichte, die der Warnung vor Antisemitismus und Rassismus dient.

Quellennähe und neue Perspektiven

Die meisten Aufsätze in beiden Bücher arbeiten quellennah, d. h., sie erschließen Primärquellen, was beim gegenwärtigen Forschungsstand eine unverzichtbare Grundlage schafft. Einige wenige Beiträge allerdings interpretieren ihr Material zu wenig und verknüpfen die Ergebnisse kaum vergleichend mit anderen historischen Entwicklungen. Die Aufsätze von Bianka Pietrow-Ennker über Polen und Martha Bochachevsky-Chomiak über polnischen und ukrainischen Feminismus schließen an frühere Arbeiten der Autorinnen zu diesen Themen an. Es ist spannend zu sehen, wie sich im Laufe der Zeit Argumente analytisch schärfen und differenzieren. Die Geschlechterforschung zu Osteuropa ist eine neue Perspektive, mit der sich der Blick auf ein riesiges Arbeitsprogramm öffnet. Frauen tauchen in den hier vorgestellten Forschungsarbeiten nicht nur als Objekte und Opfer auf, sondern auch als selbständige und selbstbewußte Akteurinnen. Das sind Tatsachen, die ohne die Gender-Perspektive unsichtbar bleiben würden.

URN urn:nbn:de:0114-qn021020

Gesine Fuchs

Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hannover

E-Mail: gesine.fuchs@ipw.uni-hannover.de

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