Beziehungskrisen im Alter – (k)ein Thema der Geschlechterforschung?

Rezension von Ludwig Amrhein

Michael Vogt:

Beziehungskrise Ruhestand.

Paarberatung für ältere Menschen.

Freiburg i. Br.: Lambertus 2004.

371 Seiten, ISBN 3–7841–1549–7, € 19,50

Abstract: Viele Paare bleiben im Ruhestand zusammen, obwohl sie sich persönlich und emotional voneinander entfremdet haben. Wie entstehen solche Partnerschaftskrisen im Alter, und was kann man dagegen tun? Michael Vogt versucht eine Antwort auf diese Frage, indem er gerontologische, familiensoziologische und paartherapeutische Ansätze diskutiert und eine empirische Studie zur Wirksamkeit von Ehe-, Familien- und Lebensberatung präsentiert. Die Bewertung fällt zwiespältig aus: Einerseits trägt der Autor viele interessante wissenschaftliche Details und Hintergrundinformationen zusammen und belegt, dass gerade ältere Menschen von einer professionellen Paarberatung profitieren können. Andererseits drohen entscheidende Dimensionen in der unstrukturierten Faktenfülle unterzugehen. Insbesondere geschlechterspezifische Aspekte werden nur beiläufig erwähnt, ohne dass ihnen ein eigenes Kapitel gewidmet wird.

Wenn ältere Paare in den Ruhestand gehen, ist das für sie mit einer durchgreifenden Veränderung alltäglicher Routinen und Rollenverteilungen verbunden. Beide Partner verbringen jetzt einen Großteil ihrer Zeit gemeinsam und zu Hause. Bereits bestehende Konflikte können sich dadurch verschärfen und neue Konflikte aufbrechen. Dieses „kritische Lebensereignis“ stellt älter werdende Paare vor spezifische „Entwicklungsaufgaben“: Die Balance zwischen Intimität und Abstand muss neu austariert werden, und bestehende häusliche und partnerschaftliche Rollenstrukturen verlangen nach einer Anpassung und Neugestaltung. Der Autor spricht hier von einer notwendigen „Revision und Bilanzierung der Paarbeziehung“ (S. 183).

Der Pädagoge und Sozialarbeiter Vogt, Diözesanreferent der Katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Bistum Essen, möchte mit seinem Buch Wege aus dieser „Beziehungskrise Ruhestand“ aufzeigen. Das Buch ist etwas unübersichtlich in 22 Kapitel aufgeteilt, die sich aber zu drei größeren Einheiten gruppieren lassen: Nach einer allgemeinen Einführung (Kapitel 1) werden grundlegende Begriffe und Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Gerontologie (Kapitel 2 bis 6 und 13) und der Familien- und Eheforschung (Kapitel 7 bis 12) vorgestellt. Auf diesen theoretischen Teil folgt die Diskussion von pädagogischen Konzepten der Familien- und Beziehungsberatung (Kapitel 14, 15 und 17), die auf ältere Menschen bezogen wird (Kapitel 16 und 18). Der dritte Themenblock widmet sich der Frage nach der „Wirksamkeit von Beratung“ (Kapitel 19) und der empirischen „Überprüfung der Effekte der Ehe-, Familien- und Lebensberatung bei Menschen über 55 Jahren“ (Kapitel 20 und 21). Beendet wird das Buch mit perspektivischen Betrachtungen über Staat, Gesellschaft, Kirche und Beratung (Kapitel 22).

Alter, Liebe und Partnerschaft

Bevor der Autor das eigentliche Thema des Buches – „Paarberatung älterer Menschen“ – behandelt, schickt er die Leserinnen und Leser auf eine lange Reise durch die Alter(n)ssoziologie und -psychologie und die sozialwissenschaftliche Ehe- und Familienforschung. In vielen Kapiteln erläutert Michael Vogt demographische Grundlagen und historische Entwicklungen der alternden Gesellschaft, diskutiert zentrale Themen der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne und ökologischen Gerontologie, beschreibt die Ehe als gesellschaftliche und rechtliche Institution und referiert zentrale Erklärungsansätze zur Entstehung, Qualität und Kündbarkeit romantischer und ehelicher Beziehungen. Hier wäre jedoch weniger mehr gewesen, da von den Vertreter/-innen der angesprochenen Disziplinen bereits viele gute Einführungen vorliegen.

Der umständlich lange Vorlauf führt dazu, dass der Autor in vielen Passagen nicht auf das Thema bezogen schreibt, sondern einzelne Wissensbestände unverbunden nebeneinander stellt. Dabei enthält sich Vogt größtenteils einer bewertenden Einordnung der vorgestellten Ergebnisse und Ansätze. Das ist bedauerlich, weil dadurch sein eigener Standpunkt nicht deutlich wird. So bewegt sich der Autor von der Individualisierungstheorie Becks zur nutzentheoretischen Ehescheidungstheorie Essers, von der soziologischen Rollentheorie zur psychologischen Bindungstheorie oder von der christlich-katholischen Morallehre zur Existentialphilosophie Bubers. Leider erläutert Vogt nicht, wie sich diese eklektizistisch zusammengetragenen Ansätze mit den Grundsätzen der von Vogt praktizierten katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatung vertragen. Vor allem bleibt unverständlich, wieso der Autor im sehr umfänglichen theoretischen Teil an keiner Stelle auf Grundbegriffe der Frauen- und Geschlechterforschung eingeht. So kann er konzeptionell nicht der Gefahr vorbeugen, dass unreflektierte Geschlechterstereotypen den Beratungsprozess normativ vorbestimmen.

Beziehungskrise Ruhestand

Immerhin präsentiert der Autor auch viele wichtige Erkenntnisse, wenngleich sie im Text etwas untergehen. So weist er gegen früher vertretene „Krisentheorien“ darauf hin, dass der Übertritt in den Ruhestand für den Großteil der Pensionierten zu keiner langfristigen Verschlechterung der Lebenszufriedenheit führt (vgl. S. 61). Allerdings haben Frauen ein höheres Risiko als Männer, aufgrund mangelnder finanzieller und sozialer Ressourcen in ihrer nachberuflichen Lebensqualität empfindlich beeinträchtigt zu werden. Auch nehmen mehrheitlich Frauen professionelle Beratung bei Partnerschaftskonflikten und Lebensproblemen in Anspruch (vgl. S. 61 f.).

Das dreizehnte Kapitel zum Ruhestand als „critical life event“ bietet endlich das, was der Titel des Buches versprochen hat. Hier erfährt der oder die Leser/-in, dass der Übergang in den (häuslich verbrachten) Ruhstand geschlechtsspezifisch unterschiedlich erfahren und verarbeitet wird. So assoziieren ältere Männer den Begriff „Wohnung“ mit Erholung, Ausspannen und Privatsphäre, während ältere Frauen eher an Haushalt, Kochen und Bügeln denken (vgl. S. 133). Hier klingt an, dass Beziehungskrisen im Alter vor allem aus Konflikten hinsichtlich der alltäglichen Aufgaben- und Rollenverteilung entstehen. In diesem Zusammenhang referiert Vogt die sehr interessante, 1996 erschienene Untersuchung von Claudia Gather zur Konstruktion von Geschlechterverhältnissen. Machtstrukturen und Arbeitsteilung bei Paaren im Übergang in den Ruhestand. Nach Gather führen die immer noch hierarchisch strukturierten Geschlechterverhältnisse dazu, dass nur die konventionelle Rollenverteilung (Mann entscheidet, Frau ordnet sich unter) als relativ problemlos erlebt wird, während alle weniger hierarchischen Konstellationen ein Potential für latente und offene Konflikte eröffnen. Leider führt der Autor nicht aus, welche Konsequenzen sich für den Beratungsprozess ergeben, wenn modernere weibliche Lebensentwürfe mit traditionellen männlichen Ehemodellen kollidieren.

Die Wirksamkeit der Beratung älterer Paare

Im dritten Teil diskutiert der Autor pädagogische und therapeutische Ansätze der Paarberatung älterer Menschen. Im Mittelpunkt steht die institutionelle Ehe-, Familien- und Lebensberatung, vor allem in ihrer katholischen Variante. Um die Wirksamkeit dieser Beratung zu überprüfen, initiierte Vogt eine weitgehend standardisierte Befragung von 84 Paaren über 55 Jahren, die zwischen Juni 1999 und November 2002 eine der Beratungsstellen des Bistums Essens aufgesucht haben (vgl. S. 283). Als häufigste Partnerschaftskonflikte kristallisierten sich sexuelle Probleme, Auseinandersetzungen über Freizeitgestaltung und Haushaltsführung sowie kommunikative und emotionale Beziehungsstörungen heraus. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Beratung eine dauerhafte und starke Erhöhung der Lebensqualität in den meisten Problembereichen zur Folge gehabt habe; selbst depressive Symptomatiken hätten sich deutlich gebessert. Leider reflektiert der Autor dieses Ergebnis nicht methodisch. Zwar präsentiert er im Anhang viele statistische Tabellen, aber er spart aus, wo, wann und auf welche Weise die entsprechenden Paare den Fragebogen ausgefüllt haben. Die sehr positive Bewertung des Beratungsergebnisses könnte nämlich auch Folge eines sozialen Erwünschtheitseffektes sein, insbesondere wenn die Befragung in den Räumen der Beratungsstelle und in Anwesenheit des Beraters durchgeführt worden sein sollte.

Die vernachlässigte Geschlechterdimension

Geschlechtsspezifische Unterschiede werden im vorliegenden Buch zwar durchgehend erwähnt, aber nicht in der Breite und Tiefe, wie dies angesichts auch der Befragungsergebnisse nötig gewesen wäre. Bezeichnend ist, dass ein eigenes Kapitel zum Thema Geschlechterverhältnisse im Alter fehlt. Der Autor scheint Geschlecht vor allem als soziodemographische Variable zu verstehen, nicht aber als zentrale Dimension sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Paarbeziehungen. So fehlt auch eine Diskussion der gerontologisch wichtigen Frage, ob sich Männer und Frauen im Alter angleichen, also gleichsam androgyn werden, oder patriarchalische, d. h. maskuline und feminine Rollenzuschreibungen weiterhin fortwirken. Ebenfalls kritisch ist die implizite Gleichsetzung von Partnerschaft im Alter mit heterosexuellen Ehen, auch wenn diese demographisch und in der Beratungsarbeit eindeutig dominieren. Hier wäre zumindest ein Ausblick auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Alter sinnvoll gewesen (lediglich im Abschnitt zu familienrechtlichen Fragen werden „eingetragene Lebenspartnerschaften“ angesprochen). Personen, die beruflich mit älteren Paaren arbeiten, kann das Buch aufgrund der Fülle des vorgelegten theoretischen und empirischen Materials dennoch zur Lektüre empfohlen werden.

URN urn:nbn:de:0114-qn062027

Ludwig Amrhein

Universität Kassel, Fachbereich Sozialwesen

E-Mail: lamrhein@uni-kassel.de

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