Im Blickpunkt: Ältere alleinstehende Migrantinnen

Rezension von Elke Olbermann

Ingrid Matthäi:

Die „vergessenen“ Frauen aus der Zuwanderergeneration.

Zur Lebenssituation von alleinstehenden Migrantinnen im Alter.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005.

247 Seiten, ISBN 3–531–14330–1, € 24,90

Abstract: In dem rezensierten Buch stellt die Autorin die Ergebnisse einer im Auftrag des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführten Untersuchung zur Lebenssituation älterer alleinstehender Migrantinnen vor. Die Untersuchung liefert umfassende und differenzierte Einblicke in zentrale Lebensbereiche älterer alleinstehender Migrantinnen und verweist auf diesbezügliche sozial- und gesellschaftspolitische Handlungsbedarfe.

Zielsetzung

Ausgangspunkt der Studie ist eine Bilanzierung des aktuellen Forschungsstandes im Hinblick auf die Zusammenhänge von Migration, Geschlecht und Alter. Als Ergebnis wird konstatiert, dass einerseits innerhalb der Migrantenbevölkerung die Merkmalskonstellation „weiblich, älter und alleinstehend“ immer häufiger auftritt, andererseits aber aussagekräftige empirische Studien über die Lebenssituation älterer, alleinstehender Migrantinnen weitgehend fehlen. Ziel der Studie ist es, „die bestehende Forschungslücke ein Stück weit zu schließen“ (S. 9) und den Blick auf eine von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft ‚vergessene‘ Migrantinnengruppe zu lenken. Ausgehend von dem Lebenslagen-Ansatz sollen „tiefgehendere Einblicke in die vielschichtigen Dimensionen der Lebenslage“ älterer alleinstehender Migrantinnen gewonnen und „entsprechende sozialpolitische und institutionelle Hilfe- und Unterstützungsangebote artikuliert“ (S. 12) werden.

Methodische Aspekte

Die Studie besteht aus zwei Teilen: 1.) einer Hauptuntersuchung, die bei den Betroffenen selbst ansetzt und Interviews mit 87 älteren alleinstehenden Migrantinnen umfasst, und 2.) einer ergänzenden Institutionen-Befragung, bei der Experten aus 10 Einrichtungen der Migrations-/Beratungsdienste sowie Regeleinrichtungen der Altenhilfe befragt wurden.

Die Studie hat insgesamt einen explorativen Charakter. Die Hauptuntersuchung basiert auf einem „subjektorientierten handlungssoziologischen Ansatz“ und greift konzeptionell auf den Lebenslagen-Ansatz zurück (S. 23). Die Befragung erfolgte mit der „Technik des ‚problemzentrierten Interviews‘ (vgl. Witzel, 1982, 1985) in Form eines offenen Interview-Leitfadens“ (S. 26). Die Interviews wurden überwiegend in der jeweiligen Muttersprache der älteren Migrantinnen durchgeführt, anschließend transkribiert und übersetzt. Für die inhaltliche Auswertung der Interviews wurde auf die „Technik der ‚strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse‘ nach Mayring (1996)“ (S.33) zurückgegriffen.

Insgesamt wurden Interviews mit 87 alleinstehenden Migrantinnen im Alter von 50 Jahren und älter durchgeführt, darunter 23 Frauen türkischer, 22 italienischer, 18 griechischer, 13 ehemals jugoslawischer und 11 vietnamesischer Herkunft. 45 der befragten Migrantinnen waren verwitwet, 36 geschieden bzw. getrennt lebend und 6 ledig (S. 34 ff.).

Ergebnisse

Die Ergebnisse beziehen sich auf ein weites Spektrum objektiver und subjektiver Lebenslagemerkmale älterer alleinstehender Migrantinnen. Sie werden in der vorliegenden Veröffentlichung in acht Themenblöcken vorgestellt: sozioökonomische Situation, subjektives Erleben und Bewältigungsstrategien des partnerlosen Daseins, soziale Einbindung in primäre und sekundäre Netzwerke, Identität und kollektive Zugehörigkeit, Bedeutung und Bewertung spezifischer Ressourcen (Bildung, Sprachkompetenz, Glaube/Religion etc.), Vorstellungen vom Alter und vom Altern, Zukunftsperspektiven im Alter sowie Zugang zu und Bewertung von Migrationssozialdiensten und Einrichtungen der Altenhilfe.

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass alleinstehende Migrantinnen keine homogene soziale Gruppe sind. Entsprechend plädiert die Autorin dafür, „das Klischee der älteren ‚hilf- und sprachlosen‘ Migrantin […] zu revidieren“, denn „nach den vorliegenden Befunden […] [sind sie] weder in gleichem Maße von Armutsrisiken oder Marginalisierungsrisiken betroffen noch in ähnlicher Weise auf Sozialleistungen angewiesen“ (S. 215). Die Vielfalt von Lebenslagen spiegelt sich z. B. im Bereich der sozialen Einbindung in primäre und sekundäre Netzwerke wider. Hier werden bei den befragten älteren alleinstehenden Migrantinnen fünf soziale Einbindungsstrategien identifiziert: „zwei ‚Modernisierungsmuster‘ (Integrierte, Isolierte), zwei ‚ethnisch‘ segregierte Muster (Segregierte, Ausgegrenzte) und ein familienzentriertes Muster (Familienfrauen)“ (S. 71). Demnach gibt es „neben isolierten und kaum integrierten älteren Migrantinnen […] auch starke Gruppen von gut integrierten und sozial eingebetteten Einwanderinnen.“ (S. 215). Auch in anderen Lebenslagebereichen wurden erhebliche Unterschiede innerhalb der Gruppe der alleinstehenden älteren Migrantinnen festgestellt. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass die Handlungsspielräume der älteren alleinstehenden Migrantinnen aufgrund verschiedener Faktoren häufig deutlich eingeschränkt sind. Nach den Ergebnissen der Studie ist die materielle Absicherung bei vielen alleinstehenden älteren Migrantinnen, und zwar vor allem bei den geschiedenen Migrantinnen, unzureichend (S. 45) und der Gesundheitszustand ist „besorgniserregend“ (S. 216, S. 137 ff.). „Gleichzeitig sind die Kenntnisse über die spezifischen Angebote der Regeleinrichtungen der Altenhilfe sehr gering“ (S. 216).

Resumee

Ein Verdienst der Studie besteht darin, dass sie die bisher wenig beachtete Gruppe der älteren alleinstehenden Migrantinnen explizit in den Mittelpunkt stellt und damit einen Beitrag dazu leistet, dass die weibliche Dimension des Alterns in der Migration stärkere Berücksichtigung findet. Die Untersuchung zeigt, dass die in anderen Studien festgestellte große Heterogenität der Lebenslagen älterer Migranten und Migrantinnen einerseits und die Kumulation von Belastungs- und Risikofaktoren andererseits (vor allem in den Bereichen materielle Absicherung und Gesundheit) in besonderem Maße für die Gruppe der älteren alleinstehenden Migratinnen gilt. Gleichzeitig machen die Ergebnisse deutlich: Alleinstehende ältere Migrantinnen sind keineswegs auf eine „Opferrolle“ zu reduzieren, sondern aktive Gestalterinnen ihrer Lebenssituation, auch wenn ihre Handlungsspielräume vielfach begrenzt sind. Insgesamt liefert die Untersuchung einige weiterführende und aufschlussreiche Ergebnisse zu den verschiedenen Lebenslagebereichen älterer alleinstehender Migrantinnen. Für die Handlungsebene hingegen bietet sie wenig Neues. Die aus der Studie abgeleiteten Handlungsanregungen entsprechen weitgehend denen anderer Studien zur Situation älterer Migranten und Migrantinnen.

URN urn:nbn:de:0114-qn062213

Dr. Elke Olbermann

Köln/Institut für sozialwissenschaftliche Analysen

E-Mail: elke.olbermann@isab-institut.de

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