Pflege – eine Sache der ganzen Familie

Rezension von Nicole Maly-Lukas

Katharina Gröning, Anne-Christin Kunstmann, Elisabeth Rensing:

In guten wie in schlechten Tagen.

Konfliktfelder in der häuslichen Pflege.

Frankfurt a.M.: Mabuse 2004.

166 Seiten, ISBN 3–935964–54–4, € 19,80

Katharina Gröning, Anne-Christin Kunstmann, Elisabeth Rensing, Bianca Röwekamp (Hg.):

Pflegegeschichten.

Pflegende Angehörige schildern ihre Erfahrungen.

Frankfurt a.M.: Mabuse 2004.

295 Seiten, ISBN 3–935964–80–3, € 22,90

Abstract: Derzeit sind in der Bundesrepublik Deutschland ca. 2 Millionen Menschen pflegebedürftig. Etwa 1,4 Millionen werden im häuslichen Bereich – in der Regel von Familienmitgliedern gepflegt – z. T. mit professioneller Unterstützung. Die Familie ist also weiterhin „der größte Pflegedienst der Nation“. Und es sind hauptsächlich die Frauen, die sich für die Pflege von Familienmitgliedern verantwortlich fühlen. Gröning et al. möchten sich in ihrem Buch In guten wie in schlechten Tagen aber nicht auf die Belastungen der pflegenden Frauen beschränken. Sie stellen die Generationen- und Geschlechterbeziehungen, die einen großen Einfluss auf die familiäre Pflegebeziehung haben, in den Vordergrund. In dem Buch Pflegegeschichten kommen rund 40 pflegende Angehörige selbst zu Wort, indem sie ‚ihre‘ persönliche „Pflegegeschichte“ erzählen.

Pflege – nicht nur eine Sache der Frauen

„Ist die häusliche Pflege […] gar keine ‚Angelegenheit‘ der Familie, sondern der Frauen?“ (S. 7). Diese Frage stellen Gröning et al. an den Anfang ihres Buchs In guten wie in schlechten Tagen. Dabei geht es ihnen um die „Gerechtigkeitsvorstellungen von Frauen im Lebenszusammenhang familiärer Pflege“ (S. 20). Die Pflegeübernahme ist nicht nur – oder eher weniger – eine Entscheidung der pflegenden Frauen, sondern Frauen pflegen immer innerhalb eines Beziehungsgeflechts: „Die Frage nach der Verantwortungsbereitschaft gegenüber den alten Eltern ist nicht nur eine sozialpolitische Debatte, sondern auch ein Thema im familialen Binnenraum, zwischen den Mitgliedern einer Herkunftsfamilie zum Beispiel, und besonders zwischen den Geschlechtern“ (S. 16).

Zunächst beschäftigen sich die Autorinnen mit „Modernisierung und Generationenverhältnis“. Sie stellen fest, dass trotz aller Individualisierung- und Pluralisierungstendenzen, die die Moderne mit sich bringt, die Unterstützungsbereitschaft der Familien insbesondere im Hinblick auf die Übernahme von Pflegeverantwortung ungebrochen ist. Die Bereitschaft, die Pflege der alten Eltern zu übernehmen, hat weniger mit den Entwicklungen in einer modernen Gesellschaft zu tun, sondern vielmehr mit Loyalität und Wiedergutmachungswünschen gegenüber den alten Eltern: „Es sind also nicht die modernen und gebildeten Kinder, die ihre Eltern nicht pflegen wollen, sondern es sind die gekränkten, die nicht gesehenen oder in infantile Gefühle verstrickten Kinder“ (S. 31). Insgesamt stehen Gröning et al. der Modernisierungstheorie kritisch gegenüber. Zum einen, weil die Solidarität zwischen den Generationen empirisch nachweisbar ist, zum anderen, weil der Modernisierungsdiskurs zu sehr von der Überzeugung beeinflusst ist, dass der Individualisierung keine moralische Bindung standhält.

Im Anschluss daran wird „die Situation pflegender Frauen“ thematisiert. In diesem Zusammenhang geht es um stresstheoretische Aspekte, soziale Unterstützung und Belastungen. In aktuellen stresstheoretischen Ansätzen werden die aktive Auseinandersetzung des Individuums mit Konflikten und der Versuch der Bewältigung betont. Das Stresserleben – z. B. bei der Pflege eines Angehörigen – hängt demnach davon ab, wie die Pflegeperson die Situation für sich selbst deutet und wie sie damit umgeht. Die Autorinnen konnten aber feststellen, dass sich die Rahmenbedingungen pflegender Frauen belastender darstellen als die pflegender Männer. Allerdings halten sie es für „nicht unproblematisch“, wenn die wissenschaftliche Auseinandersetzung einseitig die Belastungen der pflegenden Angehörigen fokussiert: „Eine Konsequenz ist, dass die familiale Pflegeverantwortung weniger unter ‚positiven‘ Aspekten einer individuell sinnvollen und gesellschaftlich anerkennenswerten generativen Leistung, sondern, dem Belastungsdiskurs folgend, stärker mit entsprechend ‚negativen‘ Konnotationen als vorrangig problematisch und konfliktträchtig diskutiert wird“ (S. 44).

Ein weiterer thematischer Schwerpunkt ist der, wie sich Familien(beziehungen) während der Pflegesituation entwickeln bzw. verändern. Häufig ist die Pflege keine plötzlich eintretende Situation, sondern aus anfänglichem „Kümmern“ entsteht aufgrund des sich langsam verschlechternden Gesundheitszustandes eines Familienmitglieds nach und nach eine Pflegesituation. Trotzdem sind die pflegenden Angehörigen oft völlig unvorbereitet. Ein weiteres mit der Übernahme der Pflege verbundenes Problem ist, „dass sich durch die Pflegeverantwortung das gesamte familiale Beziehungsgefüge verschiebt, dass sich die Rollen der einzelnen Familienmitglieder im Verhältnis zueinander verändern“ (S. 45). Bezogen auf die Motivation zur Pflegeübernahme kommen die Autorinnen zu der Annahme, „dass sich Frauen aufgrund der jetzigen gesellschaftlichen Bedingungen und vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Sozialisation dem normativen Anspruch zur Pflegeübernahme schlechter entziehen können als Männer“ (S. 51).

Das letzte Kapitel des theoretischen Teils beschäftigt sich mit „Ethik in familialen Generationenbeziehungen“. Stichworte hierbei sind „Verständigung der Generationen“, „elterliche Rechte und kindliche Pflichten“, „Generationenkonflikte als Anerkennungskonflikte“, „generative Verantwortung“, „Geschlechtergerechtigkeit“ und „Gerechtigkeit in familialen Beziehungen“.

Im Rahmen ihrer – dem Theorieteil folgenden - empirischen Untersuchung haben die Autorinnen drei pflegende Töchter und drei Leiterinnen von Angehörigengruppen befragt. Es handelte sich dabei um offene, halbstrukturierte, problemzentrierte Leitfaden-Interviews. Die Zielsetzung der empirischen Studie definieren die Autorinnen wie folgt: „Wesentliche Schwerpunkte in diesem Forschungszusammenhang bilden zum einen das familiale System unter den Aspekten intergenerationaler Beziehungen, der ‚Aufteilung‘ von Pflegeverantwortung in Familien sowie der Motivation und des Selbstverständnisses der Pflegenden. Zum anderen richtet sich die Perspektive auf die Frage, inwieweit sich die Problem- und Konfliktkonstellationen häuslicher Pflege unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in der derzeitigen Angehörigenarbeit widerspiegeln“ (S. 88). Bei der Auswertung der sechs Interviews stehen die der pflegenden Töchter deutlich im Vordergrund.

Gröning et al. beenden ihr Buch In guten wie in schlechten Tagen mit einer kritischen Auseinandersetzung bezüglich Pflegeversicherung und häuslicher Pflege. Vorangestellt wird, dass die Leitbilder der Pflegeversicherung „Wirtschaftlichkeit“, „Vorrang der häuslichen Pflege“ und „ambulant vor stationär“, die zur Einführung der Pflegeversicherung sicher Sinn gemacht hätten, heute zunehmend reflexionsbedürftig seien. So kritisieren Gröning et al.: „Indem den alten Menschen einerseits ein moralisches Recht auf Souveränität, andererseits ein Recht auf mütterliche / töchterliche Versorgung zugesprochen wird, geraten sie selbst und ihre Angehörigen in eine Falle von Macht, Schuld und Hilflosigkeit“ (S. 143).

Sie beanstanden, dass seit der Einführung der Pflegeversicherung die Familie als „der beste Pflegedienst“ (S. 151) – insbesondere für ältere Menschen – dargestellt wird. „Unsere Hypothese ist, dass mit dem Pflegeversicherungsgesetz die Regressionen und nicht die Entwicklung neuer Antworten verstärkt worden sind. Pflegebereitschaft ist zwar im Kern ein wichtiges moralisches Potential von Familien, sprich Frauen. Pflegebereitschaft kann sich aber zur Pflegefalle entwickeln, wenn sie sich vorwiegend auf den ‚Familienroman‘ und auf damit einhergehende Familienideologien stützt“ (S. 151).

Pflegegeschichten

Den Herausgeberinnen der Pflegegeschichten war es ein Anliegen, pflegende Angehörige selbst zu Wort kommen zu lassen, da die persönlichen Erfahrungen der pflegenden Angehörigen in wissenschaftlichen Studien häufig in den Hintergrund treten. Um den pflegenden Angehörigen die Möglichkeit zu geben, ihren eigenen Schwerpunkt bei ihrer Erzählung zu setzen, haben die Autorinnen keinerlei thematische und formale Vorgaben gemacht. Somit konnte jede/r pflegende Angehörige so schreiben, wie sie bzw. er wollte. Das führt dazu, dass sich die einzelnen „Pflegegeschichten“ zum Teil sowohl in ihrer Länge als auch in ihrer Art deutlich voneinander unterscheiden.

Gröning et al. haben die rund 40 Pflegegeschichten in vier Kategorien zusammengestellt: „Entwicklungsgeschichten“, „Verzweiflungs- und Belastungsgeschichten“, „Bindungs- und Verstrickungsgeschichten“ und „Abschiedsgeschichten“. Jeder „Pflegegeschichte“ wird eine kurze Zusammenfassung aus Sicht der Bandherausgeberinnen vorangestellt. Durch die unterschiedlichen Schreibstile und Längen der einzelnen Geschichten wird noch einmal die Individualität jeder einzelnen „Pflegegeschichte“ mit ihren ganz persönlichen Erfahrungen unterstrichen.

Resümee

Während In guten wie in schlechten Tagen die häusliche Pflege aus wissenschaftlicher Perspektive schildert, stellt Pflegegeschichten die ganz persönliche Sicht von pflegenden Angehörigen – ebenfalls „Expert/-innen“ auf diesem Gebiet – dar. Die individuellen Erfahrungen können zum einen dazu beitragen, wissenschaftlich erklärte Zusammenhänge besser zu verstehen. Sie können aber auch – anders herum – in die Thematik einführen, um später den theoretischen Ausführungen einen Rahmen zu geben. So oder so bieten die beiden Bücher zusammen einen guten Einblick in das Thema häusliche Pflege, da sowohl die Wissenschaft als auch die pflegenden Angehörigen als „Expert/-innen in eigener Sache“ zu Wort kommen.

Kritisch anzumerken ist jedoch, dass sich die explorative empirische Studie (In guten wie in schlechten Tagen) auf insgesamt nur sechs Interviews bezieht – drei pflegende Töchter und drei Leiterinnen von Angehörigengruppen. Auch wenn die Interviews wichtige Informationen liefern, so ist die „Stichprobe“ für verallgemeinernde Aussagen wie z. B. „Sofern eine Teilnahme an einer Angehörigengruppe erfolgt, wird diese positiv erlebt“ (S. 136), zu klein. Hierzu sei angemerkt, dass von den drei befragten Frauen nur eine Frau an den Sitzungen einer Angehörigengruppe teilgenommen hat, eine weitere hatte dazu keine Zeit und ließ sich über ihren Bruder informieren, die dritte hatte kein Interesse an einer Angehörigengruppe. Aufgrund der geringen Anzahl von Interviews hätten diese besser nur als beispielhafte Fälle vorgestellt und interpretiert werden sollen, anstatt Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuzeigen.

Hervorzuheben ist jedoch der Theorieteil des Buchs In guten wie in schlechten Tagen. Die Autorinnen stellen nicht die Probleme und Belastungen, die mit der Pflege eines Angehörigen verbunden sind, sondern die betroffenen Familien als Ganzes in den Vordergrund. Oder um den Klappentext zu zitieren: „Denn die Übernahme der (Pflege-)Verantwortung kann nur gelingen und tragfähig sein, wenn sie eine Angelegenheit der Familie, wenn sie ein ‚familiales Projekt‘ ist beziehungsweise wird.“

URN urn:nbn:de:0114-qn062176

Nicole Maly-Lukas

Forschungsgesellschaft für Gerontologie e.V.; Institut für Gerontologie an der Universität Dortmund

E-Mail: nmlukas@pop.uni-dortmund.de

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.