Sexuelle Gewalt in Besatzungsalltag und Vernichtungskrieg

Rezension von Silke Schneider

Birgit Beck:

Wehrmacht und sexuelle Gewalt.

Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939–1945.

Paderborn: Schöningh 2004.

370 Seiten, ISBN 3–506–71726–X, € 39,90

Abstract: Als Grundlage für ihre Analyse des Umgangs der Wehrmacht mit sexueller Gewalt im Zweiten Weltkrieg dienen Birgit Beck die Akten militärgerichtlicher Verfahren. Das Thema wird von der Autorin in die Geschichte der sexuellen Gewalt in Kriegen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart eingeordnet. Ziel ist die Überprüfung geschichts- und sozialwissenschaftlicher Annahmen über die Ursachen sexueller Gewalt im Krieg am konkreten historischen Beispiel. Die Gründe für die militärgerichtliche Verfolgung sexueller Gewalt – die nur einen Bruchteil der Verfahren insgesamt darstellt – sieht Beck in erster Linie in übergeordneten militärischen Verhaltensvorgaben, dem Männerbild der Wehrmacht und dem Schutz der deutschen „Volksgemeinschaft“ begründet; für einen systematischen Einsatz sexueller Gewalt durch die Wehrmacht bieten die untersuchten Verfahren keine ausreichenden Belege.

Birgit Beck bearbeitet mit ihrer Untersuchung über Wehrmacht und sexuelle Gewalt ein Thema, das trotz der Debatte um die Verbrechen deutscher Soldaten in den besetzten Ländern bisher wenig Beachtung gefunden hat. Anhand ausgewählter militärgerichtlicher Verfahren analysiert sie die Sicht der Wehrmacht auf diese Verbrechen. Die leitende Fragestellung ist zum einen geprägt durch den Versuch der Einordnung der Sexualdelikte deutscher Soldaten in die weiterreichende Diskussion über die Rolle von sexueller Gewalt in Kriegen allgemein: Beck untersucht, wie der Umgang der Wehrmacht mit sexueller Gewalt zu beschreiben ist. Daraus ergibt sich zum anderen die Frage nach einem möglichen systematischen Einsatz sexueller Gewalt durch die Führung der Wehrmacht, um die Frauen und Männer in den besetzten Ländern physisch wie psychisch zu verletzen und zu demoralisieren.

Sexuelle Gewalt im Krieg – (k)ein universales Muster?

Die Autorin beschäftigt sich zunächst mit den vorliegenden Erklärungsmustern zum Problem der sexuellen Gewalt im Krieg. Susan Brownmillers Thesen, die den universalen Charakter sexueller Gewalt von Männern gegen Frauen in Friedens- wie in Kriegszeiten in den Mittelpunkt stellen, werden von Beck als unhistorisch und biologistisch abgelehnt. Dem militärsoziologischen Ansatz von Ruth Seifert kann Beck mehr abgewinnen. Für Seifert hat die symbolische Bedeutung des weiblichen Körpers im Krieg als „Territorium“ und „Volkskörper“ und eine militärische Konstruktion von Männlichkeit zentralen Erklärungswert für sexuelle Gewalt im Krieg. Wenn sexuelle Gewalt von der militärischen Führung geduldet werde, so Seifert, entwickele sie eine strategische Wirkung und werde zum Mittel der Kriegsführung. Diese These, die vielen Arbeiten zu diesem Thema zu Grunde liegt und auch in Berichten der Vereinten Nationen zu sexueller Gewalt in aktuellen Kriegen genannt wird, lehnt Beck dennoch als zu „allgemein gehalten und aus historischer Sicht nicht gerechtfertigt“ (S. 24) ab. Ziel ihrer Analyse von Militärgerichtsverfahren zu Fällen sexueller Gewalt ist es, diese These am konkreten historischen Beispiel zu überprüfen.

Es folgt im zweiten Kapitel ein historischer Überblick über die Rolle sexueller Gewalt im Krieg von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Nach der Zusammenfassung der Literatur zur Rolle von sexueller Gewalt im Krieg, einem historischen Überblick und einem kurzen Seitenblick auf die völkerrechtliche Beurteilung von sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen folgt ein systematisch einführender Abschnitt, in dem Forschungsstand, Quellenbasis und Vorgehen erläutert werden. An den bisherigen Arbeiten über sexuelle Gewalt deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg kritisiert die Autorin in erster Linie die schmale Quellenbasis. Ihre Arbeit stützt sich auf Dokumente der Wehrmacht, insbesondere zu Kriegsgerichtsverfahren. Es werden insgesamt 178 Verfahren untersucht. Eine vergleichende Perspektive wird dabei insbesondere im Hinblick auf die Verfahren in Frankreich und in der Sowjetunion eingenommen.

Wehrmacht und sexuelle Gewalt

Im dritten Kapitel wird das Thema Wehrmachtsprostitution behandelt. Vor der eigentlichen Analyse der Gerichtsverfahren werden dann im vierten Kapitel die Grundzüge des Systems der Militärgerichtsbarkeit beschrieben und die strafrechtlich relevanten Tatbestände sexueller Gewalt gemäß dem Reichsstrafgesetzbuch aufgeführt. Für das Verständnis der Verfahrensabläufe ist dies sicher hilfreich, doch geht der Bezug auf sexuelle Gewalt im Krieg an der einen oder anderen Stelle verloren. Wichtig ist jedoch die Schlussfolgerung der Autorin, dass sexuelle Gewalt in der Regel nicht als solche verfolgt und bestraft wurde, sondern im Zusammenhang übergeordneter militärischer Verhaltensvorgaben, dem Männerbild der Wehrmacht oder der vermuteten Gefährdung der deutschen „Volksgemeinschaft“.

Im fünften, zentralen Kapitel der Arbeit wird die Ahndung von Sexualverbrechen von Wehrmachtsangehörigen durch Militärgerichte untersucht. Analysiert werden der Blick auf die zivilen Zeugen und Opfer und der Blick auf die Täter und Beteiligten unter den deutschen Soldaten: unter welchen Bedingungen wurden Ermittlungen aufgenommen und ein Sexualdelikt geahndet, von welchen Faktoren hing es ab, welcher der Beteiligten als glaubwürdig angesehen wurde? Anschließend wird die Sicht der Richter rekonstruiert: welche Bedeutung maßen sie den Sexualverbrechen bei, auf welche Kategorien gründeten sie ihre Urteile? Das „Ansehen der Wehrmacht“ und die „Geschlechtsnot“ der Soldaten – so das Ergebnis – bestimmten die Urteile ebenso wie das Ziel der möglichen Abschreckung und damit Prävention weiterer Taten.

Die Verfolgung sexueller Gewalt von Wehrmachtsangehörigen stellte nur einen Bruchteil der militärgerichtlichen Verfahren dar. In erster Linie waren die Militärgerichte mit Delikten wie Fahnenflucht, Ungehorsam oder so genannter Zersetzung der Wehrkraft befasst. Auch die Ahndung sexueller Gewalt, so ein weiteres Ergebnis der Arbeit, bewegte sich in erster Linie auf der Ebene der disziplinarischen Reaktion auf das abweichende gewalttätige Verhalten von Soldaten und war weniger auf den Schutz der weiblichen Zivilbevölkerung der besetzten Länder gerichtet. Hier stellt die Autorin signifikante Unterschiede zwischen der West- und der Ostfront fest: Während französischen Opfern sexueller Gewalt eher die Verletzung ihrer „weiblichen Geschlechtsehre“ zugestanden und Vergewaltigungen teilweise hart bestraft wurden, wurde griechischen oder sowjetischen Opfern schon die Existenz einer solchen Ehre abgesprochen und ihre Glaubwürdigkeit eher in Zweifel gezogen. Obwohl rassistische Bewertungskriterien in den Verfahren wirksam wurden, galt die Vergewaltigung von russischen Frauen den Militärgerichten offenbar nicht als „Rassenschande“, wohl aber die von jüdischen Frauen. Als Entlastungsgründe galten den Richtern Alkoholgenuss und „Geschlechtsnot“ der Soldaten sowie auch geistige Langsamkeit und „Phlegma“ der Angeklagten – Faktoren, die ansonsten in der nationalsozialistischen Werteordnung eher als Ausschlusskriterien dienten. Ganz ähnliche Faktoren begegnen uns beispielsweise in den Sterilisationsverfahren im Reich, wo sie zu Lasten weiblicher Sterilisationsopfer herangezogen wurden, um angebliche geistige Behinderungen nachzuweisen.

Verbrecherische Befehle

Die bei der militärgerichtlichen Verfolgung der Sexualverbrechen von Wehrmachtsangehörigen auftretenden signifikanten Unterschiede zwischen West- und Ostfront führt Beck unter anderem auf eine Zäsur in der Kriegsführung zurück. Der so genannte Gerichtsbarkeitserlass, einer der verbrecherischen Befehle, die das Vorgehen im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion regeln sollten, galt der möglichen Aufhebung der Strafverfolgung gegen Soldaten, die Straftaten gegenüber der Zivilbevölkerung im Besatzungsgebiet begingen. Tatsächlich stellt Beck eine Abschwächung der Strafmaße und einen Rückgang der Verfolgung von Sexualverbrechen in diesem Zusammenhang fest.

Wehrmachtsrichter sahen bei Fällen von Vergewaltigung das „Ansehen der Wehrmacht“ gefährdet und befürchteten, dass durch das brutale Vorgehen der Besatzer die Widerstands- und Partisanengruppen zusätzlichen Zulauf erhalten würden. Eine solche Einschätzung konnte bei entsprechender militärischer Lage zu harten Strafen führen, Beck führt Fälle aus dem besetzten Frankreich an. Für die Lage in der Sowjetunion verweist sie auf „den grundsätzlichen Konflikt […], den Krieg mit allen Mitteln, ‚ohne Einschränkungen gegen Frauen und Kinder‘ führen zu wollen und zugleich kontraproduktive Ausschreitungen einzelner Wehrmachtsangehöriger zu verhindern“ (S. 259).

Ein weiteres zentrales Ergebnis der Arbeit ist, dass durch die systematische Analyse der Fallbeispiele deutlich wird, wie sehr die kriegsgerichtliche Reaktion auf sexuelle Gewalt und deren Einschätzung als zu ahndender Verstoß gegen die militärische Disziplin von der jeweiligen militärischen und besatzungspolitischen Lage abhängig war.

Vor dem Hintergrund der Eskalation von Gewalt und brutaler Ahndung militärischer Disziplinlosigkeit gegen Ende des Krieges ist die geringe Anzahl der mit einem Todesurteil endenden Gerichtsverfahren wegen sexueller Gewalt bemerkenswert. Beck behandelt diese in einem gesonderten Abschnitt und weist darauf hin, dass eine solche Verurteilung in der Regel auf den Schutz der ‚deutschen Volksgemeinschaft‘ bezogen war, wenn der Angeklagte gemäß der entsprechenden strafrechtlich verschärfend wirkenden Verordnungen als Gewaltverbrecher oder Volksschädling eingestuft wurde.

Fazit

Einen Hinweis auf den systematischen Einsatz sexueller Gewalt durch die Wehrmacht kann Beck weder für den Westen noch für den Osten feststellen. Diesem Befund steht allenfalls das System der Wehrmachtsprostitution entgegen, das genau genommen ebenfalls auf sexueller Gewalt basierte. Die Bandbreite des Umgangs der Wehrmachtsführung mit sexuellen Gewalttaten von Soldaten, die anhand der Beispielfälle ausführlich untersucht wurden, fasst die Autorin unter der Überschrift „Duldung, Bagatellisierung und Bestrafung“ zusammen, wobei die Reihenfolge keine zufällige ist. Knapp fünfeinhalbtausend Urteile wegen so genannter Sittlichkeitsvergehen bei über siebzehn Millionen Angehörigen der Wehrmacht verweisen nicht nur auf eine zu vermutende Dunkelziffer, sondern auch auf die marginale Stellung, die diese Deliktgruppe in den Wehrmachtsverfahren insgesamt einnahm. Deutsche Soldaten vergewaltigten „Kinder beiderlei Geschlechts, vor allem aber […] weibliche Jugendliche und Erwachsene“ (S. 328) und wurden dafür unter Umständen vor ein Militärgericht gestellt – allein diese Tatsache zum Gegenstand einer ausführlichen Studie zu machen, mit dem Ergebnis, dass eine Verurteilung weniger von der Straftat als von der militärischen Lage abhing, kratzt weiterhin am Bild der „sauberen Wehrmacht“, das durch die geschichtspolitischen Debatten des letzten Jahrzehnts bereits gehörige Risse bekommen hat.

URN urn:nbn:de:0114-qn061157

Silke Schneider

Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut

E-Mail: sischn@zedat.fu-berlin.de

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