Hybridisierungen

Rezension von Rolf Löchel

Urte Helduser, Daniela Marx, Tanja Paulitz, Katharina Pühl (Hg.):

under construction?

Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis.

Frankfurt am Main, New York: Campus 2004.

292 Seiten, ISBN 3–593–37539–7, € 29,90

Abstract: Der Sammelband under construction? setzt sich zum Ziel, die Theoriebaustelle der weitläufigen Debatte um die Konstruktion von Geschlecht als Ganze in den Blick zu nehmen und zur Hybridisierung der theoretischen Diskurse beizutragen. Ein viel versprechendes Vorhaben, das von den meisten Autorinnen des insgesamt sehr lesenswerten Bandes vielversprechend angegangen wird.

Konstruktivistische Perspektiven

Wie Katharina Pühl, Tanja Paulitz, Daniela Marx und Urte Helduser im einleitenden Beitrag des von ihnen herausgegebenen Sammelbands under construction? erklären, markiert der Titel des Buches zum einen das Ziel, „eine wissenschaftlich-selbstreflexive Klärung konstruktivistischer Perspektiven zu unternehmen“, zum anderen sollen aber auch „wissenschaftliche/politische Interessen an der Analyse gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse“ deutlich werden. (S. 13) Zunächst aber entwerfen die Herausgeberinnen selbst eine genealogische Skizze des feministischen Konstruktionsbegriffs und zeichnen konzis dessen theoretische Entwicklung in der jüngeren Zeit nach. Abschließend stellen sie drei tragfähige Thesen zur „Konstruktionsthese von Geschlecht“ (ebd.) auf: „Die Kritik von Essentialismen bildet den gemeinsamen Ausgangspunkt konstruktivistischer Positionen. „ (S. 20) „Konstruktivistische Perspektiven sind mit einer Radikalisierung von Subjektkritik verbunden und haben damit konzeptuelle Neufassungen von ‚Subjekt‘ und Subjektivität(en) angeregt.“ (S. 21) „Zentral wurde im Anschluss daran ebenfalls eine veränderte Auffassung des Verhältnisses von Subjekt und Politik sowie vom Begriff des Politischen.“ (S. 22)

Die Theoriebaustelle im Blick

Den Herausgeberinnen ist es gelungen, einige der namhaftesten Gender-Theoretikerinnen und -Forscherinnen aus dem deutschsprachigen Raum wie etwa Andrea Maihofer, Angelika Wetterer, Mona Singer oder Birgit Sauer als Autorinnen zu gewinnen. Gekrönt wird die Liste der Beitragenden durch eine US-Amerikanerin: Judith Butler, die allerdings nur mit einer – leider gekürzten – Übersetzung des aus ihrer jüngsten Publikation Undoing Gender stammenden Essays „Gender Regulations“ vertreten ist. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, zu „‚Hybridisierungen‘ der theoretischen Diskussion“ beitragen. (S. 23) Dies ist umso mehr vonnöten, als die Herausgeberinnen zurecht monieren, dass „die Debatte um die Konstruktion der Kategorie Geschlecht“ zwar eine „höchst betriebsame und weitläufige Theoriebaustelle“ ist, die „Gesamtbaustelle“ (S. 12) als Ganze jedoch immer seltener in den Blick genommen wird.

Der erste und umfangreichste Teil des Buches dokumentiert aktuelle Positionen feministischer Konstruktivismen. Ihm folgen die drei Kapitel „Körper, Sexualität/en, Identität/en“, „Politiken und Ökonomien“ sowie „Visualisierungen, Repräsentationen, Ästhetiken“, die konstruktivistische Theorien „in Verbindung mit thematisch spezifischen bzw. empirischen Anwendungen“ vorstellen. (S. 25) Beschlossen wird der Band durch eine kommentierte Bibliographie von Daniela Marx.

Die misogyne Etablierung des Femininen als positiver Metapher

Nachdem Dorothea Dornhof im zweiten Kapitel „Geschlecht als wissenschaftliche Tatsache“ (S. 127) untersucht und Katharina Pühl gemeinsam mit Birgit Sauer im dritten die These plausibilisiert, „dass ein geschlechterkritisch orientiertes Konzept von Globalisierung und Transformation von Staatlichkeit nur auf der Basis eines hegemonietheoretischen Zugangs sinnvoll erarbeitet werden kann“, (S. 165) vertritt Urte Helduser im letzten Kapitel die interessante These, dass die „Etablierung des ‚Femininen‘ als (positive[r]) ästhetische[r] Metapher“ im Diskurs um 1900 auf einer „Sex/gender-Dichotomie mit deutlich misogynem Effekt“ basiert. (S. 242) Wie die Literaturwissenschaftlerin zeigt, wandten sich nicht nur Propagandisten einer „‚männlichen Moderne‘“ wie etwa die Berliner Naturalisten gegen die „aufkommende[] emanzipatorische[] Frauenliteratur“, auch Vertreter des „literarischen ‚Feminismus‘“ trennten das ästhetische Konzept des Femininen eindeutig vom „‚biologisch Weiblichen‘“. (S. 244)

Der Täter hinter der Tat

Sind die Beiträge der drei letzten Teile zumindest für diejenigen von Interesse, deren Forschungstätigkeiten in die jeweils behandelten Teilgebiete fallen, so sind die des ersten Teils für alle am Diskurs der feministischer Theorie Beteiligten relevant. Unter dem Titel „Widersprüche zwischen Diskurs und Praxis“ untersucht Angelika Wetter hier, welche Erkenntnispotentiale die Perspektive des Sozialkonstruktivismus zu bieten vermag. Die Soziologin vertritt die These, dass Diskussionen, die sich „allzu schnell“ auf die epistemologischen Differenzen zwischen konstruktivistischen Ansätze konzentrieren, „nicht (mehr) so recht weiterführen“. (S. 60) Daher sei es an der Zeit, sich verstärkt der „Ebene des Gegenstandes“ zuzuwenden und hier nach „Unterschieden und Anschlussmöglichkeiten“ zwischen diesen Konstruktivismen zu suchen. (ebd.) Allerdings räumt sie ein, dass für Kunst- und Kulturwissenschaften „andere Zugangsweisen“ effektiver sein können. (S. 66)

Auch Andrea Maihofer befasst sich mit einem sozialkonstruktivistischen Problem. Im Anschluss an Erving Goffmans Aufsatz „Das Arrangement der Geschlechter“ (1994) geht die Philosophin der bis lang offenen Frage nach, wie der Prozess sozialer Konstruktion konkret zu fassen sei. Es gelte zu erklären, „wie soziale Interaktion geschlechtsspezifisches Handeln von Individuen jeweils konkret bewirkt, ohne auf vorgängig vorhandene geschlechtsspezifische Eigenschaften, Kompetenzen oder psychische Strukturen der Individuen zurückzugreifen“ (S. 36) Diese Frage, so moniert Maihofer nicht zu Unrecht, sei im konstruktionstheoretischen Diskurs bislang nur „sehr diffus“ (S. 35) behandelt worden. „Durch die ständige Wiederholung der immer wieder selben Handlungsweisen entsteht mit der Zeit hinter und durch die Tat nachträglich ein ‚Täter‘“, (S. 41) lautet ihr origineller Lösungsvorschlag.

Gleich zwei Autorinnen greifen Joan W. Scotts ebenso erhellende wie beunruhigende, aber im deutschsprachigen Raum bislang wenig rezipierte Rede „Die Zukunft von gender“ (1999) auf: Dorothea Dornhof (vgl. S. 133 f.) und Astrid Deuber-Mankowsky. Ausgehend von Scotts Überlegungen zur aktuellen kritischen Potenz der Analysekategorie Gender fragt Deuber-Mankowsky, „wie eine Position feministischer Kritik aussehen könnte, die sich nicht mehr auf das Paradigma der Differenz Natur/Kultur bezieht“. (S. 71) Statt auf die „Dekonstruktion des ‚Natürlichen‘“ solle sich feministische Kritik im Anschluss an Donna Haraway auf die Dekonstruktion eines Begriffs von Kommunikation konzentrieren, „der sich primär auf die logische Funktion der Rekursion, also der Selbstbezüglichkeit stützt und in dessen Zentrum das Phänomen der Performativität steht“. (S.72)

Konstruktion als (nicht-)technischer Begriff

„Angesichts aktueller gen-, bio- und informationstechnologischer Entwicklungen“ gilt es der Mitherausgeberin Tanja Paulitz zufolge, das „kritisch-analytische Potential feministischer Konstruktivismen“ unter Bezugnahme auf den Bereich des Technischen genauer herauszuarbeiten. (S. 104) Das von Kultur- und Gesellschaftswissenschaftler/-innen so häufig im Munde geführte Wort der Konstruktion sei zu einer „abgeschliffene[n] Metapher“ herabgesunken, deren Herkunft aus dem Bereich der Technik „weitgehend verblasst“ sei. (S. 103) „Im Bereich der Technik hat Konstruktion theoriegeschichtlich betrachtet ihre markantesten Wurzeln“, (S. 105) argumentiert Paulitz. Erst zu Beginn des gerade vergangenen Jahrhunderts sei er „in Kunst und Literatur der Moderne diffundiert“. (ebd.) Implizit wird Paulitz’ Auffassung, dass Konstruktion ein genuin technischer Begriff des 19. Jahrhunderts sei, in einem der anderen Beiträge relativiert. Werner von Treek macht ihn bereits im 17. und 18. Jahrhundert zur Bezeichnung für einen „planvolle Aufbau, das zielbestimmte Zusammensetzen von Teilen zu einem Ganzen sei es eines Sprachgebildes, sei es einer Ingenieurleistung“ aus. (S. 121) Tatsächlich aber reicht das nicht-technische Verständnis des Begriffs bis in die Antike zurück. So verwandte Cicero ihn als terminus technicus der Rhetorik, der die Verknüpfung einzelner Worte zu einem Satz bezeichnete. Älter noch ist die geometrische Konstruktion, deren sich bereits Platons Zeitgenosse Eudoxos zur mathematischen Beweisführung bediente. Ungeachtet ihrer nicht ganz stichhaltigen Ausführungen zur Begriffsgeschichte ist Paulitz’ Projekt einer „Vergeschlechtlichung technischen Konstruierens“ (S. 104) zu begrüßen, mit dem sie den „Bereich der Technik“, der die „Relevanz gesellschaftlicher Verhältnisse“ ausblende, und die feministische Technikforschung, welche die „Technizität der eigenen analytischen Begriffe“ nicht hinreichend reflektiere, „aufeinander beziehen und weiterdenken“ möchte. (S. 107)

Die Ethik der Wahrheit

Der erhellendste Originalbeitrag stammt aus der Feder Mona Singers. Die Wiener Wissenschafts- und Kulturtheoretikerin plädiert für einen „feministisch motivierte[n] Wahrheitsbegriff“, der „sowohl die sozialkonstruktivistische Perspektive als gesellschaftskritische als auch das Ziel wissenschaftlich möglichst objektiver Analysen“ beinhaltet. (S. 88) Beide könnten allerdings nur „ohne realistische Versicherung des Gegenstandes“ begründet werden und seien intersubjektiv zu verhandeln. ( ebd.) Anders als Habermas’ Konstrukt des herrschaftsfreien Diskurses betont Singer die Unhintergehbarkeit der „Situiertheit von Vernunft und Wissen“, (S. 89) aufgrund derer sich Intersubjektivität stets „auf dem Terrain unterschiedlicher Rationalitäten als Ausdruck von Macht- und Herrschaftsverhältnissen“ bewegt. (ebd.) Somit ist ‚Wahrheit‘ Singer zufolge „nicht mehr bloß eine wissenschaftlich epistemologische, sondern auch eine politisch-ethische Frage der Beseitigung von epistemischen Ungerechtigkeiten“. (ebd.)

Unmittelbar auf diesen wohl stärksten Beitrag des Bandes folgt der schwächste: Anette Barkhaus und Anne Fleig bieten ein echtes Ärgernis, indem sie längst überwunden geglaubte Gerüchte über Butlers Körpertheorie wieder aufwärmen. So etwa, dass Butler den Körper als “ (beliebiges) Zeichen“ auffasse und ihre Theorie „die ‚totale‘ Verfügungsgewalt“ über ihn impliziere. (S. 95)

URN urn:nbn:de:0114-qn061089

Rolf Löchel

literaturkritik.de (Philipps-Univ. Marburg)

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