Weiblichkeitsentwürfe viktorianischer Literatur

Rezension von Andrea Rönz

Silvia Mergenthal:

Autorinnen der viktorianischen Epoche.

Eine Einführung.

Berlin: Schmidt 2004.

160 Seiten, ISBN 3–503–06192–4, € 17,80

Abstract: Die viktorianische Epoche verzeichnet einen überproportionalen Zuwachs an Schriftstellerinnen besonders im Bereich des Romans, aber auch innerhalb der übrigen literarischen Gattungen. Autorinnen wie Charlotte und Emily Brontë, Mary Elizabeth Braddon, Christina Rossetti oder Harriet Martineau reflektieren in ihren Schriften eine Gesellschaft, in deren Ideologie die Rolle der Frau als „Angel of the House“ definiert wurde. Silvia Mergenthal untersucht anhand ausführlicher Beispiele die Darstellung der konkreten Perspektiven britischer Frauen in Texten des 19. Jahrhunderts.

Die überwiegende Zahl britischer Romanautorinnen des 19. Jahrhunderts entstammt der gutsituierten bürgerlichen Gesellschaft viktorianischer Provenienz, die in ihrer Eigenart aus den gesellschaftlichen Umbrüchen der Industriellen Revolution hervorgegangen ist. Denn obwohl Literatur mehr und mehr, besonders seit der zunehmenden Alphabetisierung seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1870, auch von den ‚unteren‘ Gesellschaftsschichten konsumiert wird, bleibt die kulturelle Dominanz des Bürgertums unangetastet. Der Roman wird dabei durch seine Eigenschaft als formal-strukturell und thematisch vergleichsweise wenig regulierte literarische Gattung zum zentralen Medium der Diskussion zeittypischer Fragestellungen. Parallel zu den gesellschaftlichen Reformansätzen steht im Mittelpunkt der Romane viktorianischer Autorinnen der Versuch eines neuen Weiblichkeitsentwurfs der Frau in der Familie auf der einen und der Frau außerhalb der Familie – gleichbedeutend mit der Außenseiterin – auf der anderen Seite. Silvia Mergenthal untersucht diese Texte und arbeitet dabei mit langen Auszügen und ausführlichen Interpretationen verschiedener Romane wie Jane Eyre von Charlotte Brontë oder Lady Audley’s Secret von Mary Elizabeth Braddon sehr nah am Text.

Auch im Mittelpunkt der literarischen Tätigkeit der britischen Lyrikerinnen des 19. Jahrhunderts steht neben der Auseinandersetzung mit der Romantik die Suche nach einer weiblichen Tradition innerhalb einer nach wie vor männlich geprägten Poesie und Gesellschaft. Beispielhaft für das Infragestellen der konventionellen geschlechtlichen Polarität von Charaktereigenschaften und Verhaltensmustern steht der Versroman Aurora Leigh von Elizabeth Barrett Browning, einer Autorin, der mit diesem Werk auch die bisher als unvereinbar betrachtete Verbindung zweier Stilrichtungen gelingt. Wie Silvia Mergenthal zeigt, tritt auch bei Emily Brontë ein im Gegensatz zur Romantik stark ambivalentes Verhältnis zur Natur zutage, wohingegen bei Christina Rossetti die Auseinandersetzung mit religiösen Einflüssen dominiere.

Von Frauen verfasste Theaterstücke oder für das Theater adaptierte Romane waren insgesamt von eher marginaler Bedeutung. So bleibt dieser Abschnitt innerhalb der Publikation auch auf wenige Seiten begrenzt. Der fragwürdige gesellschaftliche Leumund des Theaters, der dem häuslichen weiblichen Ideal widersprach, sowie die ausschließliche Besetzung der Branche der Theaterkritiker mit Männern machten es Frauen schwer, in dieser literarischen Sparte Fuß zu fassen.

Außerhalb der literarischen Gattungen tritt die tatsächliche Lebenssituation britischer Autorinnen des viktorianischen Zeitalters in nicht-fiktionalen Texten wie Tagebüchern, Autobiographien oder Reiseberichten ungefiltert zu Tage. Beispielhaft werden hier die Biographien der Schriftstellerinnen Harriet Martineau und Mary Kingsley vorgestellt, die durch ihre Schriften, Vorträge und Reisen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Vorgänge in Großbritannien ausübten, jedoch sowohl gesellschaftlich als auch innerhalb der weiblichen schreibenden Zunft als Ausnahmeerscheinungen gelten müssen.

Die von Silvia Mergenthal ausgewählten Autorinnen müssen für die Literatur und die gesellschaftliche Realität ihrer Zeit sowohl als repräsentativ als auch als exzeptionell gelten. Der kompositorisch abgerundete Band ist somit ein interessanter und lesenswerter Einstieg in die von Frauen verfasste Literatur, aber auch in die Gesellschaftsgeschichte der viktorianischen Epoche. Eine weitergehende wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas wird durch die umfangreiche Auswahlbibliographie unterstützt.

URN urn:nbn:de:0114-qn053249

Andrea Rönz M.A.

Bonn, Leiterin Stadtarchiv Linz am Rhein

E-Mail: roenzpost@t-online.de

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