Wissenschaftssystem und Geschlecht

Rezension von Annett Moses

Bettina Heintz u.a.:

Wissenschaft die Grenzen schafft.

Geschlechtliche Differenzierung im disziplinären Vergleich.

Bielefeld: transcript 2004.

320 Seiten, ISBN 3–89942–196–5, € 26,30

Abstract: Die Soziologinnen Bettina Heintz, Martina Merz und Christina Schumacher gehen der Frage nach, welche Faktoren, Mechanismen und Praktiken für die Unterrepräsentation der Frauen im Wissenschaftssystem verantwortlich sind und wie sich die Geschlechterdifferenz im Arbeitszusammenhang artikuliert. Als Untersuchungsräume dienen vier Institute der ETH Zürich, in denen jeweils epistemische Felder, soziale Organisationsformen und kulturelle Identitäten betrachtet werden, um sie in einem zweiten Schritt mit der Geschlechterdichotomie zu konfrontieren. Methodisch verbinden die Autorinnen die Wissenschaftssoziologie mit der Geschlechterforschung.

Ausgangsszenarium

Die Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft ist ein nicht wegzudiskutierendes Faktum. Ist die „scientific community“ auch im 21. Jahrhundert eine Männerdomäne, wie die feministische Wissenschaftskritik unterstellt, oder lohnt ein differenzierterer Blick auf das heterogene Gebilde Wissenschaft, um sich nicht nur den strukturellen Faktoren dieses ernüchternden Befundes anzunähern? Die Autorinnen der vorliegenden Studie wollen neben der Ursachenforschung offen legen, wie sich die Geschlechterdifferenz im Arbeitszusammenhang artikuliert.

Ausgangspunkt des Buches sind die Grenzziehungsprozesse der Wissenschaft, die Verfahren und Rituale, mit denen sich Wissenschaft nach außen abgrenzt und intern Demarkationslinien aufbaut. Diese Grenzen sind vielfältig und reichen von disziplinären über positionale bis zu geschlechtlichen Differenzierungen. Was unterscheidet jedoch die Wissenschaft von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen? Wissen wird überall und ständig produziert, aber nur die Wissenschaft erhebt den Anspruch, über objektives und von persönlichen Interessen gereinigtes Wissen zu verfügen. Dieser Objektivitätsanspruch gründet sich auf spezifische Verfahren der Wissensgewinnung und auf bestimmte soziale Regeln (Robert Merton, 1985). Skeptizismus (Behauptungen werden nicht blindlings akzeptiert) und Universalismus (Wissensansprüche werden nach unpersönlichen Kriterien beurteilt) unterscheiden die Wissenschaft von anderen Funktionssystemen. Aus diesen Prinzipien folgt, dass Zuschreibungen aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialer Herkunft in der Wissenschaft noch illegitimer sind als in anderen Bereichen der Gesellschaft. Im Selbstverständnis der modernen Wissenschaft ist das Geschlecht demnach ein Unterschied, der keinen Unterschied macht. Dies wird durch die Realität widerlegt, denn Frauen sind in den höheren Rängen des Wissenschaftssystems massiv unterrepräsentiert. Die Autorinnen fragen daher, wie der universalistische Anspruch der Wissenschaft zu bewerten ist. Erzeugen die in der Wissenschaft institutionalisierten sozialen und methodischen Regeln tatsächlich geschlechtliche Indifferenz, und die Unterrepräsentation der Frauen ist auf außerhalb dieses Systems liegende Faktoren zurückzuführen, oder ist der moderne Wissenschaftsbetrieb „androzentrisch“?

Wissenschaft ist kein homogenes Gebilde, sondern besteht aus vielen disziplinären Kulturen, die sich in ihren epistemischen Praktiken, ihrer Arbeitsorganisation, ihrer Kommunikationsform und ihrer kulturellen Codierung unterscheiden. Daher wird nach den disziplinenspezifischen Bedingungen gefragt, die Geschlechtszugehörigkeit sozial relevant werden lassen. Anstatt wie die feministische Wissenschaftskritik eine ubiquitäre Präsenz der Geschlechterdifferenz zu unterstellen, machen die Autorinnen sie zu einem Explanandum: Über welche Prozesse und in welchen Kontexten werden geschlechtsdifferente Bedingungen und Verhaltensweisen erzeugt oder aber auch nicht erzeugt? Durch diese Herangehensweise verliert die Geschlechterdifferenz ihren Status als omnirelevantes Ordnungsprinzip.

Forschungsdesign

Zur Identifizierung von spezifischen Bedingungen und Kontexten der „Aktivierung von Geschlecht“ werden in vier wissenschaftlichen Disziplinen Fallstudien durchgeführt, die sich an der soziologischen Ethnographie orientieren. Der ethnographische Zugang konfrontiert das aus Interviews gewonnene Wissen mit dem alltäglichen Verhalten, um ein komplexeres Bild der unterschiedlichen Artikulationsformen der Geschlechterdifferenz zu gewinnen. Die Auswahl der Disziplinen erfolgte nicht nach dem gängigen Schema Natur- versus Geisteswissenschaften, sondern nach ihrem externen Verflechtungsgrad, der wiederum nach dem Grad der Laboratorisierung (Feld- versus Laborwissenschaft) und dem Ausmaß der Professionsorientierung bestimmt wird. Die ausgewählten Disziplinen Botanik, Pharmazie, Meteorologie und Architektur nehmen zwischen den Polen Labor- und Feldwissenschaft ganz unterschiedliche Positionen ein. Zweites Auswahlkriterium bildete die Wissenschafts- bzw. Berufsorientierung der Disziplinen.

Wissenschaft als Testfall

Die Präsentation der Forschungsergebnisse erfolgt in fünf Teilen. Das erste Großkapitel, mit „Auftakt“ überschrieben, zeichnet den historischen Wandel der Wissenschaft im Groben nach. Ihre funktionelle Ausdifferenzierung erfolgte mit der Etablierung der Universitäten als wichtigsten Trägern von Forschung und Lehre sowie durch die Ausbildung von Fachdisziplinen. Ihre Außengrenze stabilisierte die Wissenschaft zeitgleich zur Ausbildung der modernen Familie, die jetzt als private Sphäre den Gegenpol zur Berufswelt bildete. Mit der Zuschreibung zur Berufswelt wurde die Wissenschaft als genuin männliche Sphäre definiert. Obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts die rechtlichen Barrieren aufgehoben wurden, blieben die Frauen in der Wissenschaft unterrepräsentiert.

Der zweite Teil schildert im wahrsten Sinne des Wortes eine „Ortsbegehung“, nämlich den Besuch der Institute, an denen die Forscherinnen ihr Fallstudienmaterial sammelten. Martina Merz und Christina Schumacher schildern ihre ersten Eindrücke von der Atmosphäre der Institute für Botanik, Meteorologie, Architektur und Pharmazie an der ETH Zürich. Insgesamt wurden dort 45 Interviews (19 mit Männern, 26 mit Frauen) geführt, die als Basis für die qualitative Analyse dienten.

Im dritten Teil „Innenleben“ werden die kulturellen Identitäten, die sich in Bildern, Normen und Traditionen ausdrücken, für die vier Disziplinen rekonstruiert. Auch hier gehen die Autorinnen vergleichend vor, indem sie die Disziplinen nacheinander auf Anknüpfungspunkte für die Artikulation von Geschlechterdifferenzen untersuchen. Aus ihrer Bestandsaufnahme leiten sie später zu prüfende Thesen ab wie etwa die Frage nach disziplinenspezifischen Spielräumen für die Inszenierung von Geschlecht. Die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass die mit den vier Disziplinen verbundenen kulturellen Identitäten durchweg auf Merkmalen ihrer epistemischen Praxis oder sozialen Organisation basieren. Durch die symbolische Aufladung dieser Merkmale werden Vorstellungen generiert, die ein identitätsstiftendes Potenzial entfalten wie etwa die „Heroisierung der Feldarbeit“ in Botanik und Meteorologie.

Der vierte Teil „Spurensuche“ untersucht, mittels welcher Praktiken sich Geschlechterdifferenz in den vier ausgewählten Disziplinen artikuliert. Hierzu wird die Bedeutung von Geschlecht im Verlauf eines typischen wissenschaftlichen Werdeganges analysiert. Entwürfe und Interpretationen eines „Lebens in der Wissenschaft“ werden mit der Geschlechterdichotomie konfrontiert.

Forschungsergebnisse

Ein Hauptergebnis der Studie ist die Vielschichtigkeit und teilweise Uneindeutigkeit der geschlechtlichen Differenzierung. Überraschenderweise konnten auf der Ebene von Deutungen und Praktiken keine durchgängigen Geschlechterunterschiede ausgemacht werden. Ob etwa die Wissenschaft heroisiert oder als Beruf wie jeder andere trivialisiert wird, ob das Geschlecht in der Selbstpräsentation markiert wird oder hinter der beruflichen Inszenierung verschwindet, hängt neben der Geschlechtszugehörigkeit von vielen Faktoren ab. Hinsichtlich der Verteilungsunterschiede und Zugangschancen stellen die Autorinnen auch für ihre vier Disziplinen fest, dass durchweg eine ausgeprägte vertikale Segregation herrschte, d. h. von den Studentinnen bis zur Professorenschaft sinkt der Frauenanteil dramatisch. Die stärksten Verluste vom Studium zum Beruf zeigt die Architektur mit einem Frauenanteil von 39% an der Studentenschaft und lediglich 12 % bei den Architekten.

Obwohl sich die befragten Frauen in einem männlich dominierten Berufsfeld bewegten, fanden sich keine relevanten Differenzen auf der Deutungsebene. Berufliche Erfahrungen, Entscheidungen und Zukunftspläne wurden weder von Männern noch von Frauen mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit in Verbindung gebracht. Auch wenn etwa die Botanik aus der Außenperspektive eine weibliche Domäne ist, erscheint sie in der Binnenwahrnehmung ebenso wenig geschlechtlich markiert wie etwa die Meteorologie, die als „neutrales“ Fach gilt. Als weniger geschlechtsneutral erwiesen sich die Deutungsmodelle, die sich auf die Verbindung zwischen Beruf und Privatleben beziehen. Mit zunehmendem Alter und fortgesetzter Karrierephase schleichen sich vermehrt Geschlechterunterschiede ein. Das Verständnis von Wissenschaft als einer ‚Berufung‘ ist eine Deutungsvariante, die Männern eher offen steht als Frauen. Die Deutung der Wissenschaft als ‚Beruf‘ wie jeder andere läuft allerdings dem Selbstverständnis der Wissenschaft zuwider und befestigt so die strukturelle Außenseiterposition der Frauen auch symbolisch.

Auf der Ebene der Praktiken wurden auch wenige Geschlechterunterschiede gefunden, obwohl doch in allen vier Disziplinen eine Vielzahl von Möglichkeiten zur „Geschlechtsinszenierung“ offen steht. Während sich die Architektur eindeutig als männlich codiert zeigte, waren in den anderen drei Disziplinen unterschiedlichste Mischformen des „doing gender“ in Verknüpfung mit „doing science“ zu beobachten. Je nach Kontext, Situation und Interaktionskonstellation wurde das eigenen Geschlecht wechselweise ignoriert, inszeniert, dementiert oder neutralisiert.

Als generalisierendes Fazit wird festgehalten, „dass das Geschlechterverhältnis auch in der Wissenschaft beträchtlich in Unordnung geraten ist – sobald man genauer hinblickt, sind eindeutige Muster nicht mehr zu erkennen“ (S. 278). Trotzdem existieren generative Prinzipien, die dieser (Un-)Ordnungsstruktur zugrunde liegen, wie der Standardisierungsgrad der wissenschaftlichen Verfahren, die Form der Inklusion in den Forschungszusammenhang, die Kooperationsstruktur und die Berufsorientierung. Die Berücksichtigung von disziplinären Unterschieden wirft über die „gender studies“ hinaus neue Forschungsfragen auf. Die sich aus der Studie manifestierende „disunity of science“ erfordert – gemäß der Einschätzung der Autorinnen – ein radikales Umdenken bei der Behandlung von wissenschaftlichen Disziplinen als vorgegebene Einheiten.

Fazit

Die Autorinnen haben eine gut strukturierte und schlüssig aufgebaute Studie vorgelegt. Sie betreten mit ihrem disziplinenvergleichenden Ansatz Neuland in der Kombination von Wissenschaftssoziologie und Geschlechterforschung. Trotz der Komplexität des Untersuchungsansatzes ist die Darstellung gut lesbar, und die Schlussfolgerungen sind allesamt nachvollziehbar. Aufgrund des streckenweise hohen Abstraktionsgrads ist das Buch für die Nicht-Soziologin keine leichte Kost. Die bisweilen etwas trockene soziologische Terminologie wird an vielen Stellen durch Zitate aus den Interviews aufgelockert. Allerdings sind die für die Schweiz gewonnen Ergebnisse durch Studien zu anderen Ländern zu bestätigen, zu modifizieren oder zu verwerfen.

URN urn:nbn:de:0114-qn053201

Annett Moses M.A.

Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen

E-Mail: spengel@zew.de

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