Die Transition zur pflegenden Tochter

Rezension von Dagmar Dräger

Christina Geister:

‚Weil ich für meine Mutter verantwortlich bin‘.

Der Übergang von der Tochter zur pflegenden Tochter.

Bern: Hans Huber 2004.

249 Seiten, ISBN 3–456 84008–X, € 34,95

Abstract: Das Buch aus der Reihe „Studien zur Gesundheits- und Pflegewissenschaft“ beschreibt den theoretischen Hintergrund, das methodische Vorgehen und die Ergebnisse einer biografischen Untersuchung, die sich dem Übergang von der Tochter zur pflegenden Tochter widmete. Grundlage der Publikation ist die Dissertation (2002) der Autorin. Mit der Berücksichtigung biographischer und familiärer Hintergründe wird eine neue Perspektive in der Forschung zu pflegenden Angehörigen eingenommen.

Wichtige Inhalte/Zielpublikum

Christina Geister widmet sich in ihrem Buch der besonderen Situation erwachsener Töchter, die ihre Mütter zu Hause pflegen. Obwohl es sich dabei um die häufigste Pflegekonstellation handelt, ist bisher wenig über spezifische Anpassungs- und Bewältigungsprozesse bekannt, die den Übergang (Transition) von der Tochter zur pflegenden Tochter charakterisieren. Sorgearbeit, ein häufiger Bestandteil weiblicher Biografien, ist sicherlich von soziologischer, psychologischer, gesundheits- und pflegewissenschaftlicher Bedeutung. So ist es das Anliegen der Autorin, einerseits nach Gründen für die Übernahme sorgender Tätigkeit zu suchen sowie die Problembewältigungs- und Kompensationsstrategien pflegender Töchter zu beschreiben. Andererseits sollen Gesundheitsrisiken für Pflegende und Pflegebedürftige aufgedeckt, Belastungen aufgespürt und kontinuierliche Versorgungsdefizite aufgezeigt werden. Auf diese Weise soll auch Hilfe zur konkreten Versorgungsgestaltung gegeben werden.

Auch wenn die Autorin eingangs die Hoffnung äußert, dass ihre Arbeit dazu beiträgt, dass die eine oder andere Tochter ihren Übergang zur pflegenden Tochter frühzeitiger erkennen und individuell gestalten kann, werden – hinsichtlich Inhalt und Niveau – wohl eher wissenschaftlich orientierte Personen als potentiell pflegende Töchter angesprochen. Die von der Studie ausgehenden Impulse richten sich in erster Linie an Gesundheits- und Sozialwissenschafter, an Tätige in der Gesundheitspolitik und an interessierte Mitglieder der gesundheitswirksamen Berufe.

Beurteilung des Buches

Inhaltlich gliedert sich das Buch in einen theoretischen und einen empirischen Teil sowie eine zusammenfassende Abschlussdiskussion. Zunächst werden die bisherigen empirischen Befunde zur Situation pflegender Töchter analysiert, und es wird die theoretische Auseinandersetzung zur Transition aus Sicht unterschiedlicher Disziplinen aufgearbeitet. Dabei werden wesentliche Forschungslücken aufgedeckt, die auch die theoretischen Erklärungsansätze der Pflegewissenschaft betreffen.

Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass ohne Kenntnisse der biografischen Hintergründe viele Phänomene in der Pflegesituation nur unzureichend geklärt werden können und dass daher die Situation vor und nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit analysiert werden muss. Die daraus abgeleiteten Konsequenzen für ihr methodisches Vorgehen sind ausgesprochen plausibel, und die Beschreibung der komplexen Datenanalyse in Anlehnung an die von Gabriele Rosenthal entwickelte Methode der biografischen Fallkonstruktion wird durch die Erläuterung an Beispielen sehr gut nachvollziehbar. Einen großen Raum nimmt die empirische Darstellung der Fallanalysen ausgewählter Lebensgeschichten dreier Töchter ein, die sich jedem leicht erschließt. Ausgehend davon, dass eine biografische Selbstdarstellung Rückschlüsse auf das Selbstverständnis einer Gesellschaft erlaubt, geht die Autorin von verallgemeinerbaren Befunden aus.

Mit Hilfe der Rekonstruktion von Lebensläufen gelingt es Christina Geister, unterschiedliche Übergangsprozesse zu beschreiben und erstmals verschiedene Typen der Transition zu ermitteln. Inwieweit eine solche Typisierung hilfreich ist, muss sich allerdings erst in der Praxis zeigen. Geister kann jedoch nachweisen, wie bedeutsam Kindheitserlebnisse, religiöse und moralische Erziehung, gesellschaftlicher Einfluss und die gewachsene Mutter-Tochter-Beziehung – die auch in der Pflegebeziehung einen hohen Stellenwert einnimmt – sind. Die Autorin bestätigt Bekanntes wie den häufig ungeplanten und unbewussten Einstieg in die Pflegerolle. Neu ist der Gedanke, dass ein Einverständnis zur möglichen Pflege implizit bereits jahrelang vorher durch verantwortliches Sorgen gegeben wird.

Welche wichtigen Schlussfolgerungen lassen sich aus den Ergebnissen für die in der Gesundheitsversorgung Tätigen ziehen? Unterstützungskonzepte müssen prozess- und typenorientiert sowie bedarfs- und bedürfnisorientiert sein. Sie müssen den biografischen Hintergrund und den familiären Kontext und die Familiendynamik berücksichtigen. Damit werden bereits vorhandene Ergebnisse zum Thema unterstrichen, aber auch neue Aspekte hervorgehoben. Interessante Impulse werden gesetzt durch Vorschläge, die über normale Beratungsformen hinausgehen. Die Forderung nach Einbeziehung biografischer und familiensystemischer Sichtweisen ist für die Pflege neu und stellt an die Praxis sehr hohe Ansprüche. Die Ausweitung von Beratungsangeboten und fachlichen Leistungen war schon mehrfach das Fazit von Untersuchungen, allerdings ohne dass die Möglichkeit eines zugehenden Charakters hervorgehoben wurde. Die Hinweise sind vor allem an die Adresse von Gesundheitssystem, Sozial- und Familienpolitik gerichtet. Das Buch liefert einen weiteren wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Situation pflegender Angehöriger.

URN urn:nbn:de:0114-qn053068

Diplom-Pflegepädagogin Dagmar Dräger

Berlin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie

E-Mail: dagmar.draeger@charite.de

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