Väter. Die Bedeutung des Vaters für die psychische Entwicklung des Kindes

Rezension von Inge Seiffge-Krenke

Jean LeCamus:

Väter.

Die Bedeutung des Vaters für die psychische Entwicklung des Kindes.

Weinheim: Beltz 2003.

199 Seiten, ISBN 3–407–22139–8, € 11,90

Abstract: Das Buch behandelt die Bedeutung des Vaters für die psychische Entwicklung vor allem kleinerer Kinder anhand empirischer Daten und Befunde, die sich überwiegend auf Frankreich beziehen, z. T. aber auch deutsche und anglo-amerikanische Studien berücksichtigen

Jean LeCamus ist Psychologe und Professor an der Universität von Toulouse und hat sich in den letzten Jahren auf die Untersuchung der frühkindlichen Entwicklung konzentriert und auf den besonderen Anteil der Väter daran. In seinem Buch bricht er mit der traditionellen Vorstellung, dass für die ersten Monate und Lebensjahres des Kleinkindes allein die Mutter zuständig ist, und betont die Notwendigkeit einer intensiven Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern von Anfang an. So wird etwa die Bedeutung der Väter bei der Herausbildung von Emotionen untersucht. Er geht dabei auf die Bindungsentwicklung ein und betrachtet die frühe Entwicklung enger Beziehungen an beide Eltern und die Stabilität der Bindung über einen längeren Zeitraum. In diesem Zusammenhang macht er auf die interessante Unterscheidung aufmerksam, dass Kinder verstärkt Trost durch die Mutter, aber Anregung durch den Vater suchen, gemäß der Theorie von Bowlby, dass Bindung und Exploration unmittelbar zusammen gehören. Allerdings sei noch viel auf dem Gebiet der affektiven Beziehung zwischen Vater und Kind unerforscht, weil man sich bislang zu sehr auf die Mutter konzentriert habe.

Eine andere wichtige Vaterfunktion, der Vater als Lehrer und Partner in der Kommunikation, wird ebenfalls ausführlich erläutert. LeCamus schildert die interessante Beobachtung, dass sich „Muttersprache“ und „Vatersprache“ stark unterscheiden und dass Väter gegenüber kleineren Kindern dazu neigen, weniger vertraute Worte zu verwenden und die Kinder auch intellektuell stärker herausfordern, als dies Mütter tun. Gleichzeitig stellen sie sich häufiger „schwerhörig“, um damit in gewisser Weise das Kind zu zwingen, sich seinem Gesprächspartner verständlich zu machen, nachzudenken und sich präzise zu äußern. Kinder fühlen sich von ihren Müttern besser verstanden, haben aber vor den Vätern mehr Respekt, so zeigen seine Untersuchungen. Sie betrachten ihren Vater auch eher als „Experten“, von dem sie noch viel lernen können. Die Kompetenz des Kindes wird bei dem Vater stärker durch einen Stil, den LeCamus als pädagogisch bezeichnet, unterstützt.

Elementare Unterschiede in der Beziehung und im Verhalten von Vätern im Vergleich zu Müttern werden schon im Umgang mit sehr kleinen Babys deutlich. LeCamus beschreibt sie als Unterschied zwischen ‚visuellen‘ Müttern und ‚taktilen‘ Vätern: Er greift da auf die Studien von Yogman zurück, der gezeigt hat, dass motorische und aktive Elemente und visuelle Stimulation bei Vätern sehr viel häufiger beobachtet werden können als bei Müttern.

Eine weitere Vaterfunktion sieht LeCamus in der des Vater als „Abschussrampe“. Damit ist gemeint, dass Väter sehr viel stärker als Mütter Kinder dazu herausfordern, Neues zu erkunden und sich auf ungewisse Situationen einzulassen. Das werde schon in der väterlichen Neigung deutlich, Kinder zu Körperspielen anzuregen und durch simulierte Kämpfe stark zu machen. Eine weitere wichtige Vaterfunktion, nämlich die Betonung des Geschlechts des Kindes, wird von ihm ebenfalls dargestellt und anhand von Studien belegt. Insgesamt ist auffällig und bemerkenswert, wie viele Forschungsergebnisse LeCamus, auch über den französischen Sprachraum hinausgehend (angloamerikanische und auch deutsche Forschung), rezipiert.

In der theoretischen Konzeption für sein Buch lehnt sich LeCamus an die Arbeiten von Lacan (der Vater als Symbol für das Gesetz), an Winnicott, Daniel Widlöcher sowie an die Arbeiten von Bowlby und Spitz an. Er verweist auf historische Wandlungsprozesse, die u. a. dazu geführt haben, dass sich die Hausarbeit professionalisiert habe und die Versorgung der Kinder und Teilung der Hausarbeit heute immer stärker auch eine Aufgabe für beide Eltern geworden sei. Dennoch sieht LeCamus immer noch eine, wie er schreibt, „vernünftige Ungleichheit“ (S. 123) mit einem stärkeren Engagement von Müttern für ihre Kinder, aber auch einem zunehmenden Engagement von Vätern gegenüber Kleinkindern. Hervorzuheben sei aber die wachsende Vielfalt familiärer Konfigurationen, und so geht LeCamus auch auf das Mosaik von Familienstrukturen ein, nämlich Familien mit einem Elternteil, wenn nämlich der Vater nicht an der Erziehung beteiligt ist, neu gebildete Familien, geschiedene Väter oder Stiefväter sowie Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen, wobei er das Zahlenmaterial vor allem aus Frankreich bezieht.

Ich habe dieses Buch mit großem Interesse und Gewinn gelesen und wünsche ihm viele Leser und Leserinnen. Die vertretenen Perspektiven sind interessant, der wissenschaftliche Gewinn ist allerdings schwierig einzuschätzen, da genauere Angaben über Stichproben, Untersuchungsmethoden etc. für LeCamus’ eigene Studien weitgehend fehlen.

URN urn:nbn:de:0114-qn053269

Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke

Mainz, Johannes Gutenberg-Universität, Psychologisches Institut, Abt. Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie

E-Mail: seiffge@mail.uni-mainz.de

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