Frauen als Akteurinnen während des Nationalsozialismus

Rezension von Natalia Gerodetti

Esther Lehnert:

Die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bildung und Umsetzung der Kategorie „minderwertig“ im Nationalsozialismus.

Frankfurt am Main: Mabuse 2003.

338 Seiten, ISBN 3–935964–32–3, € 33,00

Abstract: Das vorliegende Buch stellt die wichtigen Fragen nach der Beteiligung von Fürsorgerinnnen (Sozialarbeiterinnen) am System der öffentlichen Fürsorge während des Dritten Reiches. Betrachtet werden die Anforderungen an fürsorgerische Aktivitäten während des Nationalsozialismus im Spannungsfeld von Auslese und „Ausmerze“. Esther Lehnert kann zeigen, dass die von der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit bislang kaum wahrgenommene Arbeit der Fürsorgerinnen einen wichtigen Ort der Umsetzung und Bildung der Kategorie „minderwertig“ darstellte. Sie präsentiert Fürsorge nicht als „unpolitisches Helfen“, sondern in ihrer Schlüsselfunktion für die nationalsozialistische Diskriminierungs- und Ausmerzpolitik. Lehnerts Studie basiert explizit auf Forschungspositionen, in denen Frauen nicht ausschließlich als Opfer des Nationalsozialismus gesehen und polare Opfer-Täter Stukturen aufgebrochen werden.

Fürsorge im Spannungsfeld

Lehnerts Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Auslesepraxis des Nationalsozialismus. Das Buch baut auf einer theoretischen Abhandlung auf, die sich vorwiegend auf eine These Zygmunt Baumans stützt, nach der die eugenische Sozialpolitik eine logische Folge des Anspruchs der Moderne und ihres Wunsches nach Typologisierung darstellt. Die Frage nach der Beteiligung von Fürsorgerinnen wird sowohl innerhalb der Erziehungswissenschaft und der Sozialpädagogik verankert als auch innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung. Die Ausdifferenzierung des Wohlfahrtsstaates und die Professionalisierung von Fürsorge als Vorbedingung für den „neuen“ fürsorgerischen Blick auf Gesellschaftsgruppen ist historisch kontextualisiert in der Beschreibung von Transformationsprozessen, die von der autoritären Armenpflege des Kaiserreichs über die Anfänge von Sozialer Fürsorge in der Weimarer Republik bis zu den fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen des Nationalsozialismus reichen.

Mit der Darstellung der Erb- und Rassenpflege und des Hintergrundes der Eugenik und Rassenhygiene wird der Kontext weiter ausdifferenziert. Dies fällt unerwartet kurz und eindimensional aus in dem Sinne, dass der wissenschaftliche Werdegang der Eugenik aufgezeigt wird, aber keine Schlüsselkonzepte erläutert werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde ich mir als Leserin eine theoretische Aufarbeitung des Konzepts „Minderwertigkeit“ mit seinen Ausdifferenzierungen in pseudo-psychiatrische Kategorien wie „schwachsinnig“, „moralisch schwachsinnig“, idiotisch“ etc. und deren jeweilige Anwendungsgebiete wünschen.

Hierin liegt denn auch meine zentrale Kritik am Buch insgesamt: Das Konzept „Minderwertigkeit“, so prominent im Titel platziert, wird häufig angeschnitten und erwähnt, erhält aber nie eine gründliche Betrachtung. Das Anwendungsgebiet wird nicht abgesteckt, und die Konstruktion und Überschneidung mit konstitutionellen Kategorien wie Geschlecht, Sexualität, Schichtzugehörigkeit, Alter oder geistigen und körperlichen Fähigkeiten werden nicht hinterfragt. Inwiefern sich das Konzept „Minderwertigkeit“ dazu gebrauchen ließ, „Normalität“ zu konstruieren, zu legitimieren und aufrecht zu erhalten, bleibt explizit ausgeklammert. Das steht in einem starken Konstrast zu einer ausführlichen Erarbeitung der Entwicklung von Geschlechterdifferenz seit der Aufklärung, die zwar wichtig ist, aber meiner Ansicht nach nicht als einziges Deutungsmuster für die Einordnung der fürsorgerischen Tätigkeiten im Nationalsozialismus dienen kann.

Kritik

Lehnert will aufzeigen, dass die Fürsorgerinnen in die rassenhygienische und damit sozialrassistische Ideologie der Ungleichwertigkeit von Menschen eingebunden waren und sie als Ausführende des Fürsorgesystems nicht nur umgesetzt haben, sondern sich in ihrer alltäglichen fürsorgerischen Praxis auch an der Bildung und Festschreibung der Kategorie „minderwertig“ beteiligt haben. Ob es sich dabei tatsächlich um eine sich erst im Nationalsozialismus herausbildende Kategorie handelt, ist allerdings fraglich, denn Lehnert zeigt gleichzeitig auf, dass sich der Nationalsozialismus auf Konzepte aus der Weimarer Zeit, die bereits den unterschiedlichen Wert von verschiedenen Gesellschaftsgruppen festlegten, stützen konnte. In diesem Sinne haben sich die Fürsorgerinnen während des Nationalsozialismus nicht an einer erstmaligen Herausbildung, sondern vielmehr an der Festschreibung und Dynamisierung des Begriffs „minderwertig“ beteiligt. Das ist in der gegenwärtigen internationalen Diskussion um eugenisches Gedankengut und Sozialpolitik meiner Meinung nach deshalb wichtig, weil Lehnert dazu neigt, gegen den Forschungsstand eugenische und rassenhygienische Konzepte eindeutig im Nationalsozialismus zu verankern. Obwohl der Nationalsozialismus zweifelslos dieses Gedankengut auf systematische Weise und in der extremsten Form umgesetzt hatte, waren die kategorialen Festlegungen wie „wertvoll“ und „unwert“, „minderwertig“, „schädlich“ und „ungesund“ keineswegs eine Erfindung des Nationalsozialismus. Obwohl Lehnert auch darauf hinweist und bestrebt ist, die Kontinuitäten mit der Weimarer Republik zu unterstreichen (wie auch die Fortführung der Fürsorgetätigkeit nach dem Krieg), klammert sie den internationalen Zusammenhang der Rassenhygiene vollständig aus.

In diesem Zusammenhang wird auch der theoretische Ansatz von Zygmunt Bauman nicht völlig ausgeschöpft; nämlich die Entwicklung und Umsetzung von eugenischem und rassenhygienischen Gedankengut als eine mögliche Folge jeder modernen Gesellschaft zu verstehen, die danach bestebt ist, ungezügelte „Natur“ mittels „vernünftiger“, wissenschaftlicher Lösungen zu begrenzen, zu „kultivieren und zu „zivilisieren“. Der Nachweis, dass eugenisches Gedankengut weit verbreitet und vielerorts umgesetzt worden war, hätte meines Erachtens Lehnerts Ergebnisse im internationalen Kontext besser verorten und Kontinuitäten nicht nur mit der Weimarer Republik aufzeigen können, sondern auch mit Fürsorgepraxen der Nachbarländer wie z. B. der Schweiz, die in Sachen Sterilisationsgesetz wie auch Verwahrungspraxis wegbereitend war. Zu kritisieren ist außerdem der durchgängig unklare Begriffsgebrauch von „Sozialrassismus“. Lehnert verweist erst in der Schlussfolgerung darauf, dass sie sich dabei auf Gisela Bocks Charakterisierung bezieht. Ebenfalls eigenartig ist zeitweise der Fußnotengebrauch, der einerseits manchmal den Haupttext exzessiv repetiert, andererseits manchmal durchaus wichtige Diskussionspunkte zweitrangig darstellt.

Vorzüge des Bandes

Lehnert dokumentiert überzeugend die verschiedenen Tätigkeitsgebiete von Fürsorgerinnen, in denen erbbiologische Kriterien im Sinne des Nationalsozialismus übernommen und angewandt wurden. Die Kategorie Geschlecht ist in dieser Hinsicht auf verschiedenen Ebenen wichtig: erstens wurden Fürsorgeempfänger/-innen im Zuge eines Paradigmenwechsels in der Konzeption von Sozialer Wohlfahrt nach den vorherrschenden Geschlechterrollen umdefiniert, so dass die Individualisierung von Fürsorge mit der Festschreibung kollektiver Pflichten und Verantwortungen verknüpft wurde, was sich in den Konzepten von „geistiger“ und „organisierter“ Mütterlichkeit widerspiegelte. Zweitens wirkten sich die Geschlechtskonzeptionen auch auf die Fürsorgerinnen aus, die ihre eigene Rolle entpolitisierten und Fürsorge als nicht-politisches Handeln konstruierten.

Lehnert stellt vorab die Fürsorgebereiche in Bezug auf die gesetzlichen Änderungen dar, die das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) und die (nicht erfolgreichen) Diskussionen um ein „Bewahrungsgesetz“ mit sich brachten. Im Hinblick auf das GzVeN, zeigt Lehnert in eindrücklicher Weise, wie die Fürsorgetätigkeit einen Knotenpunkt in der Umsetzung von der NS-Auslesepolitik einnehmen konnte. Wenn nämlich Individuen einem Katalog von Zwangsmaßnahmen (wie Zwangssterilisation oder Verlegung in Anstalten oder Lager) nach einer ersten Erfassung durch das Wohlfahrtssystem ausgesetzt waren, spielten die Karteien, die von Fürsorgerinnen angelegt worden waren wie auch deren Gutachten eine wichtige Rolle. Das weist zudem auf ein weiteres Charakteristikum der nationalsozialistischen Fürsorge hin, nämlich dass, so Lehnert, Fürsorgerinnen sich dessen wohl bewusst waren, dass ihre Klientel, einmal erfasst von der Fürsorge, eine „Fürsorgekarriere“ durchmachen konnte, die ultimativ lebensbedrohend sein konnte.

Demgegenüber finde ich Lehnerts Aussage weniger überzeugend, dass die Kategorien erst seit der nationalsozialistischen Machtübernahme vermehrt erbbiologisch definiert wurden und dass z. B. die Vorstellung von Frauen als Hüterinnen der Rasse eine spezifisch nationalsozialistische war. Dem steht gegenüber, dass in England seit den 1920er Jahren Frauen ebenfalls vermehrt mit der biologischen Erhaltung der Nation betraut worden waren, so dass Lucy Bland 1982 („‚Guardians of the Race‘, or ‚Vampires upon the Nation’s Health‘?: Female Sexuality and its Regulation in Early Twentieth-Century Britain.“ in The Changing Experience of Women, edited by Elisabeth et al. Whitelegg. Oxford: Basil Blackwell) den Begriff „guardians of the race“ für die Frauen in Großbritannien geprägt hat. Ähnlich haben verschiedene Studien über die Schweiz belegt, dass „minderwertig“ potentiell auf sozial missliebiges Verhalten erweitert werden konnte, wenn auch die nationalsozialistische Fürsorgepraxis dies systematischer und mit fataleren Endfolgen umgesetzt hatte. Ebenso ist das GzVeN, obwohl 1933 verabschiedet, in seinen Grundsätzen bereits viel früher geprägt worden, und zwar ebenfalls unter Mitwirkung von international vernetzten Rassenhygienikern und Eugenikern.

Lehnerts Studie weist – trotz dieser Kritikpunkte – auf überzeugende Weise die wichtige Funktion von Fürsorge in der Anwendung des Konzeptes „Minderwertigkeit“ auf und stellt dar, wie die verschiedenen konkreten Aufgabengebiete dazu beitrugen. Fürsorgerische Teilgebiete wie Familienfürsorge, Pflegeamt, Sterilisationsansträge, etc. werden durchgängig berücksichtigt und an den Beispielen der Städte Hamburg und Berlin illustriert. Lehnert konzentriert sich allerdings vor allem auf die fürsorgerische Tätigkeiten und weniger auf die Anwendungsgebiete und -strategien, so dass noch einige Möglichkeiten der Aufarbeitung und Systematisierung bleiben. Das vorletzte Kapitel, in dem konkrete fürsorgerische Gutachten einer näheren Analyse unterzogen werden, ebnet denn auch den Weg zur Hinterfragung von konkreten Umsetzungen und Tätigkeiten von Fürsorgerinnen. Hier werden spannende Fragen aufgeworfen, wie z. B Fragen über Unterschiede innerhalb der Fürsorgetätigkeit und der Möglichkeit von Widerstand, wenn auch innerhalb der Prävalenz der Kategorie „Minderwertigkeit“. Unterschiede, Differenzen und der Widerstand von Fürsorgerinnen sind von Lehnert, meines Erachtens, in dem Bemühen, die Mitbeteiligung von Frauen zu untersuchen, etwas vernachlässigt worden. Nichtsdestotrotz stellt Lehnerts Buch aber einen wichtigen Beitrag dar zur Auseinandersetzung mit Frauen als Akteurinnen während des Nationalsozialismus, mit Fürsorge als Knotenpunkt in der Umsetzung von Auslese und mit der Vernetzung von Fürsorgegebieten mit eugenischem Gedankengut durch die Tätigkeit von Fürsorgerinnen.

URN urn:nbn:de:0114-qn052302

Dr. Natalia Gerodetti

Université de Lausanne; Institut d’Etudes Politiques et Internationales

E-Mail: Natalia.Gerodetti@iepi.unil.ch

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