Feldpostbriefe – Gefahren und Chancen einer Quellengruppe

Rezension von Max Plassmann

Eva Brücker, David Crew, Harald Dehne u.a. (Hg.):

Feldpostbriefe.

Hamburg: Ergebnisse 1999.

120 Seiten, ISBN 3–87916–231–X, DM 20,00 / SFr 19,00 / ÖS 146,00

Abstract: Die Auswertung von Feldpostbriefen beider Weltkriege hat Konjunktur, zeichnet sich jedoch auch durch erhebliche methodische Schwierigkeiten aus.

Der zu besprechende Band enthält vier Aufsätze zum Thema Feldpostbriefe. Klaus Latzel beschäftigt sich mit ihnen als erfahrungsgeschichtlicher Quelle, Martin Humburg analysiert den Niederschlag der Winterkrise 1941/42 in den Briefen, Inge Marszolek nähert sich ihnen aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive, und Ulrike Jureit, die gleichzeitig die Redaktion der Beiträge übernommen hat, untersucht emotionale und sexuelle Beziehungsmuster. Begrüßenswert ist diese Ausweitung der Forschung auf die Geschlechtergeschichte und auf die Heimat.

Das Problem der Repräsentativität

Die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Auswertung von Feldpostbriefen werden von allen Autoren erkannt. Zensur und Selbstzensur, verzerrte Wahrnehmung der Realität sowie die einseitige und zufällige Überlieferung werfen Probleme bei der Auswertung auf. In Archiven und sonstigen Sammlungen wurde nur ein verschwindender Teil der insgesamt in Milliardenhöhe entstandenen Feldpostbriefe aufbewahrt. Deren Auswahl erfolgte zudem nicht nach einem bestimmten System, sondern war eher durch Zufälle geprägt. Repräsentative und allgemeingültige Aussagen sind daher de facto nicht möglich.

Dennoch unterliegen die Autorinnen und Autoren der Faszination der Quellen, die ihre Leser unmittelbar in die Lebenswelt einfacher Soldaten versetzen. Es ist tatsächlich verlockend, aus der Perspektive von unten Aussagen zum Kriegserlebnis zu machen, aus der bisweilen farbigen Welt der Feldpost zu schöpfen und sich dabei in der Interpretation einzelner interessanter Briefe zu verlieren. Dennoch gilt es im Auge zu behalten, daß selbst die Auswertung mehrerer 100 oder gar 1000 Briefe angesichts der riesigen Gesamtzahl, der unbekannten zahlenmäßigen Relation des Samples zur Gesamtzahl und der ebenfalls oft unbekannten Gründe, warum bestimmte Schreiben überliefert wurden, andere jedoch nicht, ebensowenig eine allgemeine Aussage zu Wehrmachtssoldaten ermöglicht, wie die Auswertung nur eines einzigen Briefes.

Aus zwei Beispielen auf grundlegende mentale Differenzierungen zwischen Generationen schließen zu wollen (S. 58 f.), sprengt schlicht den Rahmen seriöser wissenschaftlicher Forschung. Auch die Präsentation von Ergebnissen in Form von Balkendiagrammen (S. 36 f.) gaukelt statistische Genauigkeit nur vor. Eine erfahrungsgeschichtliche Analyse ohne Anspruch auf mathematische Repräsentativität, wie Latzel sie anstrebt, versucht zwar, diese Schwierigkeit zu umschiffen, doch auch er muß sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht nur die Erfahrung der wenigen Briefschreiber analysiert, die er in seine Untersuchung einbezieht.

Im vorliegenden Fall exerziert er seine Methode an nur einer einzigen Person durch. Interessant und anregend ist das wie auch in dem Beitrag von Jureit in jedem Fall, doch am Ende bleibt ratlos, wem der Einzelfall nicht genügt. Latzel glaubt, gesellschaftliche Wissensstrukturen in den Schreiben einzelner wiederzufinden, doch handelt es sich um eine unbewiesene Annahme, da diese gesellschaftlichen Wissensstrukturen in weiten Teilen, zumal für die Kriegszeit, noch nicht erforscht sind.

Wenn sie aber umgekehrt schon bekannt sind: Warum dann die Mühe der Auswertung von Feldpostbriefen, die dann nur noch das bestätigen könnte, was man ohnehin schon weiß? An diesem Punkt scheint m.E. das Hauptproblem der Feldpostbriefforschung zu liegen. Wenn es sich nicht um die wenig weiterführende Darstellung isolierter Einzelfälle handelt, dann werden die Schreiben oft nur zur Illustration und farbigen Ausgestaltung dessen eingesetzt, was schon auf anderen Wegen erforscht wurde, oder – schlimmer noch – sie werden aus dem Zusammenhang gerissen und zur Bestätigung einer vorgefaßten Meinung eingesetzt, was die „neue“ Militärgeschichte auf die eigentlich überwundene sogenannte applikatorische Methode der kriegsgeschichtlichen Abteilung des preußischen Generalstabes zurückwerfen würde. Humburgs Beitrag ist ein schönes Beispiel für den ersten Fall. Es ist sattsam bekannt und letztlich eine banale Erkenntnis, daß die deutschen Soldaten im Winter 1941/42 bei Einsetzen des Frostes nicht mehr an einen schnellen Sieg glaubten. Der Aufwand, den der Verfasser bei seiner Studie betrieben hat, ist lobenswert, aber unnötig.

Die Vernetzung mit anderen Quellengattungen

Ein weiterer kritisch anzumerkender Punkt am Vorgehen der Autorinnen und Autoren ist die Selbstbescheidung auf die Auswertung von Feldpostbriefen. Es widerspricht einfachsten Grundregeln der historischen Quellenkritik, ohne Rücksicht auf den Kontext der Entstehung einer Quelle vorzugehen. Vielfach, so könnte man einwenden, ist über die Briefschreiber nichts herauszufinden, was über ihre Briefe hinausgeht. Das stimmt, entbindet jedoch nicht von der Pflicht, wenigstens nach weiteren Informationen zu suchen. Interessant wäre sicher ein Vergleich mit Briefen, die derselbe Verfasser im Frieden in einer ganz anderen Situation geschrieben hat.

Aber auch für die Kriegszeit gibt es eine Fülle von Kontextinformationen, die man nicht brachliegen lassen sollte. Ob ein Brief während schwerer Kämpfe oder in einer ruhigen Phase, auf dem Rückzug nach einer Niederlage oder auf dem siegreichen Vormarsch, nach einer Auseinandersetzung mit Kameraden, bei stockender Lebensmittelzufuhr, nach schweren Anstrengungen, bei großer Kälte, nach einem Partisanenüberfall oder einem anderen besonderen Ereignis, nach dem Tod eines Freundes usw. verfaßt wurde, hat zumindest potentiell großen Einfluß auf seinen Inhalt. Das gleiche gilt für den sozialen Hintergrund des Schreibers, für seinen Rang, seine Dienstaufgaben, seine Waffengattung und den Ort seiner Stationierung. All dies gilt es bei einer Interpretation der Briefe zu berücksichtigen. Nicht immer ist dies möglich, doch wenigstens der Versuch sollte unternommen werden.

Eine methodische Weiterentwicklung der Feldpostforschung muß m.E. daher darauf abzielen, eine Vernetzung der Briefe mit anderen Quellengattungen wie Tagebüchern und Photos, aber auch mit amtlichem Schriftgut, zu erreichen. Warum nicht die Aussagen eines Feldpostbriefes zur Kriegslage mit den gleichzeitigen Aussagen im Kriegstagebuch der Kompanie der Verfassers vergleichen? Warum nicht nach Auswertungen der Briefe in aggregierter Form suchen, etwa in Berichten höherer Stäbe über die Stimmungslage der Truppe? Warum sie nicht mit Verhörprotokollen von Kriegsgefangenen vergleichen, warum nicht mit Nachkriegsmemoiren? Das Problem der Repräsentativität läßt sich so zwar nicht lösen, aber die Aussagekraft der einzelnen Quelle wird durch wechselseitige Erhellung gesteigert. Nicht nur kann ein Kriegstagebuch zur besseren Einschätzung eines Feldpostbriefes führen, auch umgekehrt kann der Brief die Aussagen im Tagebuch leichter verständlich machen.

Wenn hier eine Untersuchung von Feldpostbriefen im engen Verbund mit anderen Quellengattungen gefordert wird, dann muß sich selbstverständlich auch ein Aufruf an die Archive und sonstigen Stellen richten, die sie verwahren: Die Briefe müssen auf eine Weise erschlossen und für die Benutzer zur Verfügung gestellt werden, die ein Inbeziehungsetzen mit anderen Quellen erst ermöglicht.

URN urn:nbn:de:0114-qn012122

Dr. Max Plassmann

Archivschule Marburg

E-Mail: m_plassmann@nikocity.de

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.