Über Theatermetaphorik und das Standardgehirn

Rezension von Katharina Piechocki

Franziska Frei Gerlach, Annette Kreis-Schinck, Claudia Opitz, Béatrice Ziegler (Hg.):

KörperKonzepte/Concepts du corps.

Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung/Contributions aux études genre interdisciplinaires.

Münster u. a.: Waxmann 2003.

327 Seiten, ISBN 3–8309–1212–9, € 29,90

Abstract: Der Sammelband KörperKonzepte/Concept du corps dokumentiert die Ergebnisse der gleichnamigen, von der Schweizerischen Gesellschaft für Frauen- und Geschlechterforschung im März 2001 an der Universität in Basel organisierten Konferenz. Die Herausgeberinnen betonen in ihrem Vorwort den internationalen und interdisziplinären Charakter des Bandes und sehen in ihrem Anliegen, sowohl kultur- als auch naturwissenschaftliche theoretische Ansätze zu verbinden, einen Vorteil gegenüber einer „ausschließlich kulturwissenschaftliche[n] Perspektive“ (S. 12). Das in drei Teile gegliederte Buch beschäftigt sich mit „Sichtweisen und Lesarten“, „Kulturhistorische[n] Zugänge[n]“ und stellt im letzten Teil „Fragen an die Lebenswissenschaften“.

Die Leib-Körper-Problematik

Der einführende Artikel der Herausgeberinnen positioniert den Band KörperKonzepte innerhalb der aktuellen interdisziplinären Forschungslage in den Gender Studies und weist auf die „heterogene[n] Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre [hin]“, die neben einer „Umorientierung der Geistes- zu Kulturwissenschaften“ ebenfalls von „Fortschritte[n] in der Medizintechnologie und Genforschung“ und neuerdings auch von Erscheinungen wie „virtuelle[n] Körper[n] im Cyberspace“ und „Fitnesstrend und Körperkult“ (S. 9) geprägt seien. Die Herausgeberinnen machen nach einem kurzen historischen Überblick über die „sex/gender-Debatte“ (S. 10) deutlich, dass „die Frage, in welchem Verhältnis die Materialität des Körpers zu Sprache respektive Diskursen steht, weiterhin virulent ist“ (S. 10). Dieses Verhältnis müsse nicht nur theoretisch geklärt, sondern auch auf die Methodik hin überprüft werden – Stichwort: Omnipräsenz der „Theatermetaphorik“ (S. 11). Das „zentrale Problem“ bleibe die Vermittlung von „reale[r] Leiberfahrung“ und der Darstellung „kulturelle[r] Körperbilder“ (S. 11).

Sichtweisen und Lesarten

Gabriele Brandstetter führt in ihrem ersten Beitrag „Staging Gender“ den Begriff „Staging“ ein und benutzt diesen als „Rahmenbegriff“ (S. 29), um „soziale, politische und ästhetische Konstitutionsregeln [zu befragen]“. Das substantiell Neue und der theoretisch-methodische Vorteil des Begriffs „Staging“ gegenüber dem Begriff „Performance“ in der Anwendung auf literarische Texte müsste in weiteren Untersuchungen nachgewiesen werden.

Die darauf folgenden fünf Beiträge beschäftigen sich mit der Repräsentation von Körper in literarischen Texten, wobei auffallend häufig das Thema Schmerz – als eine der Formen von Leiberfahrung – aufgegriffen wird. Guillemette Bolens analysiert in ihrem Artikel „Le corps de la guerrìere“ die Verwundbarkeit der Kriegerin Camilla in Vergils Äneis, Yasmina Foehr-Janssens fragt mit „La souffrance a-t-elle un genre?“ nach männlichen literarischen Körperdarstellungen im Mittelalter, und Franziska Frei Gerlach behandelt das „Schmerzgedächtnis: Erfahrung – Diskurs – Literatur“ in Werken der Schriftstellerin Anne Duden.

Die Schwierigkeit bei der Analyse von Schmerz und Leib in literarischen Texten ist, die verschiedenen Ebenen Leib – Körper, Erfahrung – Diskurs, soziale und fiktive Konstruktion theoretisch, methodisch und terminologisch klar zu differenzieren. Dies wird besonders in den Beiträgen zu „Körperparadigmen mittelalterlicher Literatur“ und zur „Verfertigung des Frauenkörpers im literarischen Text“ von Karina Kellermann bzw. Elsbeth Dangel-Pelloquin deutlich.

Drei Artikel zur bildenden Kunst schließen diesen ersten und längsten Teil des Buches ab: Viktoria Schmidt-Linsenhoff deutet in ihrem Beitrag „Zur Verkörperung verleugneter Erinnerung in der Malerei des Orientalismus“ das „Motiv des orientalischen Sklavenmarktes“ nicht nur aus feministischer Perspektive, sondern auch aus post-kolonialistischer Sicht als „Symptom eines Tätertraumas“ (S. 105), das u. a. durch „ Projektion“ (S. 117) darstellbar wurde. Therese Steffen wendet in ihrem Artikel zu „Kara Walker’s hybrid body concepts“ aktuellen Globalisierungstheorien entnommene Begriffe wie „fluid identity“ oder „fuzzy zones“ (S. 127) auf die Arbeiten der Künstlerin an, und Marion Strunk stellt „Zu Arbeiten von Rosemarie Trockel, Janine Antoni, Bruce Naumann, Eva&Adele, Pierre&Gilles und Eva Wohlgemuth“ die These auf, dass „Kunst kein Geschlecht [hat]“ (S. 131), dass vielmehr die Eigenpositionierung des/der Künstler/-in im Vordergrund steht.

Kulturhistorische Zugänge

Einen sehr interessanten Auftakt bildet in diesem Kapitel der Beitrag von Christina von Braun: „Gibt es eine ‚jüdische‘ und eine ‚christliche‘ Sexualität?“. Die Autorin bejaht diese Frage und geht, v. a. im Hinblick auf Eugenik, von Sexualwissenschaften (S. 145) aus, die auf unterschiedlichem, „säkularisiertem christlichen“ und „säkularisiertem jüdischen“ (S. 145) Denken basieren. Claudia Opitz und Waltraud Pulz analysieren Körperdarstellungen in der Renaissance, wobei Opitz die Frage aufwirft, ob Melancholie als „male gendered“, wie jüngst behauptet wurde (S. 168), betrachtet werden kann, und dies verneint. Pulz geht der Frage nach “ (Vorgeblicher) Nahrungsmittelabstinenz im 16. Jahrhundert“ nach und stellt fest, dass nonverbale körperliche Manifestationen von Frauen mit „mangelnden sprachlichen Vermittlungsmöglichkeiten“ (S. 184) einhergingen und im Gegensatz zu „männlicher Nahrungsabstinenz“ nicht „medikalisiert“, sondern „sakralisiert“ (S. 184) wurden.

Béatrice Ziegler und Maryvonne Gognalons-Nicolet untersuchen in ihren Beiträgen die Bedeutung von Arbeit als leiblicher und körperlicher Erfahrung. Ziegler kritisiert in „Arbeit als Körpererfahrung“ besonders die „hohe Bewertung der Sexualität in der heutigen Gesellschaft“ (S. 196), die die Wichtigkeit von „weibliche[r] Arbeitsleistung“ (S. 197) überhaupt verdränge. Gognalons-Nicolet beschreibt die Disziplinierungsprozesse, denen Frauen im Alter zwischen 50 und 60 durch die Pflege von Verwandten ausgesetzt sind. Brigitte Hilmer verweist in ihrem Beitrag „Die Macht der Gewohnheit“ darauf, dass Machtmechanismen gerade durch „Körperpraktiken“ (S. 212) im Prozess der „nicht steuerbaren“ „Subjektbildung“ (S. 212) bedeutsam werden.

Luisa Muraros Artikel „Plus femmes que féministes“ ist eine knapp zusammengefasste „gelebte“ Geschichte des Feminismus, leistet jedoch keinen Beitrag zu „KörperKonzepten“, dem Thema des Buches. Martin Lengwiler behandelt in seinem Beitrag „Männer, Autos, Verkehrsunfälle“ die Verbindung von Gender und Science Studies und hebt die Bedeutung der Science Studies vor allem hinsichtlich des „Materialitätsbegriff[s]“ (S. 233) für die Gender Studies hervor. Lengwiler führt Begriffe wie „Technohygiene“ mit deren „körper- wie verhaltensbezogene[n] Normen“ (S. 237) ein, wird jedoch dem Anspruch, u. a. „Geschlechterverhältnisse“ (S. 240) zwischen 1935 und 1960 analysieren zu wollen, nicht immer gerecht: er beschränkt sich auf eine diachrone Darstellung von „Männerverhältnissen“.

Fragen an die Lebenswissenschaften

Das dritte und kürzeste Kapitel behandelt das Thema „KörperKonzepte“ aus der Sicht der (Bio-)Medizin. Micheline Louis-Courvoisiers Artikel zur „L’objectivation du corps vue à travers les lettres de consultations adressées au Dr Tissot (1728–1797)“ beschäftigt sich mit der Versprachlichung von Leiberfahrungen einiger Patient/-inn/en und wirft dadurch die theoretische und methodische Frage nach dem Verhältnis von Leib und Körper auf. Britta Schinzel thematisiert in ihrem Beitrag „Körperbilder der Biomedizin“ die vereinfachend vorgehende Bemühung biomedizinischer Institute, ein „einheitliches, dreidimensionales Standardgehirn“ (S. 256) zu entwickeln.

Cordula Nitsch weist in ihrem Beitrag „Das sexistische Gehirn“ auf das zwar anatomisch kleinere Gehirn der Frau, jedoch auf dessen gleiche Leistungsfähigkeit durch gleiche Anzahl von Nervenzellen hin und betont die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten bei gleicher Faktenlage – worauf ebenfalls Christoph Rehmann-Stutter in „Körpernatur, Genom und genetische ‚Defekte‘“ aufmerksam macht. Elisabeth Zemp zeigt in ihrem Beitrag „Das Yentl Syndrom“ am Beispiel von Herz-Kreislauferkrankungen, dass „Geschlechterstereotype“ seitens der Ärzte immer noch die „Darstellung und Wahrnehmung von Symptomen“ (S. 277) beeinflussen. Dass die Darstellungen von Geschlechterstereotypen sich nach wie vor äußerst großer Beliebtheit erfreuen, belegt Annette Kreis-Schink in ihrem Beitrag „‚Körperwelten‘“, in dem sie die Körperdarstellungen in der millionenfach besuchten Ausstellung „Körperwelten“ auf Stereotypisierungen hin untersucht.

Fazit

Dieser Sammelband eröffnet einerseits durch seine thematische Bandbreite neue Perspektiven für die Gender Studies, gibt einen Einblick in die aktuelle Forschungslage und Konzeptualisierung von Körper und wirft andererseits bestehende, vor allem methodische Schwierigkeiten bei interdisziplinären Ansätzen auf. Ferner zeigt er, dass die Annäherung der Kultur- und der Lebenswissenschaften in der Praxis vorerst noch zögerlich ist.

URN urn:nbn:de:0114-qn052206

Mag. Katharina Piechocki

Florenz/Università degli Studi/Dipartimento di Filologia Moderna

E-Mail: katharina.piechocki@unifi.it

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