Sexuelle Belästigung aus strafrechtlicher Sicht

Rezension von Maria A. Eder-Rieder

Kathrin Kummer:

Sexuelle Belästigung aus strafrechtlicher Sicht.

Bern, Stuttgart, Wien: Paul Haupt 2002.

143 Seiten, ISBN 3–258–06348–6, € 26,00

Abstract: Der Kern der Arbeit ist die juristische Aufarbeitung der Grenzen und Reichweite der in der Schweiz seit 1. Oktober 1992 in Kraft befindlichen Regelungen zur sexuellen Belästigung durch Vornahme einer sexuellen Handlung vor jemanden (Art. 198 Abs. 1 StGB), der tätlichen sexuellen Belästigung und der verbalen Belästigung (Art. 198 Abs. 2 StGB). Diese Tatbestände werden anhand von Beispielen erläutert, mit weiteren Varianten der sexuellen Belästigung verglichen und zu anderen Tatbeständen abgegrenzt. Ebenso wird auf das Verhältnis zum Zivilrecht und die Problematik des Strafprozesses eingegangen. Abschließend wird der kriminalpolitischen Frage über den Sinn der strafrechtlichen Sanktionierung nachgegangen.

Verhaltensweisen der sexuellen Belästigung

Ausgangslage der Untersuchung sind Fälle der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, die für die Opfer verletzend bzw. peinlich sind und sie hilflos machen, deren Folgen oft zu psychosomatischen Erkrankungen führen und die Opfer (zumeist Frauen) zwingen, den Arbeitsplatz aufzugeben (vgl. S. 16 f.). Der weitreichende Begriff der „sexuellen Belästigung“ umfasst viele verschiedene, in ihrem Schweregrad unterschiedliche Verhaltensweisen vom „taxierenden Blick bis zur Vergewaltigung“ (S. 18 ff.). Der Art. 198 StGB geht zwar über die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hinaus, ist jedoch wegen des Vorranges anderer strafrechtlicher Tatbestände, wie sexuelle Nötigung bzw. Vergewaltigung, eingeschränkt.

Geschütztes Rechtsgut

Das geschützte Rechtsgut bei der „sexuellen Belästigung“ ist der Autorin zufolge nicht die sexuelle Integrität, sondern die, wenngleich oft nur schwache Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung (S. 41, 46 f.). Art. 198 soll gewährleisten, „dass die sexuelle Beziehung auf einer eigenverantwortlichen, zwangs- und gewaltfreien Entscheidung beruht“ (S. 43).

Sexuelle Belästigung durch Vornahme einer sexuellen Handlung vor jemanden (Art. 198 Abs. 1 StGB)

In Art. 198 Abs. 1 sind „sexuelle“, m. a. W. geschlechtsbezogene „Handlungen“ wie z. B. Manipulationen „am oder mit den primären Geschlechtsorganen oder dessen unmittelbarer Umgebung“ angesprochenen. Diese bestimmen sich nach Ansicht der Autorin allein nach objektiven Kriterien, die Opfersicht bleibt ausgeklammert (vgl. S. 50, 54, 61). Art 198 Abs. 1 pönalisiert aber nur sexuelle Handlungen „vor dem“ Opfer“, nicht jedoch solche „am“ Opfer bzw. umfasst keine obszönen Reden oder das Vorzeigen pornografischen Materials (vgl. S. 56, 58). Diese müssen als Erfolg vom Opfer visuell wahrgenommen und in ihrer Bedeutung verstanden werden (vgl. S. 58 f., 123). Die Autorin lehnt die herrschende Meinung der Ärgerniserregung als Deliktserfolg ab (vgl. S. 64 ff.), verlangt aber im Gegensatz dazu auf subjektiver Tatseite, dass der Täter es „darauf abgesehen“ hat, „dass er vom Opfer gesehen wird“ („dolus directus 1. Grades“ oder Absicht) (S 68 ff). Ihrer Ansicht nach ist das Delikt restriktiv auszulegen, weil das Opfer nur Zuschauer/-in ist, und sollte wegen der seltenen Anwendung abgeschafft werden.

Tätliche sexuelle Belästigung (Art. 198 Abs. 2 StGB)

Die in der Praxis häufig vorkommende „tätliche sexuelle Belästigung“ (S. 71 ff.) umfasst nur sexuelle Handlungen „am Opfer“ wie unwillkommene, überraschende körperliche Berührungen (Anfassen der weiblichen Brust), nicht jedoch eindeutige Gesten, Ausziehen mit Blicken bzw. sexistisches Verhalten wie Wangentätscheln. Die von Art. 198 Abs. 2 umfassten Tathandlungen stellen wegen des Überraschungseffekts oder der geringen Intensität jedoch noch keine „sexuelle Nötigung“ (Art. 189) dar (S. 72 f.). Der Erfolg, nämlich „Belästigen“ ist dann gegeben, wenn das Opfer die Berührung – durch Spüren oder Sehen – wahrnimmt und deren sexuellen Charakter versteht (vgl. S. 77). Da die Person den Zusammenhang mit Sexualität in den Grundzügen erfassen muss, macht dies die sexuelle Belästigung von geistig Behinderten teilweise straflos, was wegen des niedrigen Unrechtsgehalts von der Autorin befürwortet wird. Weiterhin führen auch nach den gesamten Umständen sozialübliche Verhaltensweisen zur Straflosigkeit, falls das Opfer nicht konkludent oder ausdrücklich seinen entgegenstehenden Willen kundtut (vgl. S. 79 f., 125), nicht jedoch Provokationen durch das Opfer, die entweder wegen Irrtums des Täters Straflosigkeit bewirken oder nur einen Milderungsgrund darstellen können (S. 81). Täter durch Unterlassen kann auch der Arbeitgeber sein, der sexuelle Übergriffe in seinem Betrieb nicht verhindert.

Verbale Belästigung (Art. 198 Abs 2 StGB)

Im Zentrum der häufigen verbalen Belästigung stehen Äußerungen, die mündlich durch Worte, Pfeifen oder Zeigen von Bildern und unter Anwesenden vorliegen (vgl. S. 83 ff.). Schriftliche Äußerungen oder solche vermittels moderner Medien – Internet, Chat-Box –, fallen mangels gleichzeitiger und körperlicher Anwesenheit bzw. des Zwangs, sexuell gefärbte Aussagen wahrnehmen zu müssen, aus dem Straftatbestand (S. 85). Sie können jedoch nach Pornografieverbot strafbar sein oder Ehrverletzungen darstellen. Die telefonische Belästigung ist nach Ansicht der Autorin wegen der direkten Konfrontation, Gleichzeitigkeit von Äußerung und Wahrnehmung und der damit bewirkten Angst und Peinlichkeit ebenfalls unter dem Tatbestand zu subsumieren.

Die Aussage hat einen objektiven sexuellen Gehalt zu haben, der für den zuhörenden Dritten aus dem Wortlaut (Benützung von Metaphern), dem äußeren Rahmen und Begleitumständen klar erkennbar ist. Die Belästigung muss insgesamt „grob“ m. a. W. erheblich sein. Diese „Grobheit der Belästigung“ ist nach Ansicht der Autorin weit zu interpretieren und „unter Einbeziehung sämtlicher Umstände nach Maßgabe der Art und Weise zu bestimmen […], in der sie erfolgt“ (S 87). Die Abgrenzung zu straflosen Geschmacklosigkeiten bleibt jedoch unsicher.

Konkurrenzen

Sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 StGB) gehen dem Art 198 vor (S. 106). Bei Zeigen oder Vorführen von Pornografie geht Art 197 StGB vor. Exhibitionismus (Art. 194 StGB) verdrängt nach herrschender Ansicht Art. 198 Abs. 1 StGB. Sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) und Vergewaltigung (Art. 190 StGB) verdrängen die tätliche Belästigung (S. 109). Echte Konkurrenz ist wegen der Verschiedenheit der bedrohten Rechtsgüter bei körperlichen Schmerzen (Grapschen, Kneifen) zu Tätlichkeit (Art 126 StGB) oder Ehrverletzung (Art 173 ff.) möglich.

Verhältnis zum Zivilrecht

Das Opfer kann nach Arbeitsrecht oder Gleichstellungsgesetz zivilrechtliche Schritte ergreifen (vgl. S. 115 ff.). Um Geldleistungen zu bekommen, ist es für das Opfer interessanter, gegen den Arbeitgeber, in dessen Verantwortungsbereich die Belästigung fällt, vorzugehen. Bei Leistungsverweigerung des Belästigungsopfers bzw. Beweisschwierigkeiten wird die Aussage des Opfers und dessen Glaubwürdigkeit zum wichtigsten Beweismittel. Es kann zu Freisprüchen „in dubio pro reo“ kommen, oder das Opfer kann wegen Verleumdung oder Ehrverletzung verurteilt werden (S. 117). Um die Kostentragung im Zivilverfahren zu vermeiden, rät die Autorin zum Adhäsionsverfahren im Strafverfahren, das wegen der amtswegigen Beweisverfahren, bezahlten Sachverständigengutachten und dem geringen Kostenrisiko speziell ohne Verteidigerbeiziehung bedeutsam ist und die Möglichkeit der zivilrechtlichen Klage offen lässt.

Untersuchungsergebnisse und kriminalpolitischer Ausblick

Der Autorin ist es gelungen, die „sexuelle Belästigung“ als Ausschnitt verschiedener Tatbestände von Ehrbeleidigung bis Vergewaltigung darzustellen und zur bloßen Boshaftigkeit oder Taktlosigkeit bzw. sexistischen Belästigung (vgl. S. 121 ff.) abzugrenzen. Sie verdeutlicht, dass trotz verschiedener Instrumente gegen die sexuelle Belästigung nach Arbeitsrecht oder Gleichstellungsgesetz, ausnahmsweise auch nach Opferhilfegesetz (S. 102), die belästigte Person in der Praxis zurückbleibt (S. 128) und die Schutzvorschriften unzureichend sind. Was die sexuelle Belästigung nach Art 198 betrifft, kann der Verletzte zwar durch Antrag Verfolgungsschritte gegen den Täter einleiten (S. 97), jedoch sind unbekannte Täter kaum belangbar (S. 129), und gegen bekannte Täter werden aus psychologischen Gründen keine rechtlichen Schritte unternommen, oder Opfer haben mit Verleumdungsklagen und Beweisschwierigkeiten zu rechnen. Die Autorin sieht den Vorteil des Strafprozesses (S. 130) in der amtswegigen Beweissicherung und der Kostengünstigkeit, verkennt jedoch nicht die prozessualen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung. Realitätsbezogen erkennt sie die Strafwürdigkeit der tätlichen sexuellen Belästigung an, tritt mit gewichtigen Gründen „de lege ferenda“ für die Abschaffung des Art 198 Abs 1 ein und äußert gegen die Pönalisierung verbaler sexueller Belästigung berechtigte Bedenken.

URN urn:nbn:de:0114-qn052172

Ao.Univ.-Prof. DDr. Maria Eder-Rieder

Salzburg/Universität/Öffentliches Recht, Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie

E-Mail: Maria.Eder@sbg.at.ac

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