Verfestigung asymmetrischer Beziehungsstrukturen mittels Gewalt

Rezension von Daniel Osterwalder

Claudia Töngi:

Geschlechterbeziehungen und Gewalt.

Eine empirische Untersuchung zum Problem von Wandel und Kontinuität alltäglicher Gewalt anhand von Urner Gerichtsakten des 19. Jahrhunderts.

Bern, Stuttgart, Wien: Paul Haupt 2002.

164 Seiten, ISBN 3–258–06352–4, € 22,60

Abstract: Die Arbeit der Historikerin Claudia Töngi dreht sich um verschiedene Formen von Gewalt wie Tötungsdelikte, häusliche und sexuelle Gewalt. Auf der Basis einer umfangreichen Daten- und Quellensammlung aus dem Gerichtsarchiv des Schweizer Kantons Uri (die zudem im Anhang aufgeführt wird) zeigt sie, wie sich im 19. Jahrhundert Frauen und Männer zur Anwendung von Gewalt stellten und wie sich Gewaltpraktiken und deren Wahrnehmung im besprochenen Zeitraum verändert haben. Einerseits bringt Claudia Töngi noch unpublizierte Archivakten vor dem Hintergrund sozialgeschichtlicher Fragestellungen zum Sprechen, andererseits ermöglicht sie interessierten Forscher/-innen, die vergleichend zu Gewalt und Delinquenz arbeiten, raschen Zugriff auf die urnerischen Daten. Die Untersuchung wurde als Projekt Nr. 15 im Rahmen des Nationalfondsprogramms „Gewalt im Alltag und organisierte Kriminalität“ (NFP 40; URL: http://www.nfp40.ch, 20.04.2004) durchgeführt.

Einleitung und Fragestellung

Claudia Töngi geht es darum, typische Praktiken, Diskurse und Bedeutungen von Gewalt innerhalb der Bevölkerung des Schweizer Kantons Uri im 19. Jahrhundert (genauer: 1803–1885) herauszuarbeiten. Gewalthandlungen, verstanden als komplexe, gesellschaftlich-historische Konstruktionen, intervenieren immer in soziale Beziehungen, beispielsweise als Antwort auf die Verletzung von Ehre, als Droh- oder Strafmittel oder aber zur Konstituierung von Geschlechts- oder Gruppenidentitäten (vgl. S. 13). Dabei weise – so Töngi – vieles darauf hin, dass das Geschlecht zentrale Deutungskategorie sei, um Gewalt zu verstehen.

Anhand der ihr zur Verfügung stehenden Akten (Aktenbestände des Untersuchungsrichteramtes, die Protokolle des Wochenrates sowie jene des Kriminalgerichts und des Bezirkgerichts) arbeitet sie die jeweiligen historischen Ausprägungen von Gewalt und die Bilder und Vorstellungen der damaligen Bevölkerung heraus. Töngi unterlegt dabei ihrer Studie einen Gewaltbegriff, der Gewalt einerseits als historische Konstante versteht, der andererseits aber auf unterschiedliche Manifestationen von Gewalt verweist. In den Vordergrund werden dabei Formen alltäglicher Gewalt gerückt, die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Gewalt und Geschlecht beantworten können.

Strukturelle Aspekte der Gewaltdelinquenz

Der Großteil der von Töngi untersuchten 488 Fälle handelt von Körperverletzungen im engeren Sinne wie Schlägereien oder Misshandlungen. Rund ein Fünftel der Fälle verweist auf sexuelle Gewalt wie Inzest oder Vergewaltigung. Ein Zehntel der Fälle handelt von Tötungsdelikten wie Mord oder Misshandlung mit Todesfolge.

Innerhalb des betrachteten Zeitraums stellt Töngi verschiedene Wellen aktenkundiger Gewalt mit stetig größer werdender Amplitude fest; ein Maximum wird um 1883 mit 36 dokumentierten Fällen registriert (diese hohe Zahl hängt damit zusammen, dass 1883 ein zusätzlicher Verhörrichter eingestellt wurde, um die aufgelaufenen Pendenzen zu bearbeiten). Sie zeigt dabei, dass dies nicht nur auf eine Zunahme von Gewaltdelikten verweist; als plausible Interpretation erweist sich auch die bekannte Argumentationsfigur der steigenden Anzeigebereitschaft. Als mögliche Gründe für die Zunahme der Delikte mit Blick auf drei Jahrzehntstichproben erwähnt Töngi unter anderem den Aufbau effizienter Verwaltungsstrukturen oder die systematische Verfolgung delinquenten Handelns.

Mit Blick auf soziale Merkmale der Täter hebt die Autorin wesentliche Veränderungen hervor: Während in den 1820er Jahren noch die Hälfte der Täter und Kläger/-innen der bäuerlichen Schicht entstammten, finden sich 1845 vermehrt Handwerker im Kreis der angeklagten Täter. Dies wiederum spiegle den sozioökonomischen Wandel in der ersten Jahrhunderthälfte. Im dritten Untersuchungszeitraum (1872–1882) änderte sich das Täterprofil wiederum. Vermehrt kam es zu Konflikten mit tödlichem Ausgang, vermehrt waren die Arbeiter der Gotthardbahn daran beteiligt, also Arbeiter aus Norditalien und Tirol.

Wiewohl die Zeit des Gotthardbahnbaus als Zäsur wahrgenommen wurde und insbesondere die urnerische Gewaltkultur veränderte, waren gewaltsame Konfliktaustragungsformen der urnerischen Gesellschaft inhärent, insbesondere dann, wenn Nutzungsrechte, Eigentum oder Ehre auf dem Spiel stand. Der Großteil dieser Konflikte wurde dabei zwischen Männern ausgetragen (vgl. S. 46). Inhärent war dieser Umbruchgesellschaft aber auch die Verfestigung asymmetrischer Beziehungsstrukturen durch sexuelle Gewalt: So sind die Opfer sexueller Gewalt die mit Abstand einheitlichste Opfergruppe; sie sind weiblich, ledig, einheimisch und in schlecht bezahlten Berufen tätig (vgl. S. 49).

Zum Kontext der gewaltsamen Konfliktaustragung

Männliche Gewalt in der Untersuchungsperiode drehte sich um Ehre, Eigentum und brach sich Bahn in stark ritualisierten Formen wie dem Herunterschlagen von Hüten, dem Schlagen mit Stöcken und dem Ringen (dies nur in parenthesis: Die spezifisch schweizerische Form des Ringens wird noch heute gepflegt und führt zur Krönung des einzigen Königs der Schweiz). Jüngere Gewalttäter taten sich hervor mit Nachtruhestörungen oder mit rituellem In-die-Hände-Klatschen zur Anzeige potenziellen Konfliktaustragens. Gewalt erfüllte damit, dies zeigt Töngi mit Verweis auf das „Häggeln“ (zwei Kontrahenten packen sich mit je einem Finger und suchen den anderen aus dem Gleichgewicht zu bringen) sehr eindrücklich, auch eine Initiationsfunktion und einte die männliche Geselligkeit, ab der zweiten Jahrhunderthälfte vermehrt in Wirtshäusern und auf der Straße.

Frauen wiederum erfuhren Gewalt sehr oft im Kontext mit Ehe oder Partnerschaft. Da dem Geschlechterverhältnis spezifische Machtvorstellungen unterlegt waren, trat Gewalt oft infolge stattgefundenen männlichen Machtverlusts auf. (vgl. S. 63) Augenscheinlich nutzten Männer die soziale und ökonomische Ungleichheit zwischen Frauen und Männern dazu aus, die körperliche Integrität von Frauen und Mädchen zu missachten.

Im Vergleich mit dem mittelalterlichen Zürich oder der Grafschaft Klettgau um 1800 wies der Kanton Uri im 19. Jahrhundert ein vergleichsweise niedriges Gewaltpotential auf (vgl. S. 21 und 67); eher im Einzelfall trägt die Gewalt exzessive Züge; mehrheitlich haben wir es mit Alltagsgewalt zu tun. Töngi weist abschließend eindrücklich darauf hin, dass Gewalt „gerade nicht ‚das Andere der Kultur‘ [ist], sondern als Charakteristikum sozialer Organisation“ analysiert werden müsse (S. 70).

Kommentar

Die Arbeit von Claudia Töngi ist nicht nur deswegen interessant, weil die Autorin sich die Mühe gemacht hat, die Daten systematisch und anschaulich zu publizieren, damit sie auch von anderen Forschenden weiter verwendet werden können. Wichtig scheint mir, im Kontext mit Geschlechterbeziehung und Gewalt auch die profunde theoretische Grundlage der Arbeit zu sein. Mit Verweis auf die Darstellung von Gewalt als Kräftefeld, das zwischen sozialen, ökonomischen und symbolischen Macht- und Herrschaftsbeziehungen (vgl. S. 12) aufgespannt wird, ermöglicht Töngi einen auch theoretisch fundierten Zugriff auf Aktenbestände, die Hinweise liefern zur Gewalt und deren zeitgenössischer Rezeption im Alltag.

Claudia Töngi widmet sich, bevor sie die Ergebnisse des Aktenstudiums präsentiert, sehr breit der Auseinandersetzung mit der historischen und soziologischen Literatur zum Themenbereich Gewalt. Mit Bezug auf Elias greift sie die sogenannte Sublimierung von Gewalt und Verrechtlichung von Konflikten auf, bezieht die bekannte Kritik an Elias‘ Prozess der Zivilisation mit ein und verweist hier insbesondere darauf, dass diesem Diskurs immer auch normative Züge innewohnen. Nüchtern legt sie daran anschließend dar, dass es zu den Grunderfahrungen einer jüngeren Forschergeneration gehört, dass sich jede Gesellschaft mit spezifischen Formen von Gewalt auseinandersetzen muss.

Vor wenigen Monaten wurde in der Schweiz eine Initiative zur lebenslänglichen Verwahrung ‚unheilbarer‘ Triebtäter vom Souverän gutgeheißen. Vielleicht helfen uns Arbeiten wie jene von Claudia Töngi dazu, uns nüchterner und realistischer mit unseren eigenen Bildern und Vorstellungen von Gewalt auseinanderzusetzen.

URN urn:nbn:de:0114-qn052137

Lic. phil. hist Daniel Osterwalder

Belp – Bern/Pädagogische Hochschule Wallis/Bildungspolitik und Qualitätsmanagement

E-Mail: daniel.osterwalder@phvs.ch

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