Männer und Frauen sind nicht gleich. Über Geschlechterstereotype in juristischen Verfahren

Rezension von Claudia Fröhlich

Ulrike Weckel, Edgar Wolfrum (Hg.):

„Bestien“ und „Befehlsempfänger“.

Frauen und Männer in NS-Prozessen nach 1945.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003.

271 Seiten, ISBN 3–525–36272–2, € 22,90

Abstract: Weibliche und männliche Angeklagte wurden in den NS-Prozessen nach 1945 nicht gleich behandelt. In den Aufsätzen des von Ulrike Weckel und Edgar Wolfrum herausgegebenen Sammelbandes ‚Bestien‘ und ‚Befehlsempfänger‘. Frauen und Männer in NS-Prozessen nach 1945 werden der unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands von den Alliierten initiierte Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, die Verfahren gegen SS-Aufseherinnen sowie die Hochverratsprozesse in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus analysiert. Daneben ist die Berichterstattung über den Nürnberger Prozess als einem „medialen Großereignis“ ebenso Gegenstand der Untersuchung wie die Fernsehberichterstattung über das in den 1970er Jahren geführte Majdanek-Verfahren gegen SS-Aufseher und -Aufseherinnen. Die Autorinnen fragen, ob und welche Geschlechterstereotype Rechtsprechung und Berichterstattung geprägt haben, welche Funktionen den dabei formulierten Männer- und Frauenbildern im Kontext der Konstituierung der beiden deutschen Gesellschaften nach 1945 zukamen und wie sie kulturgeschichtlich zu verorten sind. Nach der mittlerweile etablierten Täterinnenforschung rückt ein geschlechtergeschichtlicher Ansatz in das Blickfeld der Forschung zu NS-Prozessen und ihrer Wahrnehmung, der frauen- und männergeschichtliche Studien gleichermaßen anregen kann.

Ein neues Männerbild im Westen – Kapitalismuskritik im Osten? Hauptkriegsverbrecher vor Gericht und in der Presse

Seit 1942 als amerikanische Kriegsberichterstatterin tätig, war Erika Mann bemüht, das englische und amerikanische Publikum mit den völkerrechtlichen Grundlagen und juristischen Problemen, der Anklage und dem Ablauf des von den Alliierten von November 1945 bis Oktober 1946 geführten Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Systems vertraut zu machen. Irmela von der Lühe skizziert in ihrem Beitrag über „Erika Manns Nürnberger Reportagen“ die journalistische Arbeit jener Frau, die als Schauspielerin und Kabarettistin einen Blick für die „skurrile Seite der großen Politik“ (S. 34) hatte und den Prozess als „schaurig-komisches Spektakel“ (S. 36) und „Bühnengeschehen“ (S. 33) betrachtete. Diese von Erika Mann eingenommene „performative Perspektive“ (S. 36) gründet nach von der Lühe in der Wahrnehmung des Nationalsozialimus als einem System, das ein „vernünftiges, humanes und moralisches Realitätsprinzip“ völlig negiert hat (S. 36).

Während von der Lühe mit Erika Mann eine der wenigen Journalistinnen vorstellt, die nach Nürnberg gereist waren, um das Verfahren zu beaobachten, greifen Anneke de Rudder und Christine Bartlitz in ihren Beiträgen die von Ulrike Weckel und Edgar Wolfrum in der Einleitung formulierte Aufforderung auf, den Prozess sowie die Berichterstattung über ihn in einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive zu analysieren und nach der Funktion der präsentierten Täterbilder im Kontext der Konstitutierung der deutschen Gesellschaft nach 1945 zu fragen.

Christine Bartlitz zeigt mit einer Analyse der vom Berliner Rundfunk anlässlich des Nürnberger Prozesses von Mai 1945 bis Oktober 1946 ausgestrahlten Sendereihe „Nürnberger Verbrecheralbum“, dass in der Berichterstattung des neu gegründeten Rundfunksenders für die sowjetische Besatzungszone in Berlin eine Repräsentation der Angeklagten als „konventionelle Ganoven“ (S. 75) und ihre „Typisierung […] als Repräsentanten des nun besiegten politischen Systems“ (S. 69) dominierte. Die Berichterstattung des Berliner Rundfunks diskreditierte den Nationalsozialismus als ein kapitalistisches System und ermöglichte seinen Zuhörern eine Schuldprojektion auf die angeklagte Elite und damit eine Selbstentlastung. Während nach Bartlitz diese kollektiv funktionale Typisierung der Angeklagten eine Geschlechterstereotypisierung überlagerte, rekonstruiert Anneke de Rudder die Berichterstattung über den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in den westlichen Besatzungszonen als eine „Dekonstruktion des NS-Männerideals“ (S. 65). Die Historikerin stellt das Nürnberger Verfahren als einen „Prozess der Männer“ (S. 41) vor, in dem ausschließlich Männer über Verbrechen von Männern richteten. Während die angeklagten Männer eine völlig aussichtslose Verteidigungsstrategie einschlugen und versuchten, ihre Verantwortung und ihre Tatbeiträge herunterzuspielen, indem sie sich vor Gericht als machtlose Befehlsempfänger und Rädchen im Getriebe präsentierten (vgl. S. 51), wurde das von den Nationalsozialisten propagierte Ideal des Mannes, „dessen Angelpunkte Härte, Unsentimentalität, Pflichterfüllung und militärisches Auftreten waren“, allmählich durch das Bild abgelöst, das die angelsächsischen Richter und Ankläger verkörperten. Sie waren „souverän, selbsicher, ruhig, gelassen, niemals verbissen und doch seriös, unauffällig elegant, im Zweifelsfall eher zu milde als zu scharf“ (S. 61). De Rudders These regt zur systematischen Erforschung der Frage an, ob es sich hier um eine Veränderung von geschlechtsspezifischen Werten im Kontext einer kurzfristigen Distanzierung vom NS-Unrechtssystem handelt oder ob Nürnberg tatsächlich eine normative Zäsur markiert. Schließlich folgten westdeutsche Gerichte später durchaus der Rechtfertigungsstrategie von angeklagten Männern, im NS-System nur als Befehlsempfänger gehandelt zu haben.

Bezieht man in die Analyse die geistesgeschichtliche Verortung der Argumentationsfigur des „Befehlsempfängers“ mit ein, die Christina von Braun in ihrem Beitrag über „Die unterschiedlichen Geschlechtercodierungen bei NS-Tätern und -Täterinnen unter medienhistorischer Perspektive“ vornimmt, eröffnet sich ein höchst spannendes Forschungsthema. Nach von Braun liegt dem Selbstverständnis des „Befehlsempfängers“ „durchaus eine Codierung von Männlichkeit zugrunde“ (S. 252), die u. a. ein „behagliches Aufgehen in der Gemeinschaft offenbart“, mit einer „Lust an der Willenlosigkeit“ einhergeht und mit einer kollektiv verankerten geistesgeschichtlichen Idee männlicher „‚Norm‘ und ‚Normalität‘ zusammenhängt“ (S. 253).

Weibliche „Unschuld“, „SS-Bestie“ oder das „Andere“ Geschlechterstereotype statt Taten als Beszugspunkte des juristischen Diskurses

Stand im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess und in den Nachfolgeprozessen die männliche Funktionselite des NS-Systems vor Gericht, wurden Frauen vor allem wegen ihrer Funktion als SS-Aufseherin angeklagt.

Insa Eschebach untersucht Verfahren gegen 35 ehemalige SS-Aufseherinnen, die sich in den Jahren 1947 bis 1954 vor Gerichten der SBZ und der DDR wegen Verbrechen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und seinen Nebenlagern verantworten mussten. Die milde Urteilspraxis der Gerichte in den späten 1940er Jahren, in der sogar das Verhalten von geständigen Frauen lediglich als „Entgleisung“ bewertet wurde, ihr „jugendliches Alter“ schuldmindernd angerechnet oder etwa eine „weibliche Unschuld“ konstatiert wurde, verortet Eschebach im Rahmen der tradierten Geschlechterordnung (S. 102) und einer „Tradition einer Zuschreibungspraxis, wonach Frauen keine eigene Willensbildung“ (S. 101) zugestanden wurde. Dagegen zeigt sie, dass im Zusammenhang mit einer „Politisierung der Strafverfahren“ (S. 99) und einer Wahrnehmung des Nationalsozialismus als einem System „abnormer Individuen“ (S. 104) seit Anfang der 1950er Jahre die Verbrechen der angeklagten Frauen mit lebenslanger Haftstrafe sanktioniert wurden. Die Angeklagten galten jetzt nicht mehr als Frauen (S. 105). Die SS-Aufseherinnen wurden vielmehr außerhalb der Geschlechterordnung als „SS-Bestie“ oder „SS-Hyäne“ (S. 99) stigmatisiert.

Auch eine Analyse von „Spruchkammerverfahren gegen politisch stark belastete Frauen“ zeigt eine explizit unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen in juristischen Verfahren. Nicht objektive Tatbestandsmerkmale begründeten die Einstufung in die fünf möglichen Belastungskategorien, vielmehr war die Qualifizierung der von Frauen begangenen Taten „oftmals von geschlechtsspezifischen Moralvorstellungen geprägt“ (S. 120). Kathrin Meyer kommt in ihrer Analyse von Spruchkammerverfahren zu dem Ergebnis, dass sich das „gleiche Frauenbild […] bei entsprechendem Einsatz sowohl be- als auch entlastend für Frauen auswirken konnte.“ Frauen galten danach als „Hüterinnen des Friedens und des Guten schlechthin“ (S. 136), und die „dem Geschlechterstereotyp konform argumentierenden SS-Helferinnen, denen darüber hinaus keine Brutalität nachgewiesen werden konnte, wurden trotz ihrer nachweisbaren Unterstützung des Nationalsozialismus bereitwillig entlastet. Den geschlechtsuntypisch – weil brutal – agierenden Aufseherinnen wurde ihr normabweichendes Handeln dagegen besonders stark angelastet“ (S. 136).

Dass die in den Gerichtsverfahren wirksamen Geschlechterstereotype und die Annahme, dass „ein von einer Frau verübtes Verbrechen ursächlich und essenziell etwas Anderes sei als männliche Kriminalität“ (S. 158), zu einem gesamtgesellschaftlich wirksamen Repertoire von Stereotypen gehört und „auf kulturelle Ablagerungen“ rekurriert, die in einer „langen Tradition“ (S. 158) verwurzelt sind, zeigt eindrucksvoll der Beitrag von Regula Ludi. Ludi beschäftigt sich mit der literarischen Repräsentation der 1947 von einem britischen Militärtribunal wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilten Schweizerin Carmen Mory. Die historische und kulturelle Einordnung etwa der in dem 2001 publizierten Roman Die Frau im Pelz von Lukas Hartmann auffallenden „Dämonisierung der NS-Täterin“ sowie der „mitschwingenden Sexualisierung des Täterinnenbildes“ (S. 146) liefern dabei auch Erklärungsansätze für die schon 50 Jahre zuvor in den NS-Prozessen wirksamen Grundannahmen über das Geschlechterverhältnis.

Während die Schweizerin Mory noch 50 Jahre nach ihrer Verurteilung Thema ist, zeigt Sabine Horn in ihrem Beitrag über den Düsseldorfer Majdanek-Prozess, in dem sich 1975 bis 1981 neun Männer und sechs Frauen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen verantworten mussten, dass nach wie vor geschlechtsspezifische Stereotype sowohl im Gerichtssaal als auch in der Berichterstattung von Bedeutung waren. Anders als etwa in den 1960er Jahren erregte aber die Tatsache, dass Frauen vor Gericht stehen, keine besondere öffentliche Aufmerksamkeit. „Warum das Thema weiblicher Täterschaft vom Fernsehen in den siebziger Jahren nicht offensiver aufgenommen wurde“ (S. 247), kann nach Horn noch nicht erklärt werden. Ob etwa ein verändertes Frauenbild Ursache ist, können nur zukünftige komparatistisch angelegte Analysen von NS-Verfahren und deren medialer Repräsentation zeigen.

Ob Geschlechterstereotype in juristischen Verfahren wirksam werden, hat dabei offensichtlich mit dem Herrschaftssystem zu tun. So bestätigt Isabel Richter mit ihrer Analyse von „Politischen Gerichtsprozessen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus“ (S. 175) ein Ergebnis der Forschung von Bartlitz, wonach Gerichte in einem diktatorischen System dazu tendieren, die in politischen Verfahren Angeklagten außerhalb der eigenen Gesellschaft zu positionieren und Frauen und Männer als „das Andere“ zu stigmatisieren. Während in Hochverratsprozessen der Weimarer Republik „eine ausgeprägte Geschlechterdifferenz ins Auge“ sticht, wurden seit Mitte der 1930er Jahre „Geschlechterpolaritäten, die innerhalb der Volksgemeinschaftsideologie normativ durchaus geschlechtsspezifisch unterschiedliche Angebote und Handlungsräume für Männer und Frauen vorsahen, […] in den Urteilen (des Volksgerichtshofes) symbolisch aufgehoben“ (S. 192).

Schade nur, dass mit dem Text des einzigen Autors zwar ein sehr informativer und kenntnisreicher Überblick über die Geschichte der so genannten Gehilfen-Rechtsprechung, also über die Frage, in welchen Fällen westdeutsche Gerichte die in NS-Prozessen Angeklagten wegen Täterschaft oder Beihilfe verurteilten, vorliegt, der Bezug zum Thema des Sammelbandes aber unklar bleibt.

Zudem fällt auf, dass weitere männliche Autoren am Sammelband gar nicht beteiligt sind. Bleibt zu hoffen, dass dies mit der thematischen Konzeption des Sammelbandes zu tun hat und nicht damit, dass „ein geschlechtergeschichtlicher Ansatz […] nicht selten als spitzfindig oder bloße Huldigung an eine wissenschaftspolitische Mode abgetan wird“ (S. 17), wie Ulrike Weckel und Edgar Wolrum in ihrer Einleitung schreiben. Die vorliegenden Forschungen jedenfalls zeigen – wenn auch in unterschiedlicher Stringenz – eine Relevanz der Thematisierung geschlechtsspezifischer Analysen von juristischen Verfahren und deren publizistischen Repräsentation nicht zuletzt im Hinblick auf die Konstituierung von demokratischen und diktatorischen Gesellschaften.

URN urn:nbn:de:0114-qn052093

Claudia Fröhlich M.A.

Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut

E-Mail: polhist5@zedat.fu-berlin.de

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