„Ziel ist das Menschenrecht als Frauenrecht“

Rezension von Svetlana Jebrak

Gisela Notz:

Frauen in der Mannschaft.

Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49–1957.

Bonn: Dietz 2003.

568 Seiten, ISBN 3–88012–4131–9, € 34,00

Abstract: Frauen, die im Schatten der großen Männern standen, werden als eigenständige Persönlichkeiten im Buch von Gisela Notz reflektiert. Sie, die schon immer Geschichte machten, blieben allzu lange im Hintergrund. Die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz holt sie ans Licht und erteilt ihnen das Wort. Es ist ihr dabei gelungen, mit konkreten biographischen Geschichten der 26 Frauen ein wichtiges Basiswerk zu schaffen. Die Autorin setzt sich mit den Brüchen des Werdeganges dieser Frauen auseinander und berührt die Schwachstellen der sozialdemokratischen Frauenpolitik. Ein Buch, dass nicht nur jungen Frauen als eine gute Tischlektüre empfohlen werden kann, sondern auch erfahrenere Frauen mit den entscheidenden gesellschaftlichen Umständen bekannt macht und sie durch die persönlichen Begegnungen mit diesen Politikerinnen bereichert.

Mit den Worten Clara Zetkins „Ziel ist das Menschenrecht als Frauenrecht“ beendet Gisela Notz ihr aus 26 Biographien der SPD-Politikerinnen des Parlamentarischen Rates (1948/49) und der ersten beiden Bundestage (1949–1953 und 1953–1957) bestehendes Buch. Die Autorin beginnt mit der Vorstellung der Politikerinnen, die sich für die Verankerung des Satzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ im Grundgesetz stark gemacht haben, wie Frieda Nadig und Elisabeth Selbert. Die Würdigung der bislang unentdeckten sozialdemokratischen Parlamentarierinnen, die sich für die Rechtsgleichheit der Geschlechter einsetzten, wird in alphabetischer Reihenfolge fortgesetzt: unter den folgenden 24 Biographien sind auch solche von Frauen, deren politisches Vermächtnis auf den ersten Blick unbedeutend erscheint. Die Autorin hat sie aus den hinteren Reihen ans Tageslicht geholt. Darunter finden sich Gertrud Lockmann, Anni Mellies, Trudel Meyer oder Emmy Meyer-Laule. Der Umfang der biographischen Darstellung dieser Sozialdemokratinnen spiegelt die Quantität der Quellenlage wider und unterscheidet sich damit z. B. von dem Artikel über Annemarie Renger. (Vgl. S. 395–420)

Die Lebensläufe sind chronologisch und inhaltlich ähnlich systematisiert: Kindheit – Jugend – Ausbildung; erste politische Aktivitäten vor und nach 1945; Wiederaufbau und Parteiarbeit im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag sowie nach dem Ausscheiden aus diesen Gremien. Aufgrund der heterogenen Quellenlage entwickelt Gisela Notz auch einen methodisch-innovativen Umgang mit den Instrumentarien der Biographieforschung. Sie begnügt sich nicht nur mit narrativen Interviews, sondern verwendet auch andere Formen des methodischen Vorgehens. Biographische und themenzentrierte Interviews mit den noch lebenden ehemaligen Abgeordneten und anderen Zeitzeugen finden sich neben weiteren Formen der Befragung. (Vgl. S. 13) Über die Darstellung einzelner Individuen hinaus werden auch die allgemein-gesellschaftlichen Umstände betrachtet. Diese kommen allerdings trotz des Umfangs des Buches zu kurz. Selbst bei profundem Hintergrundwissen werden auch dezidierte Kenner/-innen der Nachkriegsgeschichte manche Erklärungen vermissen.

Familiäre Sozialisation und politisches Engagement

Die untersuchten Politikerinnen-Biographien weisen gemeinsame Züge auf: Die Sozialisation im Elternhaus stand unter dem Einfluss des oft sozialistisch und atheistisch geprägten Vaters. Meist aus proletarischen Familien stammend, wuchsen diese Frauen in der Auseinandersetzung mit der traditionellen Mädchenerziehung auf. Keine von ihnen ist diesen traditionellen Weg gegangen. Sie wurden zwar zum Teil Ehefrauen und Mütter, verfügten aber über einen starken Bildungsdrang, unterschiedlich stark ausgeprägte Zielsetzungen und Erfolgsorientierungen. Alle 26 Frauen weisen die in der Politik unerlässliche Fähigkeit auf, mit politischen Niederlagen umgehen zu können. Dr. Elisabeth Selbert wurde z. B. nie Mitglied des Bundestages, obwohl sie für die Durchsetzung von Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes in den verfassungsgebenden Beratungen als Mitglied des Parlamentarischen Rates in den Jahren 1948/49 gekämpft hat. Neben Elisabeth Selbert waren drei weitere „Mütter“ an der Schaffung des Grundgesetzes beteiligt: Frieda Nadig, Helene Weber und Helene Wessel.

Bis auf zwei Ausnahmen besaßen die ausgewählten SPD-Parlamentarierinnen keinen Hochschulabschluss. Die eine Ausnahme war eine Medizinerin, Tochter des Beamten Dr. Elinor Huber, 1949 die einzige sozialdemokratische Akademikerin im ersten Deutschen Bundestag, die zweite Dr. Elisabeth Selbert, die Jura auf dem zweiten Bildungsweg mit Unterstützung der Familie studierte. Die Großmutter kümmerte sich um die Kinder, die Schwester um den Haushalt und um die Finanzierung des Studiums der Ehemann. (Vgl. S. 83) Sie wurde die „Anwältin der Frauen“.

Im Mittelpunkt jeder biographischen Schilderung steht die Rolle der Politikerinnen als Frauen in der Männerwelt. Notz stellt fest, dass die „Gleichberechtigung für sie Gleichwertigkeit, die die Andersartigkeit zwischen den Geschlechtern anerkennt“ bedeutete. Die Autorin unterstreicht, dass die Politikerinnen keine kämpferischen Suffragetten gewesen seien, sondern „nüchtern, maßvoll und mit klugem Sachverstand“ begabt. (Vgl. S. 105) Für die untersuchte Generation der Frauen habe die „Parteimitgliedschaft und -zugehörigkeit mehr als persönliche Karriere bedeutet. Für sie war die Partei ein Projekt, in dem die Gemeinschaft die Identität des Einzelnen prägte“. (Vgl. S. 529) So das Fazit der Autorin, die im dritten Teil einen umfassenden Ausblick über die Lage der SPD-Frauen heute bietet. Sie erwähnt auch, dass die Mitgliedschaft der Frauen in der Funktionärselite weiterhin gering sei.

Die Frauen damals „standen ihren Mann“ (Vgl. S. 529). Sie fielen weniger durch Plenarreden auf, sondern arbeiteten als ‚fleißige Bienen‘ in den zahlreichen Ausschüssen. Dies seien die politischen Domänen für die Frauen gewesen, es hätten den Frauen aber weitgehend die politischen Domänen gefehlt, in denen sie aktiv werden konnten. Diese „betrogene Generation“ der Politikerinnen habe sich gegen das Image der Frauenrechtlerinnen gewandt. So beschäftigte sich beispielsweise Frieda Nadig mit Frauen- und Wohlfahrtsfragen. Sie war eine Vorkämpferin für ein zeitgemäßes Familienrecht und für eine gerechte Sozialordnung (vgl. S. 69) und setzte sich für die Verbesserung der Rechtsstellung unehelicher Kinder ein. Ihre Verdienste seien bei der „Festigung des demokratischen Gedankens vor allem bei der weiblichen Bevölkerung“ anzusetzen. (Vgl. S. 77) Nadig grenzte sich von den bürgerlichen Kreisen ab und ging kaum auf frauenpolitische Diskussionen ein. Sie war 1936–1945 bei der „NS-Frauenschaft“ und in der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ aktiv. Die Vergangenheitsbewältigung bildete bei ihr wie bei vielen anderen eine wichtige Rahmenbedingung für ihre politische Arbeit.

Widerstand, Vergangenheitsbewältigung und Aufbau

Die Autorin findet in ihren Darstellungen die Balance zwischen der Schilderung der Taten der Frauen „damals“, ihren kleinen, aber wichtigen Widerstandstätigkeiten während der NS-Herrschaft und konzentriert sich nun auf ihre Rolle und Wirkung in der Politik der Bundesrepubik. Parlamentarierinnen dieser Generation hatten keine „normalen“ Lebenswege, ihre Biographien sind voller Brüche und manchmal auch voller Widersprüche. Sie waren mehr als die jeder anderen Generation des 20. Jahrhunderts von historischen Umbrüchen und „Wendezeiten“ geprägt. Der Nationalsozialismus ist für Notz ein wichtiger Prüfstein bei den Befragungen. Sie versucht nicht, die sechs bis neun Millionen Frauen, die sich an den nationalsozialistischen Aktivitäten beteiligten, hinter dem Bild der sich opfernden Trümmerfrauen zu verstecken. Gleichzeitig weist sie auf das neue Bewusstsein vor allem in der sozialdemokratischen Frauenpolitik im Nachkriegsdeutschland hin. Den industriellen Massenmord leugneten die Parlamentarierinnen nicht: Einige hatten Schuldgefühle, andere verdrängten eigene Anpassungsleistungen während der Diktatur. Wie zu erwarten, finden wir in diesem Band eine Kurzbiographie von Jeannette Wolff, der Sozialdemokratin und Jüdin. (Vgl. S. 502–524) Belasteter ist der Weg Elisabeth Selberts. Bei ihr gab es zahlreiche ambivalente Situationen: ihre Zulassung als Rechtsanwältin, die unentgeltliche Übernahme einer jüdischen Anwaltskanzlei nebst Mandantenstamm im Dezember 1934. Sie war Mitglied in der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ und dem „Frauenwerk“, und ihre beiden Söhne waren in der „Hitler-Jugend“ und kämpften an der Ostfront. Selbert beschäftigte sich damals mit „unpolitischen Fragen“, Familienrecht und kleineren Wirtschaftsvergehen. Dabei wickelte sie nach dem Pogrom von 1938 auch Vertragsgeschäfte und Kaufverträge in den „Judenhäusern“ in Kassel ab. Mag sie unfreiwillig vor diese Aufgaben gestellt worden sein, so wurde sie doch Augen- und Ohrenzeugin sowie Mitwisserin dieses verbrecherischen Handelns. Auch als Scheidungsanwältin kam sie direkt mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik in Berührung. (Vgl. S. 87) Nicht anders als die nachfolgende Generation arbeitete sie wie Annemarie Renger „fasziniert von der Politik“ am Aufbau einer friedlichen und neuen demokratischen Gesellschaft der Nachkriegszeit mit. Renger gehört zu den prominenten Frauen dieses Bandes. Sie ist als enge Mitarbeiterin Kurt Schumachers und als Bundestagspräsidentin in die Geschichte eingegangen. Mittlerweile 85-jährig räumt sie ein: Ihre Generation habe sich geirrt, als sie meinte, der Zustand der vollen Gleichberechtigung der Frauen lasse sich schnell erreichen.

Das Buch von Gisela Notz ist ein gut lesbare und anhand der breiten Quellen- und Literaturgrundlage klar dokumentierte sowie lesenswerte Studie. Ihre kompakten und konzentrierten biographischen Darstellungen beendet Notz mit einem Ausblick auf die Situation der SPD-Frauen heute. Dabei werden auch die Konflikte mit der jungen Generation angesprochen. Die klassische Doppelbelastung vieler Frauen, Lohndifferenzierung und die immer noch ausstehende Gleichberechtigung in Wirtschaft und Gesellschaft sowie in der Politik sind Gründe dafür, dass die eingangs zitierten Worte Clara Zetkins noch heute aktuell sind.

URN urn:nbn:de:0114-qn052080

Svetlana Jebrak, M. A.

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

E-Mail: sjebrak@ix.urz.uni-heidelberg.de

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