Moral und Geschlecht

Rezension von Marianne Hege

Lerke Gravenhorst:

Moral und Geschlecht.

Die Aneignung der NS-Erbschaft. Ein soziologischer Beitrag zu Selbstverständigungen vor allem in Deutschland.

Freiburg: Kore 1997.

403 Seiten, ISBN 3–926023–69–4, DM 29,80/ SFr 29,80/ ÖS 218,00

Abstract: Im ersten Teil der Veröffentlichung fordert und begründet Lerke Gravenhorst die Einführung der Sozialkategorie des Geschlechts in die Diskussion um die Verarbeitung der NS-Vergangenheit. Im zweiten Teil untersucht die Verfasserin die geschlechtsspezifische Aneignung der NS-Geschichte als „negatives Eigentum“ durch die nachgeborene Generation anhand der qualitativen Befragung eines Geschwisterpaares, eines Mannes und einer Frau.

Der zentrale Thematisierungsmangel

Lerke Gravenhorst untersucht den Zusammenhang von Geschlecht und Moral an der Rekonstruktion des Bewußtseins vom NS-Geschehen bei der nachgeborenen Generation. Diese aus ihrer Sicht vernachlässigte Fokussierung hält sie für notwendig, weil sie ermöglicht, die Männerdominanz im Bewußtsein über die NS-Zeit zu verdeutlichen. Um es an dieser Stelle gleich vorwegzunehmen, bedeutet dieses nicht eine „Entschuldigung“ der Frauen im Geschehen des Nationalsozialismus, keine Rückkehr zur Täter-Opfer-Perspektive. Es ist ein Verdienst von Lerke Gravenhorst, daß sie in ihrer früheren Veröffentlichung gerade die weibliche Beteiligung an den Verbrechen im Nationalsozialismus thematisierte.

In ihrem theoretischen Bezugsrahmen wie in der Befragung führt Lerke Gravenhorst den Nachweis, daß auch im Bewußtsein der nachgeborenen Generation diese Männerdominanz ungebrochen ist. Männer und Frauen der nachgeborenen Generation müssen sich damit auseinandersetzen, ob und wie die Eltern – in verschiedener Weise Vater und Mutter – sich schuldig gemacht haben. Töchter und Söhne bringen bei den Fragen an Mutter und Vater ihre Rollenvorstellungen an Frauen und Männer sowie das Wissen um die Handlungsmöglichkeiten (General oder Hausfrau ) mit in die Anfrage und Bewertung ein. So fragen Töchter immer wieder, warum gerade ihre nichtverfolgten Mütter sich in die Gefolgschaft der doch nachweislich männlich geprägten und frauenverachtenden Partei einreihten.

Die notwendige Moralisierung des NS-Geschehens

Es steht außer Frage, daß die geschichtliche Betrachtung der NS-Zeit deren moralische Beurteilung einschließt. Lerke Gravenhorst sucht als Sozialwissenschaftlerin nach den sozialstrukturellen Dispositionen, der Wahrnehmung der NS-Vergangenheit, die den Verfolgten und Opfern angemessen sind. In der moralischen Beurteilung des Geschehens ist Lerke Gravenhorst kompromißlos. Sie nennt diese geschichtliche Epoche der „Produktion des Bösen“ negativ und fordert, daß die nachfolgende Generation diese Geschichte sich aneignet. Sie spricht im folgenden generell vom „negativen Eigentum“.

Geschlechterzugehörigkeit und Bewußtsein von NS-Vergangenheit

Die Autorin referiert die Auseinandersetzung der verschiedenen Gruppierungen in den 80 Jahren mit dem NS-Geschehen und kritisiert, daß sie die Sozialkategorie des Geschlechts vernachlässigt haben. Aus drei Gründen hält Lerke Gravenhorst diese Sozialkategorie für bedeutsam. Die Geschlechtergruppe ist eine basale identitätsstiftende Bezugsgruppe. In der Identitätsbildung ist die Auseinandersetzung mit historisch überlieferten Frauen- und Männerbildern von Bedeutung. Die Geschlechterperspektive knüpft an die Geschlechterdifferenz in der Sozialstruktur der Bundesrepublik an und macht damit die differierende politische Verantwortung deutlich.

Im Prozeß der Aneignung von Schuld und Verantwortung muß auch gefragt werden nach der Gruppe der Männer und der Gruppe der Frauen, der die unterschiedlichen Individuen angehören, um die Frage nach der je spezifischen Verantwortung untersuchen zu können. (Welche Verantwortung tragen Frauen, welche Verantwortung tragen Männer?) Ausgehend von diesen Begründungen untersucht Lerke Gravenhorst das Geschlechtergemeinsame und das Geschlechterunterschiedene in der Geschichtsbetrachtung des Nationalsozialismus. Sie kritisiert, daß die Männer, die die NS-Geschichte untersuchen und beschreiben, bislang diese Sozialkategorie des Geschlechts nicht beachteten und nicht beachten.

Im folgenden referiert und diskutiert Lerke Gravenhorst die Ergebnisse der bisherigen Forschung einschließlich der feministischen und kommt zur Schlußfolgerung, daß Frauen in geringerem Maße aktiv gestaltend im Nationalsozialismus tätig waren. Das gilt auch für den Widerstand. Frauen waren jedoch begleitend und unterstützend tätig und festigten damit im Zusammenspiel mit Männern, denen sie sich verbunden fühlten, das NS-System im Hinblick auf Macht, Ausgrenzung und Destruktion. Lerke Gravenhorst verwahrt sich jedoch gegen ein „Gleichgewicht der Geschlechter“ in bezug auf schuldhaftes Verhalten. Sie fordert, daß Inhumanität und Destruktivität von Frauen, im Rahmen der männerprivilegierenden Gesellschaft des Nationalsozialismus gesehen werden.

Geschlechtergebundener Status als Geschichtssubjekt

In einer männerprivilegierenden Gesellschaft haben Frauen und Männer einen unterschiedlichen Status als Subjekte der Geschichte. Während Männer sich als Subjekte der Geschichte verstehen, die diese gestalten, ist das Verhältnis der Frauen zur Geschichte „gebrochen“ wie das zur Gesellschaft auch. Sie werden in der Geschichtsschreibung wenig genannt und haben dies erst in jüngster Zeit angemahnt. Sie haben – so die Verfasserin – nicht die gesellschaftliche Position, in der sie ihre Verhältnisse gestalten können, darüber hinaus müssen sie sich mit dem Widerspruch von Anerkennung und Mißachtung auseinandersetzen. Wie der Status als Geschichtssubjekt die Aneignung der Geschichte prägt, wird unter dem Aspekt der möglichen Erleichterungen und Erschwernisse für die beiden Geschlechter referiert.

Theoretische Voraussetzungen der empirischen Untersuchung

Lerke Gravenhorst geht davon aus, daß die Geschlechterstrukturen auch das Familienmilieu der Nachgeborenen prägen. Dieses spielt bei der Aneignung des Negativerbes eine wichtige Rolle. Eine geschlechtsverschiedene Auseinandersetzung wird in der Untersuchung so vorausgesetzt, untersucht wird, in welcher Weise sich die Geschlechtszugehörigkeit in der Aneignung des Negativerbes auswirkt.

Die befragten Personen und das methodische Vorgehen

Lerke Gravenhorst wählt zwei nachgeborene Geschwister aus einem Ensemble von zwanzig Befragungen aus. Es handelt sich um ein Geschwisterpaar. Der Mann ist vor Beginn des Krieges geboren, die Frau einige Jahre nach Kriegsbeginn. Der Vater war bis zum Ende des NS-Regimes Berufssoldat und hatte in den letzten Kriegsjahren eine Funktion im Stabe Hitlers. Der weiteren Darstellung liegt das Material von zwei 3-stündigen qualitativen Interviews zugrunde. Der Leitfaden des Interviews beschränkt sich streng auf Fragen zur Aneignung des negativen Eigentums, der Einschätzung von Verantwortung und Schuld.

Lerke Gravenhorst unterscheidet zwischen einer ersten und einer zweiten Schuld (Giordano). Die erste Schuld bezeichnet – zeitlich gesehen – die Schuld in der Zeit unter Hitler, die zweite Schuld besteht in der Verdrängung oder Verleugnung der ersten Schuld in der Zeit nach 1945. Für die Beschreibung der Rekonstruktion des Bewußtseins der Nachgeborenen verwendet Lerke Gravenhorst ausführliche Zitate der Geschwister. Dieser Anschaulichkeit kann eine verkürzte Inhaltsangabe nicht Rechnung tragen, sie erscheint der Verfasserin der Rezension jedoch notwendig, um die Schlußfolgerungen der Autorin nachvollziehen zu können.

Kurz gefaßte Ergebnisse der Interviews

Beide Geschwister sind über den Nationalsozialismus mit seiner Menschenverachtung und Menschenvernichtung erschüttert und empört. Der Nationalsozialismus als Vernichtungssystem ist eine zentrale Begründung ihrer Rekonstruktion. In der Negativaneignung ergeben sich bei den Geschwistern zunächst Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede. Beide Geschwister haben über die NS-Zeit und das Vernichtungssystem nicht im Elternhaus, sondern von außen im Schulunterricht und dann speziell durch Kontakte mit unmittelbar Betroffenen bei Auslandsaufenthalten erfahren.

Die Tochter bezieht diese Informationen auf die eigene Familie, während der Sohn die Geschichte als eine Geschichte der „Deutschen“ interpretiert und sich in der Schulzeit nicht weiter mit dem Vater auseinandersetzt, aus Furcht, sich damit aus dem System der Familie noch stärker entfernen zu müssen. Er war in dieser Zeit im Internat. Er berichtet, er habe zuhause „nicht gut getan“, im Internat aber richtig zu leben begonnen. Bereits mit 20 Jahren habe er geheiratet, trotz Kritik und Widerstand der Eltern. In dieser Auseinandersetzung – so sein Bericht – habe ihn seine starke junge Frau gleichsam gezwungen, sich mit seinen Eltern und deren Verhältnis zum NS-Staat auseinanderzusetzen. Die Schwester hingegen suchte früh durch Beschäftigung mit der Literatur, in Verbindung mit bangen Fragen an Vater und Mutter, sich ein Bild zu machen über deren schuldhafte Beteiligung.

Bezüglich der ersten Schuld entlastet der Sohn den Vater; er hält diesen für „ein kleines Licht“. Die Tochter ist eigentlich von der Schuld des Vaters überzeugt, aber sehr ambivalent in der wirklichen Beurteilung. Einerseits erkennt sie eine Verantwortung in der Beraterfunktion, andererseits entlastet sie den Vater positiv als getreuen Gefolgsmann. Sie berichtet von ihrer emotionalen Verbundenheit, die sie in Loyalitätskonflikte bringt. Vorherrschend ist ein Gefühl der Scham, mit dem sie zugleich den Vater schützt. Es fällt ihr sehr schwer, im Bekanntenkreis dazu zu stehen, daß sie einen „solchen Vater“ hat. Die Position und Verantwortung der Mutter wird von den Geschwistern unterschiedlich gesehen. Der Bruder spricht in bezug auf die erste Schuld von den Eltern als Einheit, die Schwester differenziert. Einerseits entlastet sie die Mutter, sie habe nichts begriffen –, andrerseits sieht sie die Mutter als Mittäterin, weil sie den Vater kritiklos unterstützte. Während die Tochter den Vorwurf gegenüber Vater und Mutter zum Ausdruck bringt, ist das Urteil des Sohnes entlastend – aber auch eindeutig. Ihn macht das Mitläufertum der Eltern eher traurig. In der Art, wie er über die Eltern und deren Verehrung für Hitler spricht, wird, Verachtung deutlich („Hofschranzentum“).

In der Beurteilung der zweiten Schuld – der Auseinandersetzung mit der Verleugnung der eigenen Täterschaft nach 1945 – kehrt sich die Beurteilung der Geschwister um. Der Bruder sieht in der zweiten Schuld die zentrale Schuld der Eltern. Er wirft ihnen vor, daß sie in der Zeit nach 1945 die unerhörte Destruktivität des Systems nicht begriffen (Streit über die Anzahl der Opfer) und diese nicht mit dem eigenen Handeln in der NS-Zeit in Verbindung gebracht hätten. Er ist bitter enttäuscht, daß er bei seinen Eltern nicht den Anflug eines Schuldbekenntnisses, wenigstens hinsichtlich der eigenen Verblendung gesehen oder gehört hat. Besonders kritisiert er bei den Eltern die Nichtteilhabe an dem Leben der Kinder, trotz deren Bemühen um die Erhaltung der Existenz der Familie. Stets hat er sie verteidigend rückwärtsgerichtet erlebt.

Er erinnert sich an eine kleine Rede des Vaters – eine Festansprache –, in der dieser sein Leben bis 1945 als hochinteressant beschrieb, nach 1945 dagegen habe er vegetiert. Er empfand diese Aussage als entwertend für das Leben mit der Familie und hat dies in der größeren Familienöffentlichkeit auch artikuliert. Die Schwester dagegen nimmt Veränderungen bei Vater und Mutter wahr. Der Vater hat Aufzeichnung zu seiner Tätigkeit in der NS-Zeit formuliert. Die Tochter durfte diese lesen. Sie meint, „Spuren“ von Einsicht entdeckt zu haben, kritisiert aber der Interviewerin gegenüber, daß sie ein „mea culpa“ vermißte. Die Mutter fungierte in dieser Zeit stets als Beschützerin des Vaters, sie warb bei den Kindern um Verständnis und fügte den Sachberichten Informationen über die Personen um Hitler in ihren Beziehungen zu ihm hinzu.

Die Schuld an der „Endlösung der Judenfrage“ schiebt sie den Mitstreitern Hitlers zu und bezweifelt, ob Hitler wirklich alles befohlen und gewußt habe. Im Gegensatz zum Bruder blieb die Schwester im Gespräch mit dem Vater über dessen Aufzeichnungen. Immer wieder kam sie an die Grenzen ihres Verständnisses, sie vermied aber die Konfrontation um des Friedens und der Beziehung willen. Sie übernimmt dem Vater gegenüber die Rolle, die sie an der Mutter so kritisiert, und versucht in ihrer Liebe zu ihm, ihn zu verstehen im Sinne einer Entschuldigung. Die Position, die sie sich inzwischen in ihrem Studium der Geschichte erarbeitet hat, vermag sie jedoch ihm gegenüber nicht zu vertreten.

Mit der Mutter steht die Verständigung noch aus – die Tochter sieht Spuren der Veränderung bei ihr nach dem Tod des Vaters. Für den Bruder brachte das Sich-nicht-verständigen-können eine Vertiefung der Distanz zu dem Elternhaus, die er bedauert, die ihn aber befreite, sein eigenes Leben zu führen. Er verurteilt scharf die Haltung des Vaters, der nicht nur das Leben in der Familie, sondern auch die Politik der demokratischen Organe der Bundesrepublik entwertete, die für den Sohn die Garanten seiner Zukunft ohne Faschismus sind. An der Mutter kritisiert er deren Schwäche, sie habe nie eine eigene Position erworben. Wenn er jetzt meint, sie mit Konfrontationen schonen zu müssen, dann schwingt darin eher eine Spur der Verachtung – „hat jetzt keinen Wert mehr“ – als der Rücksichtnahme gegenüber einer alternden Frau mit.

Im Anschluß an diese Darstellung faßt Lerke Gravenhorst noch einmal die entscheidenden Zitate des Bruder und der Schwester zusammen und weist schlüssig die unterschiedlichen Rekonstruktionen als gebunden an das Geschlecht und dessen unterschiedlichen Status als Geschichtssubjekt nach. Im theoretischen Bezugsrahmen wie in der Befragung und deren Interpretation führt Lerke Gravenhorst den Nachweis, daß auch in der nachgeborenen Generation die Männerdominanz ungebrochen ist.

Die Weiterentwicklung einer Geschlechtertheorie zum Bewußtsein von NS-Vergangenheit

Für die Aneignung der Vergangenheit ergeben sich für Bruder und Schwester unterschiedliche Zugänge und Positionen, die – so Lerke Gravenhorst – Schlußfolgerungen erlauben. Könnten diese gesehen und auch von der Gruppe der Männer als unterschiedlich gewürdigt werden, dann könnte sich zwischen der Gruppe der Frauen und der Gruppe der Männer eine fruchtbare Diskussion über die je spezifische Schuld und Verantwortung entwickeln. Sie könnte positiv die Aneignung des negativen Eigentums des Nationalsozialismus befördern.

Kritische Würdigung

Moral und Geschlecht ist die Buchveröffentlichung einer Habilitationsschrift. Die letzte stellt hohe Ansprüche an die Klärung der Begrifflichkeit, an die Fähigkeit zur Abgrenzung der eigenen Begrifflichkeit von solchen anderer Fachkollegen, an die Tiefe und Weite der Diskussion, Einbeziehung aller einschlägigen unterstützenden und widersprechenden Positionen. Das erfordert eine kundige wie auch interessierte und geduldige Leserin. Obwohl nicht in allen Teilen kundig, habe ich das Buch mit großem Interesse immer wieder in die Hand genommen. Ich fand bislang noch keinen Ansatz, der in der Stringenz, Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit den Diskurs durchgehalten hat, das NS-System als männerdominierend zu behaupten, ohne die Frauen aus ihrer moralischen Verantwortung zu entlassen.

Lerke Gravenhorsts vorsichtige und kritische Parteilichkeit ist wohltuend. Kritische Einwände habe ich gegenüber der „ungebrochenen Männerdominanz“ für die Nachkriegszeit. Ich beurteile diese im Vergleich zur Gesellschaft im NS-Staat zumindest für „angebrochen“. Kritisch sehe ich auch die eher polarisierende geschlechtergebundene Unterscheidung von Subjekt der Geschichte und Nicht-Subjekt der Geschichte. Für das Geschwisterpaar ist der Nachweis gelungen. Für Lerke Gravenhorst würde ich die Zuweisung verneinen. Sie beweist ja gerade mit ihrer hochdifferenzierten, klar entschiedenen Position und Darstellung – Moral-Faschismus-Geschichte-Feminismus –, daß sie sich als denkendes, handelndes Subjekt der Geschichte versteht!

Leugnen wir nicht einen Teil der Entwicklung, die durch die Frauenbewegung angeregt wurde, daß Frauen sich mehr und mehr als Handelnde verstehen, ein anderes Selbstbewußtsein entwickeln und ihre Sicht, wo es denn eine andere ist, einbringen? Gerade das Konzept des eigenen Lebens in Verbindung mit anderen Frauen, aber auch in der Differenzierung von bislang gelebten Entwürfen von Frauen ist, wie ich meine, ein Thema junger Frauen – wenn auch nicht der Gruppe der Frauen insgesamt. Die Unterschiede der Geschwister in bezug auf die Beurteilung der NS-Vergangenheit sind frappierend, sie scheinen auch alle neueren sozialpsychologischen und psychoanalytischen Untersuchungen zu bestätigen.

Da ich sozialwissenschaftlich orientiert, aber immer noch Psychologin bin, fehlt mir der Hinweis auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität als Teilaspekt der Identität. Heterosexuelle Attraktivität wird in der Deutung der Beziehung von Tochter und Vater wie auch in der Beziehung von Sohn und Mutter nicht herangezogen (wurde allerdings auch in der schon so komplexen Fragestellung nicht zusätzlich einbezogen). Eine nachträgliche Deutung ist daher in der Kritik nicht sinnvoll. Dieser Fragestellung möchte ich selbst, angeregt durch diese Untersuchung, weiter nachgehen. In der moralischen Anforderung der „Aneignung“ der negativen Produktivität der NS-Vergangenheit als negatives Eigentum ist Lerke Gravenhorst unerbittlich. Sie ist es zurecht.

Moralisch gesehen muß die NS-Geschichte vom Holocaust rückwärts entwickelt werden. Wichtig für die Ermöglichung der Aneignung erscheint mir der Zusammenhang, daß diejenigen, die die Vernichtung von „Nicht-Ariern“ forderten und betrieben, im Bewußtsein des Kampfes für ihre eigene „Rasse“ handelten, für die sie die Weltherrschaft forderten. Einen Teil dieser Herrschaft und Verfügungsgewalt erlebten sie schon in der Gefolgschaft und Praxis der Vernichtung als Erfolg. Lerke Gravenhorst setzt diesen Zusammenhang voraus. Für die Nachgeborenen sollte er immer wieder verdeutlicht werden.

Lerke Gravenhorst wird auch mit diesem Buch kontroverse Diskussionen auslösen, sie stehen uns an.

URN urn:nbn:de:0114-qn012104

Dr. Marianne Hege

München

E-Mail: Mhege@t-online.de

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