Profane Sakralisierung

Rezension von Karin Hartewig

Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Susanne Lanwerd (Hg.):

Die Sprache des Gedenkens.

Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945–1995.

Berlin: Edition Hentrich 1999.

328 Seiten, ISBN 3–89468–257–4, DM 39,80

Abstract: Was heißt „Sprache des Gedenkens“, wenn das Objekt des Gedenkens ein ehemaliges Konzentrationslager für Frauen ist, das sich auf dem Territorium der früheren DDR befindet? Die Beiträge dieses Buches machen die Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück nach 1945 als Teil des kollektiven Gedächtnisses der DDR zum Thema.

Narration, Ritual und ikonologische Form

Drei „Medien“ vermitteln das kulturelle und politische Gedächtnis einer jeden Gesellschaft, ob in einer Demokatie oder einer Diktatur: die Narration, das Ritual und die Ikonologie. Die Narration stellt das hervorragende Medium dar, umfaßt sie doch alle Arten der Versprachlichung, von der Historiographie über die literarische oder biographische Erzählung bis zu den öffentlichen Reden und politischen Losungen. Das Ritual meint die Dramaturgie öffentlicher Veranstaltungen an Gedenk- und Feiertagen. Die ikonologische Form schließlich umfaßt die Gestaltung und „Besetzung“ des öffentlichen Raumes durch Denkmäler und Mahnmale, aber auch die visuelle Ausstattung einer Gesellschaft, die Bebilderung ihrer Vergangenheit.

Das Projekt Detlef Hoffmanns, „Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler, 1945–1995“ und darin vor allem die Pionierarbeit Volkhard Knigges zur Gedenkstätte Buchenwald haben eindrücklich gezeigt, daß in der DDR wie auch in der alten Bundesrepublik das Konzentrationslager als authentischer Ort und als Ort der Mahnung und des Gedenkens die Formen des kollektiven Gedächtnisses der Nachfolgegesellschaften geradezu bündelt: hier treffen die Narration, das Ritual und die ikonologische Form zusammen.

Einem solchen integrierten Ansatz ist auch das vorliegende Buch verpflichtet. Es entstand als Begleitband der Ausstellung zum 40. Jahrestag der Eröffnung der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück“ am 12. September 1959. Die Beiträge gehen den unterschiedlichen „Sprachen“ des Gedenkens nach. Sie untersuchen zunächst die sprachlichen Äußerungen selbst, also die Reden, Appelle und Gelöbnisse, sodann die öffentlichen Gesten und die symbolische Politik und schließlich die in Umlauf gebrachten Bilder vom Konzentrationslager, die künstlerischen Programme der Skulpturen und das ideologische Programm der Gedenkstätte. Dabei geraten stets auch die Auslassungen in den Blick. Die Gleichgültigkeit der Nachkriegsjahre ließ die größten Teile des Lagers verwahrlosen: das Krematorium, die mit menschlicher Asche gefüllten Gruben oder den Schwedtsee, den die SS als Massengrab nutzte. Andererseits sind in der vorinstitutionellen Phase zahlreiche provisorische Formen des Totengedenkens zu verzeichnen, die auf Initiative der Überlebenden und mit Billigung der sowjetischen Militäradministration zustande kamen. Schließlich fand ein politisierter Totenkult, der dem bestimmenden Paradigma des DDR-offiziellen Antifaschismus folgte, 1959 seine Kanonisierung in der Errichtung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Bereits zehn Jahre früher mißlang der Versuch, auch den „unbekannten KZ-Häftling“ zu ehren. Zwar wurde am Gedenktag „Opfer des Faschismus“ im September 1949 die Asche einer unbekannten Toten auf dem Lagergelände in der Erde versenkt. Aber schon ein Jahr später war die Stelle der Urnenbeisetzung nicht mehr gekennzeichnet und wurde vergessen.

Politisierter Totenkult

Zwischen den männlichen und weiblichen Heroen des antifaschistischen Widerstandskampfes blieb bald immer weniger Raum für die namenlosen, unpolitischen Opfer. Anders gesagt: Die DDR pflegte in Ravensbrück wie in den anderen Gedenkstätten auch eine Gedenkkultur der Erhabenheit und des moralischen Sieges und nicht eine der Trauer. Das Konzept der Nationalisierung beförderte zudem den Ausschluß einer Vielzahl von Häftlingsgruppen aus dem öffentlichen Gedenken. Jüdinnen – zumal staatenlose, „Zeugen Jehovas“ und diejenigen, die als „Asoziale“, „Kriminelle“ oder Homosexuelle verfolgt worden waren, wurden lange dem Vergessen anheim gegeben. Im Mittelpunkt des Gedenkens stand der „politische“ Häftling, der den roten Winkel trug und dessen nationale Identität feststand. Doch das Aufrufen der Nationen, denen die Häftlinge angehört hatten, gehorchte eher den politischen Interessen der jungen DDR, anstatt sich von einem Bestreben nach Wahrhaftigkeit und Vollständigkeit leiten zu lassen. Die Indienstnahme des auratischen Ortes als Kulisse für „Ehrenappelle“ der FDJ sowie für Gelöbnisse und Vereidigungen der NVA und der Betriebskampfgruppen trug ferner in der Praxis zu einer Militarisierung des Gedenkens und zu einer weiteren Fixierung auf den kommunistischen Widerstand als Nukleus des „besseren Deutschlands“ DDR bei. Eine schrittweise Differenzierung der Opfergruppen erfolgte in den offiziellen Gedenkveranstaltungen erst in den 1980er Jahren.

Der „Weg des Erlebnisses“

Die Anlage der Gedenkstätte, mit der das „Architekturkollektiv Buchenwald“ 1954 betraut worden war, wollte den Besuchern das ehemalige Konzentrationslager als Ort des politischen Widerstands und der Hoffnung präsentieren. Die Gestaltung folgte den Prinzipien der Nobilitierung der Landschaft und einer – freilich gebremsten – Monumentalisierung des schmalen zugänglichen Geländes, das sich größtenteils außerhalb des eigentlichen Lagers befand. Das Lagergelände selbst wurde von sowjetischen Truppen genutzt. Das Architekturkollektiv setzte auf die eigentümliche Spannung zwischen Überresten des Lagers (Zellenbau, Krematorium, Reihengrab) und der offenen Weite der Natur (Erlenhain und Schwedtsee), in die das Grauen, aber auch das Moment der Freiheit eingeschrieben war. Gestaltet wurde, ähnlich wie für Buchenwald, ein „Weg des Erlebnisses“, der die Besucher von der Sphäre des Verbrechens und des Todes über den Ehrenhof als „Raum der Trauer und des Gedenkens“ zum Feierplatz für 15.000 Menschen geleitet und sie schließlich zum See führt, wo die Besucher schließlich selbst den Eindruck der „Befreiung“ empfangen sollten.

Im Gegensatz zu den Plastiken, die für Buchenwald oder Sachsenhausen gestaltet wurden, blieb das „skulpturale Gedenken“ im ehemaligen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück ambivalenter. Sowohl Will Lammerts Skulptur, „die Tragende“ (1959), die von Anfang an auch als Pietà bezeichnet wurde, wie auch Fritz Cremers Figurengruppe von Frauen und Kindern, die „Müttergruppe“ (1965), entzogen sich einer eindeutigen Lesart, die geradewegs auf den Topos vom politischen Widerstandskampf hinauslief. Die Plastiken gestalteten viel eher die Motive der Solidarität, der Klage und der christlichen „Caritas“. Selbst die weibliche Figur, die in Cremers Plastik gemeinhin als vorwärtsgewandte Kämpferin und somit als Gründungsfigur der DDR betrachtet wurde, hält mit der linken Hand die Totenbahre eines Kindes, während sie mit dem rechten Arm ein zweites Kind schützt, das sich an sie klammert.

Olga, die unsterbliche Heldin

Das vielleicht prominenteste Ravensbrücker Beispiel für die entrückte Legende einer „roten“ Heiligen ist die Geschichte der Kommunistin Olga Benario-Prestes. Ihre jüdische Herkunft wurde in der Publizistik der DDR stets verschwiegen, von Stefan Hermlin 1951 ebenso wie von Ruth Werner (d.i. Ursula Kuczynski) 1961, die – beide waren selbst Kommunisten jüdischer Herkunft – ihr eine literarische Biographie widmeten. Olga Benario, Tochter aus bürgerlichem Hause in München, Berufsrevolutionärin, wurde nach der mißlungenen Revolte gegen die Diktatur in Brasilien 1935 nach Deutschland ausgeliefert, gelangte nach Gefängnis und KZ Lichtenburg im Frühjahr 1939 in das KZ Ravensbrück, wurde Blockälteste im „Judenblock“, ging dort mehrmals in den Bunker und wurde schließlich 1942 zur Vergasung nach Bernburg deportiert. Ihr selbstloses Verhalten, ihr Engagement für die jüdischen Häftlinge in Ravensbrück und ihr stolzer Gang in die Selektion lieferten den Stoff zur Geschichte einer politischen Märtyrerin. Vermutlich gestaltete Lammert in seiner Skulptur der „Tragenden“ den dramatischen Rettungsversuch eines Häftlings durch Olga Benario im Lager.

Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes haben eine Fülle von Details zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück zusammengetragen. Sie können zeigen, daß sich die Formen des Gedenkens zwar die längste Zeit über im Spannungsfeld zwischen SED-treuer Geschichtspolitik und antifaschistischer Erinnerungskultur bewegten, aber keineswegs ohne anschlußfähige Traditionen und Kontinuitäten waren. Darüber hinaus wird überdeutlich, daß jenseits des hegemonialen Deutungsanspruchs der SED um die Gestaltung der Gedenkstätte und um die ästhetischen Lesarten der Skulpturen lebhaft gestritten wurde. Hinter den Kulissen der gelenkten Öffentlichkeit artikulierten sich viele Stimmen. Die allermeisten waren beglaubigt durch persönliche Erfahrung.

URN urn:nbn:de:0114-qn012084

Dr. Karin Hartewig

E-Mail: khartewig@aol.com.

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