Weibliche Perversion und die Verleugnung des Phallus

Rezension von Monika Gsell

Estela V. Welldon:

Perversionen der Frau.

Mit einem Vorwort von Sophinette Becker.

Gießen: Psychosozial-Verlag 2003.

239 Seiten, ISBN 3–89806–164–7, € 29,90

Abstract: Genauso wie Aggression und Gewalt bis heute fast ausschließlich als spezifisch männliches Phänomen behandelt werden, wurde im klinischen Kontext auch die sexuelle Perversion lange Zeit als Pathologie verstanden, von der ausschließlich Männer betroffen sind. Welldons Studie öffnet uns den Blick für die spezifisch weiblichen Formen von Perversion. Der augenfälligste Unterschied zwischen der weiblichen und der männlichen Perversion liegt in der Richtung des aggressiven Impulses: Während der Mann die Aggression nach außen wendet, wendet die Frau sie gegen den eigenen Körper – und dessen Produkte, die Kinder. Konkret: Frauen hungern sich zu Tode, fügen sich selbst Verletzungen zu oder suchen sich dazu gewalttätige Partner, lassen sich schwängern, um den Fötus (als Teil ihrer selbst) abzutreiben, oder behandeln ihre geborenen Kinder genau so wie ihren Körper: als leblosen, entmenschlichten Gegenstand. Weshalb das so ist, vermag uns Welldon leider nicht überzeugend zu erklären.

Die Bedeutung der Körpererfahrung

Estela V. Welldons Buch Perversionen der Frau ist nicht neu: bereits 1988 unter dem Titel Mother, Madonna, Whore und 1992 auf deutsch erschienen, handelt es sich aber – so Sophinette Becker in ihrem Vorwort zur Neuauflage – immer noch um die bis heute einzige umfassende Studie zum Thema. Bedauerlicherweise sei es kaum zur Kenntnis genommen worden, was wohl, so Becker, auf den irreführenden Titel zurückzuführen sei. Deshalb sei das Buch jetzt unter angemessenerem Titel neu aufgelegt worden. Allerdings könnte die fehlende Rezeption auch damit zu tun gehabt haben, dass das, was – Becker zufolge – Welldons Buch auszeichnet, in den konstruktivistischen 90er Jahren hoffnungslos démodé war: das Ernstnehmen der subjektiven körperlichen Erfahrung. Die Chance, dass dieser Ansatz heute mehr Gehör findet, scheint in Anbetracht der Sackgasse, in der die Gender-Debatte heute steckt, tatsächlich real. Denn, so Becker in ihrem Vorwort: „Das Ernstnehmen der subjektiven körperlichen Erfahrungen impliziert weder eine Rückkehr zur ‚Anatomie als Schicksal‘ noch eine Idealisierung ‚primärer‘ Weiblichkeit. Es geht vielmehr darum, dass Geschlecht zwar immer auch, aber nie ausschließlich symbolisch konstruiert ist: Es spielt eine Rolle, ob sich unser Begehren und unsere Phantasie in einem weiblichen oder männlichen Körper entwickeln.“ Mit anderen Worten: Welldons Studie zur weiblichen Perversion scheint uns endlich den missing link zwischen sex und gender, zwischen Biologismus und Konstruktivismus zur Verfügung zu stellen: die Phantasie, und damit das Unbewusste, als der Ort, an dem das Erleben von körperlichen Differenzen in Bilder gefasst und mit Bedeutung versehen wird.

Rein biologistische Argumentation

Um es gleich vorwegzunehmen: Becker weckt in ihrem Vorwort Erwartungen, die das Buch in keiner Weise einzulösen vermag. Zwar stimmt es, dass Welldon behauptet, sowohl die gesellschaftliche als auch die psychische und die physische Dimension zur Erklärung des Unterschiedes zwischen männlicher und weiblicher Sexualität bzw. deren Störungen heranzuziehen. Es bleibt aber bei der Behauptung, denn die Argumentation ist, genau betrachtet, krude biologistisch: Die weibliche Sexualität, so die nicht weiter begründete (weil auch nicht begründbare) Quintessenz, sei halt viel enger mit der Reproduktionsfunktion verbunden als die männliche. Die Fähigkeit der Frau, Kinder zu bekommen, sei dementsprechend entscheidend für das Verständnis der weiblichen Perversion. Einmal abgesehen davon, dass ganz und gar rätselhaft bleibt, wie mit solchen Annahmen und Behauptungen der Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Perversion erklärt werden soll, ist vor allem eines rätselhaft: Wie kommt es, dass zwei gescheite und therapeutisch erfahrene Sexualwissenschaftlerinnen wie Welldon und Becker vollständig übersehen, dass das, was sie zu tun behaupten (nämlich: nicht biologistisch zu argumentieren), meilenweit von dem entfernt ist, was sie tatsächlich tun ?

Ist das Phallus-Konzept für die weibliche Phantasie irrelevant?

Es gibt dafür meines Erachtens nur eine Erklärung. Welldon – und mit ihr Becker – werfen just dasjenige theoretische Instrument über Bord, das für eine genuin psychoanalytische Begründung von Geschlechterdifferenz unverzichtbar ist: das Konzept des Phallus. Zwar erkennen sie die konstitutive Bedeutung der Phantasie vom mütterlichen Phallus für die männliche Psyche und damit auch für die Entstehung der männlichen Perversion an. Weshalb aber, so Welldon, sollte der mütterliche Phallus für die Phantasie des Mädchens eine Rolle spielen? Konstitutiv für die Organisation von Weiblichkeit sei die Identifizierung mit der Mutter, mitsamt dem Wunsch nach einem Kind als etwas selbst Hervorgebrachtem. (Hier haben wir wiederum die Vermischung von Sexualität und Reproduktion – als ob für die weibliche Identität nur letzteres wichtig wäre). Demzufolge kann sie auch der Idee von der „phallischen Besetzung des eigenen Körpers“ in der weiblichen Psyche nichts abgewinnen: „Warum aber sollte der weibliche Körper in der Phantasie zu einem Phallus werden – warum sollte er nicht statt dessen wichtige, komplexe und allein der Frau eigene, physische, physiologische und symbolische Eigenschaften aufweisen?“ (S. 44)

Die weibliche Phantasie wird unterschätzt

Wir sehen hier, weshalb Welldon das Konzept des Phallus über Bord wirft: weil sie nicht bereit ist, die entscheidende Differenz zwischen dem Phallus als einem phantasmatischen Organ und dem Penis als dem realen, männlichen Genitale zu akzeptieren. Und wir sehen auch, dass sie damit unweigerlich auf einer konkretistisch-biologischen Ebene landet – und die Kraft der weiblichen Phantasie in geradezu sträflicher Weise unterschätzt. Denn während sie der männlichen Psyche zugesteht, die im Kontext der Geschlechterdifferenz entstehenden Ängste und Konflikte durch die Bildung eines phantasmatischen Organs zu bewältigen, soll sich die Frau gefälligst auf die Vorstellung dessen beschränken, was an und in ihrem Körper tatsächlich vorhanden ist. Dass sich die weibliche Phantasie nicht an diese Selbstbegrenzung hält, dafür sind Welldons Fallbeschreibungen weiblicher Perversionen der beste Gegenbeleg. In diesen Fallbeschreibungen liegt denn auch die starke Seite von Welldons Studie. Aber man braucht das Buch deswegen nicht zur Hand zu nehmen: Denn Beckers Vorwort ist zugleich in einer ausführlicheren Version als Aufsatz in der Zeitschrift für Sexualforschung 2002 nachzulesen. Er bietet eine gute Zusammenfassung von Welldon und ist noch um zahlreiche interessante Literaturhinweise bereichert und aktualisiert worden.

URN urn:nbn:de:0114-qn043119

Dr. phil. Monika Gsell

Zürich, Psychoanalytikerin in eigener Praxis und zur Zeit mit einem vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekt im Bereich der Gender Studies beauftragt

E-Mail: monika.gsell@access.unizh.ch

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