Bestandsaufnahme zur Tanzforschung in Deutschland

Rezension von Andrea Schüler

Gabriele Klein, Christa Zipprich (Hg.):

tanz theorie text.

Jahrbuch Tanzforschung, Bd. 12.

Münster: LIT 2002.

634 Seiten, ISBN 3–8258–5901–0, € 40,90

Abstract: Das neueste Jahrbuch der „Gesellschaft für Tanzforschung“ will einen repräsentativen Querschnitt durch die aktuellen Themen und Methoden des interdisziplinären Feldes der Tanzforschung präsentieren mit dem Ziel, die akademische Institutionalisierung einer Tanzwissenschaft in Deutschland voranzutreiben. Feministische- und Gender-Studien sind in der Tanzforschung noch spärlich vertreten. Das spiegelt sich auch in den Beiträgen des vorliegenden Tagungsbandes wider. Vereinzelte Beispiele für die Rezeption der Gender Studies finden sich hier in den Bereichen populäre Kultur ebenso wie in sozialwissenschaftlichen Körpertheorien oder in Studien zum Bühnentanz.

Der lange Marsch in die Universitäten

„Wissen schaffen über Tanz“ war der Titel eines ambitionierten Kongresses, der im Herbst 2001 rund 70 Referent/-innen in der Berliner Akademie der Künste versammelte, um über Tanz- und Bewegung zu reflektieren. Ein repräsentativer Querschnitt durch die aktuellen Themen und Methoden des interdisziplinären Phänomens Tanzforschung sollte präsentiert werden mit dem Ziel, die akademische Institutionalisierung einer Tanzwissenschaft in Deutschland voranzutreiben. Im Unterschied zu den angloamerikanischen Universitäten ist in Deutschland die Tanzforschung noch marginal und wird von einzelnen Wissenschaftler/-innen in den etablierten sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen sowie in außeruniversitären Zusammenhängen wie der „Gesellschaft für Tanzforschung“ getragen.

Letztere hat nun 39 Beiträge des Kongresses in ihrem neuesten Jahrbuch für Tanzforschung veröffentlicht. Das Spektrum der Beiträge reicht von historischen Untersuchungen über Tanz und Gender, Tanz und Musik, Kult und Ritual, Tanz und Bildende Kunst, Schreiben über Tanz, Therapie, Pädagogik, Erkenntnistheorie, Tanz und Literatur bis zum virtuellen Tanz im Internet.

Bei aller theoretischen und methodischen Vielfalt der versammelten Texte ist die Hegemonie kulturwissenschaftlicher und poststrukturalistischer Ansätze unübersehbar. Angesichts dieser Tatsache erstaunt es umso mehr, dass Geschlechterverhältnisse oder Geschlechterdarstellungen im Tanz in den meisten Beiträgen nicht thematisiert werden. Andererseits spiegelt das auch die aktuelle Forschungslage wider. Die Literatur ist hier noch sehr überschaubar. Nach einigen feministisch inspirierten Dissertationen über Frauen im Tanz (Gabriele Klein, Anke Abraham u. a.) wurden die Gender Studies durch Janine Schulzes Betrachtung des modernen Bühnentanzes für die Tanzanalyse nutzbar gemacht. In Frankreich sind einschlägige Publikationen noch spärlicher: Hélène Marquiés innovative tanz- und kunstwissenschaftliche Dissertation über moderne Choreographinnen ist noch eine Ausnahmeerscheinung in der französischen Tanzforschung. Nicht nur in der Institutionalisierung der Tanzwissenschaft, sondern auch in der Frauen- und Genderforschung sind angloamerikanischen Dance Studies deutlich weiter entwickelt.

Queer Tango und verbotene Blicke

Aus der Perspektive der Gender Studies beschreibt Anette Hartmann die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten in Lyrik und Tanz des argentinischen Tango. Gesellschaftstanz ist ein Ort zur Einübung in und Inszenierung der jeweils herrschenden Geschlechternormen. Und Paartanz ist bewegungstechnisch patriarchal konstruiert: der Mann bestimmt die Choreographie, die Frau präsentiert sich im Rahmen seiner Vorgaben. Tangolieder beschreiben heterosexuelle erotische Beziehungen aus der Sicht des Mannes. Die Frau fungiert in diesen Texten lediglich als Objekt, als Projektionsfläche männlicher Wünsche und Ängste. Auch das Bewegungsvokabular ist dezidiert geschlechtsspezifisch ausgerichtet: Scharfe, starke Bewegungen des Mannes kontrastieren mit weichen, fließenden, kleinräumigen Bewegungen der Frau. Hartmann stellt eine Tanzkompanie vor, die – ausschließlich aus Tänzerinnen bestehend – die binäre heterosexuelle Opposisition des traditionellen Tango subvertiert: „Tango mujer“ bricht die Rollenverteilung von Führen und Folgen auf: Das Macho-Modell wird inszeniert und sogleich dekonstruiert. Kleidung, Führungsrolle und Schrittvokabular sind nicht mehr einer Geschlechterrolle zugeordnet, der Dualismus wird aufgelost. Die Tänzerinnen spielen mit den binären Rollen, dennoch bleiben sie als Bezugspunkt erhalten. Anders als z. B. die Contact Improvisation schafft dieser „queer Tango“ die Geschlechterstereotypen nicht ab.

Thomas Simonis lotet in seinem Beitrag die Ambivalenzen der Männlichkeitsinszenierungen im populären Tanzfilm aus. Der tanzende Mann darf keinesfalls – wie die Tänzerin – als passives erotisches Objekt inszeniert werden, da dies seine Verweiblichung bedeuten würde. Die richtige Performance der Geschlechtsidentität ist wesentliches Mittel der männlichen Konkurrenz um Macht. Ein Tänzer, der sich als passives Lust-Objekt den begehrenden Blicken anbietet, verstößt damit gegen die Spielregeln der Männergemeinschaft. Der Ausweg sei, meint Simonis, die Identifikation des Zuschauers im Kino mit dem männlichen Protagonisten als „aktivem Helden“. Der männliche Star ist dann nicht erotisches Objekt des Zuschauerblickes, sondern das Idealbild des perfekteren Ich. Bleibt zu fragen, ob solch identifikatorisches Begehren nicht dennoch erotisch ist. Der Trick scheint zu funktionieren. Simonis vermutet, dass Fred Astaire im Hollywood-Musical einer Feminisierung entgeht, weil er den Blick der Zuschauer kontrolliert, also eben nicht zum passiven Objekt wird. Der Zuschauer sieht in Astaire einen dynamischen, raumfüllenden, dominierenden Akteur. Die Tänzer Toni Manero in Saturday Night Fever und Johnny Castle in Dirty Dancing repräsentieren in ihrem betonten Macho-Gehabe das Bild proletarischer Männlichkeit. Die Tanzpartnerin ist für Simonis in diesen Filmen Mittel zur männlichen Selbstdarstellung und erotisches Objekt. Dennoch wandelt der (Film-)Tänzer auf schmalem Grat, ständig in Gefahr, „in die Nähe des Weiblichen, des angesehenen Geschlechts“ (S. 284) zu geraten.

Phantasmatische Körper und Gender Trouble im Schwanensee

Die Rezeption der poststrukturalistischen Theoretiker/-innen in den sozialwissenschaftlichen Körpertheorien betrachtet die Psychologin und Tanztherapeutin Birgit Müller als Chance, neue Möglichkeitsräume für die Subjektbildung angemessen zu beschreiben. Körper erscheint aus dieser Perspektive nicht als vordiskursive Materialität oder als inszeniertes Bild, sondern als labile Konstruktion in ständiger Veränderung. Semiotischen, phänomenologischen oder entfremdungstheoretischen Konzepten stellt Müller ihre Auffassung von Körper als Bewegung gegenüber. Körperpraxen und Identitäten fasst sie auf dem Hintergrund von Butlers Performativitätsmodell als psychische und unabschließbare Prozesse zur Konstitiuierung und Darstellung von Subjektpositionen auf. Vergegenwärtigt man sich die destruktiven und ausgrenzenden Effekte von Körperidealen im Tanz und essentialistischen bis sexistischen Körper- und Geschlechtskonzepten in Tanz- und Körpertherapien, scheint diese Interpretation eine befreiende Perspektive zu bieten: Ergänzt durch Derridas Konzept der différance eröffnet die Perspektive auf Körper als situierte und temporäre Praxis für Müller eine „Offenheit der Möglichkeiten, […] Platz für radikale Andersheit und Singularität, gegenüber dem, was werden kann – somit auch Körper werden kann.“ (S. 364) Neue Freiheiten für die Subjektwerdung? Solche Erwartungen entäuscht Müller sogleich. „Sich in kulturell verlangte Subjektpositionen über Körperinszenierungen zu begeben, ist so kein Akt der Wahlmöglichkeit oder einer flexiblen Identitätssuche, aber auch nicht fixierter symbolischer Positionen.“ (S. 359) Hier fragt sich die Leserin: Was ist mit dieser postmodernisierten Körpertheorie gewonnen für das Verständnis von heutigen Subjektformierungsprozessen? Sie scheint doch beschränkt zu sein auf die Beschreibung der „flexibilisierten“ Möglichkeiten der Unterwerfung unter gesellschaftliche Strukturzwänge, ohne diese selbst noch zu benennen, geschweige denn kritisch-analytisch in den Blick zu nehmen.

Kann man heute noch Ballettklassiker neu interpretieren, oder taugen sie nur noch zur musealen Traditionspflege? Man kann die alten Themen durchaus mit zeitgenössischen Fragestellungen entstauben, wie Adam Miszta am Beispiel neuerer Inszenierungen von Schwanensee zeigt.

Der Genderaspekt ist dabei ein Schwerpunkt der Aktualisierung. Miszta sieht diesen Sachverhalt begründet in der Eigenart des Balletts, eine Körperkunst zu sein. Die Modernisierung erfolgt im Bewegungsrepertoire durch Assimilierung moderner Tanzformen und inhaltlich durch Umwertungen und Neuinterpretation von Handlung und Figurenzeichnung.

So integrierte beispielsweise Mats Ek moderne Tanztechniken in die Choreographie und veränderte die psychologische Charakterisierung der Figuren. Die weiblichen Protagonistinnen Odette und Odile sind wesentlich dynamischer und erdverbundener als in der Urfassung. Sie tanzen barfuss, strumpflos und kahlköpfig – ein Affront gegen die traditionelle Ballettästhetik. Die Schwäne werden von Frauen und von Männern getanzt. Matthew Bourne besetzte in seiner Inszenierung die Schwanfiguren ausschließlich mit Männern. Die Choreographhie verbindet Elemente verschiedener Tanzstile und Techniken, die auch Einflüsse populärer Kultur zeigen. Der Schwan (Odette) ist hier ein attraktiver, kräftiger Mann. Er agiert nicht passiv, sondern dominant in der Beziehung zu Siegfried. „Gender Trouble“ im Schwanensee – das Spiel mit den Geschlechterrollen scheint für heutige Choreograph/-innen besonders inspirierend zu sein.

Interessante Aspekte für genderinteressierte Leser/-innen bieten implizit auch weitere Beiträge über den Arbeitsprozess bei zeitgenössischen Choreographinnen, über Afrikanischen Tanz für Laien, über die Ballette von William Forsythes oder über Leni Riefenstahl und Valeska Gert.

Insgesamt bietet der Band einen informativen Einblick in das heterogene Feld der Tanzforschung in Deutschland und ist – wie auch die gesamte Reihe der Jahrbücher – für einschlägig Interessierte mit Gewinn zu lesen.

URN urn:nbn:de:0114-qn042139

Andrea Schüler

FU Berlin, Interessenschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse, Tanz- und Bewegungsforschung, Körpersoziologie

E-Mail: aschuel@zedat.fu-berlin.de

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