Was waren das für Menschen?

Rezension von Angela Schwarz

Karin Orth:

Die Konzentrationslager-SS.

Soziokulturelle Analysen und biographische Studien.

Göttingen: Wallstein 2000.

335 Seiten, ISBN 3–89244–380–7, DM 58,00/ SFr 55,00/ ÖS 423,00

Abstract: Bislang gibt es wenig Arbeiten, die einen größeren Kreis von Ausführenden des nationalsozialistischen Gewaltregimes soziologisch-biographisch analysierten. Das trifft selbst auf das Personal der Konzentrationslager zu, das allerdings sehr heterogen ist. Eine relativ homogene und konstante Gruppe stellen hingegen die führenden Männer in der Konzentrationslager-SS dar, etwa 320 Personen insgesamt. Angesichts einer überaus schwierigen Quellenlage zeichnet Karin Orth bemerkenswert detailliert und methodisch überzeugend die Werdegänge der führenden Lager-SS nach. Erstaunlich viele Gemeinsamkeiten kommen dabei ans Licht, immer wieder auch das, was man in Abwandlung eines Begriffs von Hannah Arendt die Normalität des Bösen nennen könnte.

Zwischen 1933 und 1945 wurden Millionen von Menschen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern inhaftiert, Millionen dort ermordet. Nach der Reorganisation des KZ-Systems 1936 waren es bis weit in den Krieg hinein vornehmlich SS-Leute, die ihnen als Bewacher, Folterer und Mörder gegenübertraten – Zehntausende von Männern und mehrere Tausend Frauen. Seit mehreren Jahren richtet die historiographische Forschung ihr Augenmerk wieder verstärkt auf die Täter, fragt nach der Herkunft, dem Werdegang, den Motiven derjenigen, die die ihnen ausgelieferten Menschen mit und ohne Anweisung demütigten, quälten, kaltblütig ermordeten. Im vorliegenden Buch geht es um die Frage, die sich bei der Beschäftigung mit den Konzentrationslagern des NS-Regimes zwangsläufig aufdrängt: Was waren das für Menschen, die zu einer solchen Brutalität, einer solchen Abstumpfung gegenüber dem Leiden anderer fähig waren?

Zugang zum Thema und Auswahl der Untersuchungsgruppe

Die Frage nach der Art von Menschen, die im NS-Regime auf der Täterseite standen, ist prinzipiell auf alle anzuwenden, die sich dessen schuldig machten, was heute Verbrechen gegen die Menschlichkeit genannt würde, darunter alle, die das System der Konzentrationslager aufbauten und als Ausführungsorgane funktionsfähig machten. Es liegt jedoch auf der Hand, daß sich die Frage nicht für alle Täter, nicht einmal für das gesamte KZ-Personal beantworten ließe.

Eine solche Mammutstudie würde schon scheitern, wenn es nur darum ginge, die Zehntausende von Personen zu erfassen, die den Wachmannschaften, dem Führungspersonal, dem medizinischen Personal angehörten. Allein im Januar 1945 waren 37.674 Männer und 3.508 Frauen als Angehörige der KZ-Wachmannschaft registriert (S. 54). Von den Schwierigkeiten bei dem Versuch, Material aufzuspüren, das über die Motive der Akteure Auskunft geben würde, ganz zu schweigen. Also sind Eingrenzungen unvermeidlich. Sehr schnell stößt man so auf die Führungsspitzen der Konzentrationslager, die nach der Reorganisation des Lagersystems 1936 durch die Inspektion der Konzentrationslager alle nach dem gleichen Muster strukturiert waren. Sie bestanden aus Lagerkommandanten und Abteilungsleitern, also den Schutzhaftlagerführern, Verwaltungsführern, Leitern der politischen, der medizinischen Abteilung und der Abteilung Arbeitseinsatz.

Erstaunlicherweise hat sich die Forschung bisher nie mit diesen Personen als Gruppe auseinandergesetzt. Einer der Hauptgründe mag darin liegen, daß auch hier das grundsätzliche Problem besteht, eine ausreichend breite Quellenbasis zu ermitteln. Materialien, die Biographien im klassischen Sinne erlauben würden, sind selbst bei dem Kreis der SS-Führer nicht aufzufinden. Welcher SS-Mann reflektierte schon schriftlich über sein Handeln? Was blieb von den wenigen Aufzeichnungen über den Mai 1945 hinaus erhalten? Daher läßt sich nur auf SS-Personalakten, Aussagen in Strafgerichtsverfahren, Informationen aus Ermittlungsverfahren, Aussagen ehemaliger KZ-Häftlinge und vereinzelte private oder veröffentlichte Aussagen der Betreffenden zurückgreifen. Aufgrund dieser Ausgangslage läßt sich nicht eine individuelle Charakterbildung oder ein psychologisches Profil, dafür aber die Struktur und soziale Praxis dieser Gruppe herausarbeiten. Darin liegt die Intention des Buches.

Daß sich die Autorin dazu für eine Verbindung von empirischer Studie (Teil I) und Untersuchung von ausgewählten Biographien (Teil II) entschieden hat, trägt schon sehr viel dazu bei, daß das gesteckte Ziel tatsächlich erreicht wird. Die vorausgeschickte Skizze der Geschichte des KZ-Systems zwischen 1933 und 1945 sowie die Erläuterung der Organisations- und Verwaltungsstrukturen helfen, die nachfolgenden Informationen in den größeren Rahmen der Lagergeschichte einzuordnen.

Sozialstrukturelle Analyse

Für den Teil I, die empirische Analyse, wurden allerdings nicht alle 320 Personen untersucht. Von 288 untersuchte die Autorin die Personalakten. Da die Standortärzte, also die Spitzen der medizinischen Abteilung, meist nur kurze Zeit Dienst in den Konzentrationslagern taten, fielen sie aus der Analyse heraus, die sich auf eine möglichst homogene und konstante Gruppe gründen wollte. Blieb ein noch immer beachtlicher Kreis von 207 Personen.

Im einzelnen werden Werdegang bis zum Eintritt in die SS, Dienstzeiten im Lager, Karriereverläufe und die Sozialstruktur der Untersuchungsgruppe insgesamt aufgearbeitet. Erstaunlich sind die zahlreichen Gemeinsamkeiten, die auf diese Weise hervortreten und die die Unterschiede bei weitem überwiegen. Mehrheitlich gehörten die untersuchten SS-Führer einer Generation an, die den Ersten Weltkrieg nicht an der Front erlebt, sich aber nichts sehnlicher gewünscht hatte, die im rechten oder völkischen Milieu aufgewachsen war mit der Vorstellung von der „Dolchstoßlegende“ und der „Schmach von Versailles“. Sie kamen zum allergrößten Teil aus kleinen mittelständischen Haushalten oder Familien der unteren bis mittleren Angestellten- oder Beamtenschicht. In der Regel verfügten sie über eine Schulausbildung von acht Jahren Volksschule, hatten einen Handwerks- oder Kaufmannsberuf erlernt. In der Kerngruppe der Abteilungsleiter, 139 Personen, hatten 6% ein Studium aufgenommen, wenn auch längst nicht immer abgeschlossen. Für viele brachte die Weltwirtschaftskrise Arbeitslosigkeit und den Sturz in die berufliche und/oder private Krise mit sich, die erst mit dem Erfolg des Nationalsozialismus 1933 beendet wurde. Danach folgte oft der rasche Aufstieg innerhalb des Systems. Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Überlegung auf, ob sich nicht bei einer anderen wirtschaftlichen Entwicklung zumindest ein Teil der Untersuchten trotz der ideologischen Rechtslastigkeit schließlich mit einem demokratischen Regierungs- und Gesellschaftssystem arrangiert hätte, Stabilität der eigenen finanziellen Lage und gesellschaftlichen Position natürlich vorausgesetzt.

Werdegang ausgewählter Personen im historischen Kontext

Im umfangreicheren Teil II werden die Werdegänge von neun Lagerkommandanten nachgezeichnet, die statistischen Daten demnach erweitert und konkretisiert. Aus welchem Umfeld kamen sie? Wie gelangten sie zu NSDAP, SS und schließlich zur Lager-SS? Welche ‚Schulung‘ oder Sozialisation lag der Gewaltausübung zugrunde? Welches Handeln zeichnete sie als SS-Führer in den Lagern aus? Wie verhielten sie sich angesichts des drohenden Zusammenbruchs 1945? Wie beurteilten sie und ihre Familien nach Ende des Krieges ihr Tun? Wurden sie juristisch zur Rechenschaft gezogen? Die Laufbahnen von Richard Baer, Johannes Hassebroek, Paul Werner Hoppe, Rudolf Höß, Josef Kramer, Max Pauly, Hermann Pister, Fritz Suhren und Martin Weiß werden beispielhaft zur Beantwortung dieser Fragen analysiert.

Die vielfältigen Ergebnisse gerade dieses Teiles in wenigen Worten zusammenfassen zu wollen, würde der Komplexität des ermittelten Sachverhalts nicht gerecht. Die Autorin bietet dazu im Verlauf des Buches immer wieder Abschnitte mit Zwischenergebnissen an, auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind: Ergebnisse über die Formierung der Betreffenden in der „Dachauer Schule“, über das sich über die Jahre herausbildende „Netzwerk der Konzentrationslager-SS“, das mit einem eigenen sprachlichen Code den Tötungsakt zur bürokratischen Maßnahme umwandelte, über die Grundlagen oder Gründe der kollektiven Gewaltausübung, wie sie aus der gemeinsamen ‚Ausbildung‘ und Gewaltanwendung resultierte, über das selbstgeschaffene Bild, aufgrund dessen sich die Kommandanten als „anständige“ und gerechte Gefängnisdirektoren oder „Retter des deutschen Volkes“ verstanden, schließlich über die kleinmütigen, mittelmäßigen, ja feigen Versuche nach dem Ende des Regimes, die Schuld zu leugnen und die eigene Haut zu retten.

Ein wesentlicher Faktor zur Erklärung, wie Menschen – von Sadisten abgesehen – zu so extremer Brutalität gegen andere fähig sein können, liegt in einem am Ende der Untersuchung ebenso schlüssig nachgewiesenen wie erschreckend banalen Umstand: Das Demütigen, Ausbeuten, Quälen und Ermorden war für die SS-Führer „normal“, seit den Erfahrungen im KZ Dachau alltäglich, verbindendes und identitätsstiftendes Element der Tätergruppe, die sich als eingeschworene Männergemeinschaft mit fest umrissenen Vorstellungen von Männlichkeit in ihrem strengen Wertekodex verstand, gruppendynamische Notwendigkeit, wollte man vor den anderen nicht als weich – die größte Angst von Rudolf Höß – gelten. Und im täglichen Dienst mußte das „Normale“ von den „Männern der Tat“, wie sie sich selbst sahen, nicht mehr reflektiert, sondern nur noch reproduziert werden.

Karin Orth hat einen wichtigen Beitrag dazu geliefert, die Umstände und Mechanismen aufzudecken, die das Handeln eines Teils der nationalsozialistischen Täter bestimmten. Dazu gehört eben auch der unter Gender-Aspekten wichtige Hintergrund des Männerbundes, der den SS-Führern Identifikationsmuster und Rückhalt zugleich bot. Das führt zu der Frage, ob sich die Frauen der Lager-Wachmannschaften, die hier – leider, aber aus verständlichen Gründen – ausgeklammert werden mußten, als eine ähnlich definierte Tätergemeinschaft verstanden und danach in den Lagern handelten. Da es bislang nur über einzelne Aufseherinnen und, von Gudrun Schwarz vorgelegt, über die Ehefrauen der SS-Männer Untersuchungen vorliegen, kann man nur hoffen, daß bald eine ähnlich solide und bemerkenswerte Studie über die weiblichen Lager-Wachmannschaften zustande kommt.

Die Charakterisierung der Verfasserin läßt keinen Zweifel daran, daß hier von gescheiterten Existenzen, „von mittelmäßigen, vollständig überforderten und verkommenen Gernegroßen“ die Rede ist, „die sich an ihrer Bedeutung delektierten“ (S. 254). Wie kann man so etwas tun? Die Erklärungen sind da, lassen sich für jede untersuchte Person nachvollziehen. Und doch: Letztlich bleibt das Geschehen unfaßbar.

URN urn:nbn:de:0114-qn012058

PD Dr. Angela Schwarz

Universitaet Duisburg

E-Mail: dr.a.schwarz@uni-duisburg.de

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